Um ehrlich zu sein, war es mir verlegen zumute, als ich mich entschloss, dieses Thema der Redaktion nahezulegen. Ich überlegte, ob ich es in der Betreffzeile meiner Mail beim Namen nennen sollte. Denn es steckt etwas Peinliches, Unergründliches, Explosives in dem Wort – egal, wie man sich dazu verhält. Fakt ist: Nur wenige Vokabeln in unserer Sprache besitzen eine ähnliche Zauberwirkung wie diese. Wobei es sich im Grunde um etwas Alltägliches handelt, eine im wörtlichen Sinn allseits bekannte … Handhabung. Die Rede, wie Sie bestimmt schon erraten haben, ist von der Onanie.

 

Nimmt man Schaden? Stirbt man?

Gemäss einer Bonner Studie onanieren regelmässig 90 Prozent aller Männer und 86 Prozent aller Frauen. Noch höher ist diese Zahl laut einer Erhebung des Instituts für Psychologie der Universität Bern im Jahr 2019, wonach 98 Prozent aller Männer und 94 Prozent aller Frauen es tun. Andere Statistiken werden diese Ergebnisse nur bestätigen, und zwar weltweit.

Dennoch ist dieses Phänomen auch heute, sechzig Jahre nach der sexuellen Revolution der 1960er Jahre, immer noch nicht ganz aus dem Schatten gestiegen. Noch immer fragen junge Männer bei «Gute Frage» und anderen Beratungsseiten im Internet, ob man, wenn man es zu häufig betreibe, daran sterben oder sonst zu Schaden kommen könne. Die Antwort der Experten tönt immer ähnlich locker: «Mach dir keinen Kopf. Alles in Ordnung.»

Wirklich? Themen wie Transsexualität, Nonbinarität geschweige denn Feld-Wald-und-Wiesen-Geschlechtsverkehr sind um ein Vielfaches salonfähiger als ein zwangloser Ideenaustausch über jene Handlung, welche der Philosoph Kant einst die «wohllustige Selbstschändung» nannte und die man (und Frau) in die dunkelste Ecke der Privatsphäre verbannt. Einen Mann «Wichser» zu nennen, gehört noch heute zu den heftigsten Beleidigungen in der deutschen Sprache. Als der Komponist Richard Wagner nur indirekt andeutete, sein Bekannter, der Philosoph Friedrich Nietzsche, würde zu dieser Zunft zählen, ging die Freundschaft sogleich zu Bruch.

Trotz sexueller Revolution und unzähligen Aufklärungswebsites für Jugendliche und Erwachsene kursiert noch immer die Vorstellung, dass etwas mit der Selbstbefriedigung nicht in Ordnung ist. 2011 wurde in den USA die – mittlerweile internationale – «NoFap»-Bewegung gegründet. «Fap» ist eine der zahlreichen Vokabeln für «onanieren».

Onanieren? Eigentlich keine passende Bezeichnung für diesen Vorgang. Sie bezieht sich auf eine Stelle im 1. Buch Mose, in dem der Jüngling Onan nach dem Tod seines Bruders seine Schwägerin Tamar schwängern sollte, um durch die «Schwagerehe» den Namen seines toten Bruders vor dem Aussterben zu bewahren – ein sehr verbreitetes Brauchtum in der Antike. «Aber da Onan wusste, dass der Nachwuchs nicht sein eigener sein sollte, liess er seinen Samen auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bruders Frau …» Nein, Onan hat nicht onaniert. Er hat Coitus interruptus praktiziert. Tatsache ist: Es gibt nirgends in der Bibel – weder im Alten noch im Neuen Testament – ein klärendes Wort über diese private Handlung.

 

Schuldgefühle hatten die Griechen keine

Bevorzugt wird in gelehrten Kreisen als Begriff – neben «Onanie» – «Masturbation», eine seltene lateinische Vokabel, die man in einem satirischen Epigramm des römischen Dichters Martial liest, wo der Poet klagt, dass er sich nun, da ihm sein Lustknabe einen Korb ausgeteilt habe, mit den Diensten seiner linken Hand begnügen müsse. Man vermutet hier eine Vokabel aus dem lateinischen Slang.

