Schmeichelnd streicht der Mistral den Hügel hinab, Kellner lassen vor den Brasserien Wasser in die Hummerbecken ein, hinter dem Vieux-Port liegt friedlich und glatt das Mittelmeer . . .

So möchte man die Reportage über Marseille, die älteste Stadt Frankreichs, beginnen und sucht nach Worten, welche die ­ers­ten ­Eindrücke authentisch umschrei­ben, doch man liegt hier immer daneben, denn ­jedes Mal, wenn das Auge auf etwas verharrt, ­verwandelt sich der Gegenstand in sein ­Gegenteil.

Die Hauptstadt der Provence, verführerisch und heimtückisch zugleich, hat eine wohlverdiente Reputation als rauer und ungehorsamer Ort. Seit 2600 Jahren prägen Immigranten das Stadtbild. Die meisten von ihnen sind übers Meer gekommen: Phönizier, Römer, ­Juden, Armenier, Araber und, seit Frankreich die koloniale Herrschaft über den Maghreb aufgegeben hat, auch die pieds-noirs.

Schon immer zog der Hafen schillernde ­Kreaturen an, Eroberer, Schmuggler, Drogenhändler. Immer hat sie die Stadt geschluckt und – wenn auch unter Blähungen – verdaut. Heute hat das «Tor zum Orient» nichts an ­Attraktivität eingebüsst. Wenn man hinausschaut in Richtung der unsichtbaren nord­afrikanischen Küste, kann man sich die menschliche Flut von Flüchtlingen, Arbeits­suchenden und Glücksrittern lebhaft vorstellen, die, getrieben von politischer Unruhe und Armut, Kurs auf Europa nehmen.

«So sind sie»

«Man darf die Afrikaner oder Asiaten nicht im Glauben lassen, es gebe hier etwas für sie zu tun», sagt Monsieur Carotta im Büro des Front national, Sektion Innenstadt. Frankreich ­könne sich keine Fremden mehr leisten: 5 Mil­lionen Arbeitslose, 10 Prozent unter der Armutsgrenze lebend, 1,25 Millionen fehlende Wohnungen – eine Litanei der Krisenzahlen schiesst aus ihm wie ein Wasserfall hervor. «Man muss sie von der Überfahrt abhalten, denn bei uns werden sie noch unglücklicher sein als zu Hause.»

Carotta, selbst Abkömmling von Einwanderern, ist Milizfunktionär und trotz Rentenalter im Einsatz. Zurzeit sitzt er am Telefon, nimmt Gratulationen für das spektakuläre Abschneiden von Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen entgegen. Er tut es mit einer Haltung – gerader Rücken, forscher Ton –, als handle es sich dabei um einen Staatsakt. Dazwischen erzählt er vom Krieg in Algerien. Für seinen Einsatz erhält er eine Rente von 51 Euro.

Carotta schüttelt den Kopf. «51 Euro! Dafür habe ich mein Leben aufs Spiel gesetzt.» Aber es sei eine Erfahrung fürs Leben gewesen. Auf dem Schlachtfeld habe man die wahre Natur der Araber kennengelernt. «Wenn sie einen von uns geschnappt haben, haben sie ‹so› ­gemacht.» Er formt mit dem Zeigfinger ein Messer und zieht einen Kreis um sein Geschlechts­teil. «Abgeschnitten», sagt er. «So sind sie.»

Während in Europa die Immigration wächst, richten sich die Blicke nach Marseille. Es gilt als Labor der Moderne, als grosses Feldexperiment der Integration verschiedenster Kulturen. Von allen Grossstädten Europas hat Marseille den höchsten Prozentsatz an Muslimen. Wie viele es genau sind, ist offiziell nicht bekannt. In Frankreich würden Herkunfts-, Konfessions- und Rassenstatistiken dem republikanischen Prinzip der Egalité widersprechen. Muslime in Marseille selbst schätzen die Zahl ihrer Glaubensgemeinschaft auf 380 000. Das sind 43 Prozent der Gesamtbevölkerung von 880 000. ­Angesichts der hohen Geburtenrate unter Muslimen und bei Fortsetzung der Einwanderungspolitik (die unter einer sozialistischen Regierung kaum gebremst wird), könnte in Marseille innert weniger Jahre der Tipping Point erreicht sein, jener Moment also, wo die Muslime erstmals eine Mehrheit in einer europäischen Grossstadt stellen werden.

eit Jahren prägen Muslime Marseille. Ihre Geschäfte und Souks sind aus der Innenstadt nicht mehr wegzudenken. Mehr als 70 Moscheen und Gebetsräume gibt es. Zu wenig, wie es aus muslimischen Kreisen heisst. Im Norden ist die grösste Moschee Europas mit gigantischen Minaretten geplant. Bereits 2013 hätte sie eingeweiht werden sollen. Doch ­wegen Einsprachen des Front national, Geldproblemen und interner Querelen wurde das Projekt auf Eis gelegt.

«Bis heute ist Marseille eine Stadt, die es ermöglicht, in Ruhe und Frieden zusammen­zuleben», sagt Lionel Dray, Stellvertreter des Grossrabbiners von Marseille. Es gebe Spannungen, das sei nicht zu leugnen. Jedes Mal, wenn im Nahen Osten etwas passiere oder wenn irgendwo ein Koran verbrannt werde, würden unter Muslimen die Wogen hochschlagen. Doch bisher hätten es muslimische, jüdische und christliche Würdenträger dank Dialog und Mässigung geschafft, ihre Gemeinden im Zaum zu halten. So auch im November 2005, dem bisher grössten Test. Als in Migrationsquartieren in fast allen französischen Städten Unruhen ausbrachen, blieb es in Marseille ruhig.

