New York

Gezielt Zivilisten ins Visier zu nehmen, ist ein Kriegsverbrechen. Es handelt sich ebenfalls um ein Kriegsverbrechen, wenn Zivilisten nicht absichtlich als Ziel ausgewählt werden, aber der Angriff in keinem Verhältnis zum militärischen Wert des Ziels steht. Es gibt eindeutige Beweise dafür, dass Russland in beiden Kategorien kriminell handelt. Die Verbrechen gelten meiner Meinung nach zwar nicht als Völkermord – das schlimmste aller Verbrechen –, aber sie erfüllen die Kriterien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Verbrechen, deren sich Russland schuldig gemacht hat, rechtfertigen eine Untersuchung und eine strafrechtliche Verfolgung durch entsprechende internationale Gerichte.

Was Den Haag nun tun sollte

Die Frage ist allerdings, ob es solche Gerichte gibt und wenn ja, ob sie willens und in der Lage sind, die Täter vor Gericht zu stellen. Weder Russland noch die Ukraine oder die USA haben das Römer Statut unterschrieben, das die Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof ist, wobei die Ukraine allerdings dessen Zuständigkeit für Kriegsverbrechen wiederholt akzeptiert hat. Der Internationale Strafgerichtshof beansprucht jedoch die Kompetenz, gegen alle Kriegsverbrecher zu ermitteln und sie strafrechtlich zu verfolgen, ohne Rücksicht darauf, aus welchem Land sie stammen. Er kann allerdings nicht über Nationen, sondern nur über Einzelpersonen richten.

Beweise sind in Form von Videos und Augenzeugenberichten bereits öffentlich zugänglich.

Es gibt derzeit Bemühungen, bestimmte russische Personen zu identifizieren, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sind. Wenn sie identifiziert sind, können Haftbefehle ausgestellt werden, und wenn sie verhaftet werden, können sie nach Den Haag gebracht und vor Gericht gestellt werden. Zu den Tätern gehören offensichtlich hochrangige russische Beamte, darunter Wladimir Putin, sowie mehrere Generäle. Es ist jedoch höchstunwahrscheinlich, dass diese Verbrecher ihre sichere Existenz in Russland oder in Weissrussland aufgeben werden, welche die Verhaftung nicht zulassen werden. Ausserdem stellt die diplomatische Immunität ein Hindernis für die Verhaftung dar.

Dennoch wäre es wichtig, dass die Staatsanwälte in Den Haag strafrechtliche Ermittlungen durchführen und Haftbefehle gegen jeden erlassen, bei dem die Beweislage ausreicht. Selbst wenn die Haftbefehle nur symbolisch sind, könnten sie bis zu einem gewissen Mass eine abschreckende Wirkung auf russische Soldaten niedrigeren Ranges und auf Zivilisten haben, die möglicherweise eines Tages ihr Heimatland, wo sie keine Anklage zu befürchten haben, verlassen wollen.

Dementsprechend sollte die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs (sofern noch nicht geschehen) eine Task-Force ins Leben rufen, die alle Beweise für Kriegsverbrechen sammelt und auswerten soll. Der Schwerpunkt müsste auf den russischen Handlungen liegen, aber wenn es Beweise für ukrainische Kriegsverbrecher oder andere Täter gibt, sollte auch gegen sie ermittelt werden und sollten diese strafrechtlich verfolgt werden. Kriegsverbrechen kennen keine Uniformen oder Nationen. Sie sind sowohl individuell als auch kollektiv.

Leider kommt es in praktisch allen lange dauernden militärischen Konflikten zu Kriegsverbrechen. Der Begriff wird von allen Seiten als Waffe eingesetzt und wurde schon so oft verwendet, dass er viel von seiner Bedeutung und seiner moralischen Kraft verloren hat. Zudem wird er von den Organisationen der Vereinten Nationen, von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International und von einigen Medien selektiv angewendet (und ignoriert). Aber was Russland getan hat und weiterhin tut – Angriffe auf Wohnhäuser, Ermordung von Zivilisten mit auf dem Rücken gefesselten Händen, Vergewaltigung von Frauen –, ist so eindeutig kriminell, dass es strafrechtlich verfolgt werden muss, wenn das Verbot von Kriegsverbrechen glaubwürdig bleiben soll.

«Kollateralschäden»

Ein Grossteil der Beweise für Kriegsverbrechen ist in Form von Videoaufnahmen und Augenzeugenberichten bereits öffentlich zugänglich. Die Russen haben zu ihrer Verteidigung nichts vorgebracht als das übliche «Sie tun es auch» und die falsche Behauptung, dass es sich bei den zivilen Opfern um «Kollateralschäden» handle. Diese Behauptungen werden weder einem Gericht noch dem Urteil der öffentlichen Meinung genügen. Also lasst die Ermittlungen beginnen. Lasst die Haftbefehle ausstellen. Und lasst den Prozess für Gerechtigkeit beginnen, auch wenn er nie zufriedenstellend abgeschlossen werden wird.

Alan Dershowitz ist emeritierter Professor für Rechtswissenschaft an der Harvard University. Er zählt zu den bekanntesten Strafverteidigern der USA.