Fakt ist: Es gibt keinen einzigen Begriff, der diese sexuelle Handlung wertfrei wiedergibt. «Masturbieren» klingt wie Krankheit, «onanieren» und «sich beflecken» wie Verbrechen, «selbstbefriedigen» wie Egoismus, «wichsen», «sich einen runterholen», «jerken», «jaxxen», «fappen» (s. oben) und viele andere mehr einfach derb. Offensichtlich haben wir in unserem aufgeklärten Zeitalter noch immer mit Hemmungen zu kämpfen, wenn es um diesen Bereich der Sexualität geht.

Unsere antiken Vorgänger hätten über unsere Befangenheit nur den Kopf geschüttelt. In Athen im 5. Jahrhundert vor Christus konnte der betuchte Kunde in seiner Lieblingstöpferwerkstatt ohne Scham Trinkgefässe bestellen, die geile Satyrn bei der Selbstbefriedigung zeigten. Wenn die Frauen in den Sexstreik treten, um ihre Männer vom Krieg abzuhalten – so die Handlung der Komödie «Lysistrata» von Aristophanes –, bleibt den Ehemännern nichts anders übrig als diese Selbsthilfe.

Trotz sexueller Revolution kursiert noch immer die Vorstellung, dass etwas damit nicht in Ordnung ist.

Der griechische Arzt Galen postulierte, dass diese Handlung einem rein physiologischen Bedürfnis diene: überschüssigen Samen zu entsorgen. Gäbe es in der Antike Negatives über die Onanie zu berichten, dann nur die Tatsache, dass sie letztlich als Liebesart der zweiten Wahl galt. Einem Mythos zufolge brachte der Gott Hermes seinem Sohn Pan diese Ersatzhandlung bei, nachdem die Nymphe Echo die Liebesbekundungen des Nachwuchses abgewiesen hatte. Später lehrte Pan die Hirten die gleiche Kunstfertigkeit für jene einsamen Zeiten auf der Weide.

Schuldgefühle deswegen hätte jedenfalls keiner damals gehabt. Es wäre keinem Griechen oder Römer in den Sinn gekommen, sich wie der obenerwähnte Fragesteller bei «Gute Frage» Gedanken zu machen, ob man daran sterben könne. Im alten Ägypten schuf der Gott Amon, als allererstes Seiende, das Wunder der Schöpfung, indem er – was sonst? – die Hand aufgelegt hat!

Erst im jüdischen Talmud (ca. 2. bis 5. Jh. n. Chr.) stösst man in den Kommentaren mancher Rabbiner auf Kritisches zum Thema. Begründung der Ablehnung seitens dieser strengen Monotheisten: Die Masturbation sei eine Art Götzendienst, da der Mensch bei dieser Tätigkeit Fantasiegebilde anbete. Wir werden auf diesen Punkt zurückkommen. Den «Schuldigen» drohte jedenfalls in der jüdischen Tradition lediglich eine milde Rüge.

Und jetzt zum Christentum (bei dem man bedenken muss, dass es sich ursprünglich um einen Glauben handelte, der jegliche Sinnlichkeit radikal ablehnte, weil man ohnehin mit dem Weltuntergang und der baldigen Wiederkehr Christi rechnete): Immerhin hat es einige Jahrhunderte gedauert, bis sich die Kirchenväter mit dieser Problematik ernsthaft auseinandersetzten, und dann nämlich im Bezug auf die Klöster, wo die Keuschheit oberstes Gebot war. Ähnlich den Rabbinern tippten auch die Bischöfe auf die gewaltige Macht der Einbildungskraft, der ahnungslose Ordensbrüder leicht zum Opfer fallen könnten. Nicht einmal die dicksten Mauern hätten diese Versuchung fernhalten können.

Der Abt Johannes Cassianus (360 bis 435) beteuerte, dass die Überwindung dieses «Lasters» der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg ins Geistige sei. Er gab klare Anweisungen, wie seine Mönche «jeglicher Zuckung des Fleisches» Einhalt gebieten sollten. Vor allem durfte man nicht in «angenehmen Gedanken» verharren. Man müsse üben, Frauen zu betrachten, ohne erregt zu werden, damit einem keine «verführerischen Bilder von Frauen» im Schlaf erschienen. Darüber hinaus oblag es jedem, nüchtern und sachlich (sprich: ohne Lustbarkeit) den Fortpflanzungsmechanismus zu verinnerlichen. Auch die «nächtliche Pollution» hat Cassianus thematisiert. Diesen unwillkürlichen Samenerguss im Schlaf hielt er für den Ausdruck eines tiefen seelischen Problems.

