Vor zwei Wochen erschien im Tages-Anzeiger ein Porträt über Sonja Rueff-Frenkel, meine Schwester. Der Artikel über die Zürcher Stadtratskandidatin (FDP) verursachte ein publizistisches Erdbeben.

Dem Autor Kevin Brühlmann wurde Antisemitismus und Sexismus vorgeworfen. In der jüdischen Wochenzeitschrift Tachles verglich ein Autor die Zürcher Tageszeitung mit dem Stürmer des NSDAP-Gauleiters Julius Streicher. Mehr geht nicht.

Der Zürcher Verlag entschuldigte sich zweimal. Das hat es in den bald 130 Jahren Tages-Anzeiger noch nie gegeben.

Der Spinnen-Vergleich

Meine Schwester kritisiert den Autor, dass er «aus einer Vielzahl möglicher Attribute ‹weiblich› und ‹jüdisch› gewählt hat. Ich möchte aufgrund meiner Politik beurteilt werden, nicht anhand meines Geschlechts oder meiner Religionszugehörigkeit.» (Twitter-Auszug)

Das ist ein verständlicher Wunsch. Aber realitätsfremd. Journalisten halten sich selten an Regeln und kümmern sich – im besten Fall – nicht um die Wünsche der Porträtierten.

Wenn ich meine Schwester porträtieren müsste, dann so: hochintelligent, warmherzig, dossiersicher und schlagfertiger als alle anderen.

Kevin Brühlmann, der wohl talentierteste Jungredaktor im Grossraum Zürich, hat wochenlang über Sonja Rueff-Frenkel recherchiert. Dabei hat er unter anderem mich angerufen. Als er mich fragte, was mir zu meiner Schwester einfällt, gab ich ihm das Bild der Spinne.

So nannte ich bereits meine Grossmutter, die den ganzen Tag in ihrer Chaiselongue sass und in der ganzen Verwandtschaft herumtelefonierte. Sie wusste über alles Bescheid und knüpfte Fäden, wie halt eine Spinne. Und wie jede Grossmutter hatte sie ein Auffangnetz für alle. Hier 50 Franken, da ein Zuschuss.

Soll man Menschen mit Tieren vergleichen? Wahrscheinlich nicht. Am sichersten wäre es, journalistische Texte kämen wie Arzneimittelinformationen rüber.

Schlimmes Attribut

Dem Autor und mir wird nun vorgeworfen, mit der Spinne ein antisemitisches Klischee bedient zu haben. Das ist mir neu und unangenehm. Denn ich will kein Antisemit sein.

Ich würde ein solches Urteil akzeptieren, hätte ich dem Autor gesagt: «Meine Schwester ist ein Blutsauger, eine Wanze, ein Parasit des Schweizer Volkes.» So hätte wohl der «Stürmer» geschrieben.

Was Brühlmann hingegen schrieb, hat mit Antisemitismus nichts zu tun. Was ihm gelang, war ein kritisches Porträt über eine toughe Politikerin.

Dass der junge Journalist nun von allen Seiten attackiert wird, sollte zu denken geben. Das Label «Antisemit» ist eines der schlimmsten Attribute, die einem Autor verliehen werden können.