Ein Priester, der «anhand seiner Einbildungskräfte Samen ergiesst», solle – so steht es im Bussbuch von Theodor von Tarsus, Erzbischof von Canterbury, Ende des 7. Jahrhunderts – eine Woche fasten. Klingt hart? Zum Vergleich: Der Priester, der eine Frau küsste, musste vierzig Tage büssen. Ein Techtelmechtel zwischen Mönch und Ordensschwester ergab eine Strafe von sage und schreibe sieben Jahren!

Allgemein gesprochen, ernteten diese einsamen Streicheleinheiten wenig Aufmerksamkeit im klerikalen System. Strenge «NoFapper» waren wohl die Ausnahme in der kirchlichen Obrigkeit. So zum Beispiel Petrus Damiani, Prior eines Einsiedlerordens in Oberitalien und Heiliger der katholischen Kirche. Er prangerte die Onanie Mitte des 11. Jahrhunderts als eine der schlimmsten «Sünden wider die Natur» an – gleichwertig mit der Homosexualität und der Hurerei. Er selbst, wenn ihn das Feuer dieser Leidenschaft zu übermannen drohte, eilte zum nahe gelegenen Fluss – auch nachts, wenn nötig –, um sich ins kalte Wasser zu stürzen, bis sein Körper erstarrte. Dann begab er sich in die Kapelle und rezitierte Psalmen bis zum Morgengebet. Damiani wandte sich an den damaligen Papst Leo IX. mit der Bitte, die Masturbation wie auch die Homosexualität aus der Welt zu schaffen. Der Papst bedankte sich für die Empfehlung und schickte den Prior auf den Weg.

 

«Prüfung der Stärke meiner Fantasie»

Auch der Geistliche Jean de Gerson, Kanzler der Universität Paris Anfang des 15. Jahrhunderts, hat sich in diese Thematik verbissen und verfasste eine Fibel über die Masturbation für Beichtväter. Seine Strategie: Der freundliche Beichtvater frage unverbindlich, ob dem Jungen das «Schamglied» jemals «aufgerichtet» wurde und, wenn ja, wie er damit umgegangen sei. Falls der Beichtende antworte, er habe es nicht «gestrichen oder gerieben», dann wisse man, er lüge. Man empfehle ihm, wenn er in Versuchung komme, sich an der Brust zu schlagen und sich mit kaltem Wasser zu waschen. Nebenbei: Gersons Traktätchen fand zu Lebzeit wenig Aufmerksamkeit. Erst im 19. Jahrhundert wurde es von Historikern aus dem Moder ausgegraben.

Und so vergingen die Jahrhunderte: Trotz kirchlichen Bedenken übten die meisten unbekümmert ihr privates «Laster» weiter aus. Notabene: Hier geht es – noch – hauptsächlich um die männliche Praxis. Was die Frauen en privé taten, interessierte die Männerwelt damals nur wenig. Mitte des 17. Jahrhunderts brüstete sich der englische Marinebeamte Samuel Pepys in seinem Tagebuch, dass er es während einer Bootsfahrt auf der Themse ohne Hände getan und somit «eine Prüfung der Stärke meiner Fantasie» bestanden habe. Jonathan Swift erlaubte sich in «Gulliver’s Travels» das Wortspiel «my good Master Bates …» Man kicherte über solche Witzchen damals ähnlich den Lesern Martials.

Nun aber schreiben wir das Jahr 1712. Fortan – zumindest in der westlichen Welt – wird es auf diesem Gebiet nie wieder so sein wie früher. In London fand man plötzlich in den Buchhandlungen eine etwa hundertseitige Broschüre vor mit dem provokativen Titel «Onania – oder die erschreckliche Sünde der Selbstbefleckung mit allen ihren entsetzlichen Folgen so dieselbe bei beiderlei Geschlecht nach sich zu ziehen pflegt».

Der namenlose Autor gab sich als Chirurg aus. Der schrille Ton seines Buchs liess prompt vermuten, er habe Wichtiges zu verkünden. Und so war es. Seine Botschaft lautete: Obacht! Dieses scheinbar harmlose Vergnügen sei eine schlimme, eine gefährliche Volksseuche! Sie vergifte nicht nur Jugendliche, sondern ebenso Erwachsene – ob verheiratet oder ledig, jung oder alt – wie auch Witwen und verheiratete Frauen! Was diese Seuche besonders grausam mache: Der Onanierer beziehungsweise die Onaniererin könne sie insgeheim betreiben – also ohne Zeugen!

Anders als die Pfaffen prangerte der Autor keine moralischen Unpässlichkeiten an. Nein, es gehe schlichtweg um die Gesundheit! Die Onanie zehre nämlich an den Körperkräften, verursache Geschwüre, Schwindsucht, Unfruchtbarkeit, Hysterie bei Frauen und führe schliesslich in den Tod.

Die Sache sei aber nicht hoffnungslos. Der Autor bot nämlich zwei wirksame Arzneien zur Bekämpfung der Krankheit feil: eine «stärkende Tinktur» und ein «prolifisches Pulver», beide (allerdings für teures Geld) im Laden des Buchhändlers Mr Crouch erhältlich.

Der heutige Leser von «Onania» wittert (hoffentlich) sofort Quacksalberei; Historiker bezeichnen dieses Buch als frühes Beispiel der Gattung «medizinische Pornografie». Im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts machte es aber Eindruck und erschien während der nächsten dreissig Jahre in immer neuen Auflagen, so dass nach und nach der Umfang des Einbands sich verdreifachte – vollgestopft mit Empfehlungsschreiben geheilter «Leidender». Auch in den Niederlanden und in den amerikanischen Kolonien wurde es zum Bestseller. Die erste deutsche Übersetzung wurde 1736 in Leipzig gedruckt und erlebte mehrere Auflagen.

Irgendwie war die Zeit reif dafür, die Onanie als Volkskrankheit zu deklarieren. Im «Universallexikon» des Johann Heinrich Zedler – Ausgabe 1743 – konnte man einen langen Text zum Thema unter dem Stichwort «Selbstbefleckung» lesen. Auch der französische Aufklärer Denis Diderot veröffentlichte 1765 einen Beitrag darüber in seiner Enzyklopädie. Die bekanntesten Figuren der Zeit meldeten sich zu Wort zum Thema. Gemäss dem Philosophen Voltaire handelte es sich um eine «perverse Selbstliebe». Jean-Jacques Rousseau mutmasste, die Onanie mache junge Menschen zu Sklaven eines wirren Fantasiegebildes, was an die Einwände des Talmuds und des frühen Christentums erinnert.

Falls der Beichtende antworte, er habe es nicht «gestrichen oder gerieben», dann wisse man, er lüge.

Doch einflussreicher als alle anderen «Experten» der Zeit zum Thema war der Schweizer Arzt Samuel Auguste David Tissot. 1760 veröffentlichte er sein «Onanismus, oder eine physiologische Dissertation über die Krankheiten, die von der Masturbation verursacht werden». Tissot, damals schon ein geachteter Wissenschaftler wegen seiner Recherchen über die Pocken, distanzierte sich zwar vom marktschreierischen anonymen Autor von «Onania», war dennoch überzeugt, dass die Selbstbefriedigung die Ursache vieler schlimmer Krankheiten sei. Seine Erklärung: Masturbation entziehe dem Mann die kostbare Samenflüssigkeit. «Unsere Körper sind stets am Verlieren. Wenn wir unsere Verluste nicht wieder quitt machen, dann verfallen wir bald einer todbringenden Schwäche.» In einer Fallgeschichte schildert Tissot das Schicksal eines Uhrmachers, der das «Laster» seit seinem 17. Lebensjahr dreimal täglich ausgeführt habe. Immer blässer und schwächer wurde dieser, so der Doktor, bis er 1757 völlig debil gestorben sei. Ja: Tissots Einstellung zum Samenhaushalt war genau das Gegenteil von der des griechischen Arztes Galen.

 

Europa erwachte zu neuen Kräften

Auch Tissots Buch wurde zum Bestseller und in diverse Sprachen übersetzt. Kant, Voltaire, Hufeland und Goethe zählten zu den eifrigen Lesern. 1800 schrieb Kleist an seine Verlobte, er habe einen Achtzehnjährigen im Würzburger Julius-Hospital gesehen: «Eingebunden und eingenäht lagen ihm die Hände auf dem Rücken.» Sein «unnatürliches Laster hatte ihn wahnsinnig gemacht».

Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde die Onanie von den meisten Ärzten und Wissenschaftlern weiterhin als ernstzunehmende Krankheit verstanden. Quacksalber verhökerten fantasievolle Behandlungsmethoden, um dieser «Seuche» Einhalt zu gebieten: Tabletten, Erektionsalarme, Penishüllen, Schlafhandschuhe, Geschirre, um Mädchen daran zu hindern, die Beine im Bett zu spreizen, et cetera. Das Reiten ohne Sattel galt als besonders gefährlich für Jungen und Mädchen. Auch ins 20. Jahrhundert wurde dieses Wissen weiter tradiert. Noch 1960 konnte man sich im amerikanischen Pfadfinderhandbuch über die Gefahr dieses Lasters informieren. Manche Eltern machten sich Gedanken, ob es nicht etwa zu aufregend sei, wenn ihre Tochter Fahrrad fahre.

Doch stopp! Vielleicht sollte man sich jetzt fragen, wie es dazu kam, dass die Onanie im 18. Jahrhundert urplötzlich in der westlichen Welt zu einer «Volkskrankheit» umgemodelt werden konnte – und zwar nach jahrtausendelanger Akzeptanz beziehungsweise Duldung. Denn diese neue Attitüde ist kaum im leeren Raum entstanden. Fakt ist: Sie war eine Folge – besser gesagt: « ein Nebenprodukt» – einer Entwicklung, die im 16. Jahrhundert in Europa begann und von den Historikern als «Neuzeit» bezeichnet wird. Der erste Schwung ereignete sich wohl im Lauf der Erholung nach dem Schwarzen Tod. Europa erwachte zu neuen Kräften. Es folgte die Zeit der Entdeckungen, und bald fand in Europa ein nie zuvor bekannter Wohlstand statt. Wie es der Zustand wollte, erfand nun um diese Zeit Johannes Gutenberg den modernen Buchdruck, mit dessen Hilfe allerlei neue Ideen schnell die Runde machten: zum Beispiel der Protestantismus, dessen Eifer dann in Religionskriege ausartete. Um diese Zeit kam auch der Mittelstand zustande – ein absolut neues Phänomen. Auch die Armen hatten neue Chancen. Gemäss Norbert Elias nahmen in dieser bewegten Zeit ebenfalls die «Scham und Peinlichkeitsschwelle» zu – vor allem beim neuen Bürgertum, das sich sittlich etablieren wollte. Der «Zwang zur Selbstkontrolle», so nennt es Elias – auch was die Sexualität betrifft –, bürgerte sich im neuen Bürgertum ein. Jegliche «Übertretung gesellschaftlicher Verbote» führe, so Elias, zu Scham. Kein Zufall also, dass um diese Zeit der Calvinismus und der Puritanismus ins Leben gerufen wurden.

Das Buch «Onania» ist nicht im leeren Raum entstanden. Bereits 1633 hatte ein calvinistischer Theologe, Richard Capel, an der Oxford-Universität ein Werk über die Onanie mit dem Titel «Tentations: their nature» («Versuchungen») veröffentlicht. 1706 veröffentlichte in der Schweiz ein Prediger namens Osterwald eine «Abhandlung gegen die Unkeuschheit». Dank dem Buchdruck vermochte man die Botschaft geschwind an den Mann (bzw. die Frau) zu bringen.

Das Reiten ohne Sattel galt als besonders gefährlich für Jungen und Mädchen.

Auch die «Aufklärung», so der amerikanische Historiker Thomas W. Laqueur, diente dazu, Attitüden über die Onanie zu verändern. Denn die Stichwörter jener Zeit lauteten «Individualität» und «Demokratie». Onanie passte hier gar nicht ins Bild. Und zwar aus drei Gründen: 1.) In einem Zeitalter der Offenheit sei die Unsichtbarkeit der Onanie suspekt; 2.) man übe sie im Überfluss aus, und trotzdem trage sie zum Gemeinwohl gar nichts bei, und 3.) der Inhalt der Selbstbefriedigung sei lediglich Fantasie, sie erzeuge also keinen Gewinn in der wirklichen Welt. Sie verursache – würden wir heute sagen – eine Art «Energiekrise». Zu bemerken: Schon wieder wird die Fantasie kritisch angesehen.

Erst mit der Psychoanalyse Ende des 19. Jahrhunderts begannen Ärzte das «Laster»– zumindest teilweise – zu rehabilitieren. Man beteuerte, dass sie doch keine Krankheiten verursache, man erblinde nicht, man sterbe nicht daran. (Bis heute scheint diese Botschaft nicht ganz angekommen zu sein!) Freud betrachtete diese körperliche Selbstentdeckung als normale Etappe in der sexuellen Entwicklung. Bei Erwachsenen witterte er allerdings eine psychische Störung.

Und nun zur heutigen Zeit. Für uns gilt dieser «Sex mit einem, den man wirklich liebt», wie Woody Allen einmal sagte, offiziell als rehabilitiert. Man findet die Bestätigung dafür in Tausenden von Büchern und Artikeln. Die Experten empfehlen diese private Intimität mittlerweile, um Schlafstörungen zu lindern, Stress abzubauen und auch um Prostataproblemen und Blasenentzündungen vorzubeugen. Der kanadische Psychiater Thomas Szasz witzelte 2003: «Im 19. Jahrhundert betrachtete man sie als Krankheit, im 20. Jahrhundert als der Krankheit Heilung.»

Wirklich? Oben hatten wir über die (millionenstarke) «NoFap»-Bewegung erzählt. Anhänger dieser Gruppe – hauptsächlich männlich – versprechen sich durch Onanieverzicht reduzierte Erschöpfung und Schüchternheit, gesteigerte Selbstkontrolle und mentale Klarheit. «Energiesteigerung durch Verzicht», «Reboot» lauten die «NoFap»-Slogans. Achtung: Diese Bewegung ist im Wachstum begriffen.

Sind wir also schon wieder auf dem Weg zu «Onania» und Tissot? Wahrscheinlich nicht. Wenn man das Programm der «NoFappisten» liest, stellt man fest, dass nicht die Selbstbefriedigung der Überfeind ist, sondern die Tatsache, dass immer mehr Jungen und Männer – auch Mädchen und Frauen – ihre Erotik in der allgegenwärtigen Internetpornografie suchen und finden. Man kann es auch anders schildern: Die Porno-Grossindustrie stumpft ein ganzes Reich der Fantasie ab, was der Verstümmelung der menschlichen Software gleicht. Vielleicht gäbe es keine «NoFap»-Bewegung, wenn heute – wie einst – die erotischen Bilder im eigenen Kopfkino und nicht in der Fleischfabrik entstünden.

Nebenbei: Masturbation ist freilich ein weltweites Phänomen und wird überall verschieden rezipiert. Im Islam ist ein strenges Verbot erst neueren Datums. Im Koran und in den Hadithen wird das Thema nicht direkt angesprochen. Im alten China tadelte man diese Praxis, weil man eine Erschöpfung der männlichen Yang-Energie vermutete, was an Tissot denken lässt. Im heutigen China scheint die Tätigkeit pandemisch geworden zu sein. Die Japaner – ähnlich den Griechen und Römern – kannten historisch kein Verbot … allerdings nur bis zum Kontakt mit Amerikanern und Europäern im 19. Jahrhundert!

 

Kängurus, Walfische, Giraffen tun’s

Und ein letzter Punkt: Auch Tiere tun es! Gemäss den Biologen Robin Baker und Mark Bellis der Universität Manchester in England ist die männliche Masturbation weitverbreitet unter Tieren – zum Beispiel bei Kängurus, Walfischen, Giraffen, Tauben und so weiter. Die Wissenschaftler vermuten allerdings eine sehr wichtige biologische Ursache: das Optimieren der Qualität des Samens, was wiederum ein männliches Tier konkurrenzfähig hält. Der Grieche Galen lässt weiterhin grüssen! Auch für die weibliche Masturbation vermutet die amerikanische Sexologin Shere Hite eine biologische Begründung: Sie gewährleiste ein «biologisches Feedback», das Frauen für den Geschlechtsverkehr fit hält. Also los!

 

P. J. Blumenthal ist ein amerikanischer Altphilologe, Schriftsteller und Übersetzer in München.