Nach den Gründen für die Fraternité gefragt, antwortet manch einer mit den Initialen OM – Olympique Marseille, der Fussballclub, hinter dem alle Marseiller stünden wie ein Mann. Oder sie zeigen auf den Strand. Sand, Wasser und Sonne haben offenbar eine magische Wirkung auf den sozialen Frieden.

«Immer schöner»

Marseille scheint also auf gutem Weg. Jedenfalls zeigt sich die Presse im deutschsprachigen Raum beeindruckt bis begeistert. Als der Spiegel vor einem Jahr jemanden in die Stadt schickte, schwärmte die Journalistin vom «Vorzeigemodell geglückter Integration», wo Einwandererkinder bis zum Fussballprofi ­(Zidane) aufsteigen. Auch der «Baedeker», Reiseführer der gehobenen Klasse, preist die Hafenstadt als «multikulturellen Schmelztiegel» und verweist auf das imposante Kulturangebot: Nirgendwo gibt es so viele Theater­besucher wie in Marseille. Prachtvoll wurde die Jugendstil-Oper renoviert. Nicht einmal Paris – drei TGV-Stunden entfernt – bietet eine solche Auswahl an Schauspielhäusern. Und: Das Zentrum ist sauber, wie mit dem Kärcher blank gespritzt.

«Marseille wird einfach immer schöner», sagt Jean-Claude Gaudin, der Stadtprä­sident. Siebzehn Jahre bereits dauert sein Regnum. Auch physisch scheint «Godäng», wie die Marseiller seinen Namen herb prononcieren, eine Metamor­phose zum Stadtkönig vollzogen zu haben. Mehr breit als hoch, im feinen Zwirn, silbergrau das Haar, residiert er im Hôtel de Ville, ­direkt am Hafen, mit bester Aussicht auf die Segelboote und die Notre-Dame-de-la-Garde, die hoch oben über der Stadt thront.

Eben hat er in der alten Charité feierlich eine Hundertwasser-Ausstellung eröffnet: «Le rêve de la couleur» wurde der Anlass getauft. Der Name könnte auch für Gaudins Regierungsmotto stehen. Unermüdlich propagiert er den Traum von seiner farbigen Stadt, stolz verweist er auf seine Harmoniepolitik, wie er seit den neunziger Jahren mit Projekten wie «Marseille Espérance» (Hoffnung Marseille) das friedliche Miteinander von Juden, Christen, Buddhisten und Muslimen gefördert habe.

Wer eben am Gare St-Charles angekommen ist und über die Prachtallee Canebière zum ­Vieux-Port flaniert, ist geneigt, Gaudin zu glauben. Wer ab und zu in einer französischen Zeitung liest, erinnert sich an etwas andere, dumpfere Botschaften: «A Marseille, les armes descendent dans la rue» (Libération); «L’emprise de la drogue» (Le Monde); «Peurs sur la ville» (L’Express). Und sobald man mit den Menschen spricht, bröckelt Gaudins Idyll. «Schauen Sie doch bloss, wer unten am Hafen in welchen Bus steigt», sagt ein Mann aus den Komoren, dem Inselstaat zwischen Mosambique und Madagaskar. «Die Weissen fahren in den ­Süden, die Dunklen in den Norden.»

Im Griff der Drogenbanden

Topografisch ähnelt Marseille einem antiken Theater, natürlich begrenzt durch Hügelzüge, welche die Stadt umschliessen. Banlieues gibt es keine, dennoch ist die Stadt in Arm und Reich geteilt. Die Wohlhabenden vorwiegend weisser Hautfarbe ­leben im Süden, der sich bis zum mondänen ­Plage du Prado erstreckt. Im Norden hausen die Armen. Anmutig sind hier einzig die Quartiernamen: Saint-Antoine, La Castellane oder Cité de la Solidarité. Die Einkommen liegen hier dreimal tiefer als im Süden.

Eine Problemzone ersten Ranges im 13. Arrondissement trägt den ­Namen «Le Clos la ­Rose» (frei übersetzt: Pri­vater Rosengarten). Freitagmittag: Wie ausgestorben ruht das Quartier unter azurblauem Himmel. Weder ein Garten noch eine Rose, noch sonst eine ­Blume ist weit und breit zu sehen, stattdessen erheben sich Wohnblöcke kreuz und quer.
Le Clos la Rose ist fest im Griff der Drogenbanden, die Siedlung gehört zu ­jenen Nordquartieren, die während der letzten drei ­Jahre zu einem veritablen Kriegsschauplatz geworden sind. 2011 verzeichnete Marseille 38 Abrechnungsdelikte im Drogenmilieu, 13 Mal endeten sie tödlich. Die blutige Serie bricht nicht ab. ­Allein im April gab es 3 Tote.

Omar Berriche, 30, öffnet die Autotür und lädt zu einer Erkundungsfahrt ein. «Sie werden immer jünger», sagt er, während er im Schleichgang durch die Häuserschluchten kurvt. «Der Junge dort ist ein chouffe», ein Späher. Berriche zeigt auf einen Teenager, kaum sechzehnjährig, der vor einem Hauseingang in einem Sofa fläzt. «Er darf seinen Platz nicht verlassen, bis er abgelöst wird.»

Der Späher sei nur das sichtbare Tentakel des ­Kraken, erklärt Berriche. Irgendwo in den ­Gebäuden sitzen die rabbatteurs, die Verkäufer. Diese werden versorgt von den ravitailleurs, den Lieferanten, die für den Nachschub zuständig sind und beträchtlich mehr verdienen als die anderen. Sie wiederum werden gespiesen von den nourrices, Zulieferern, einer Art Grossisten, welche die Ware in den Quartieren horten. Im Unterschied zu den anderen im Dealer-Netzwerk haben sie meist einen sau­beren Leumund, bleiben ausser Sichtweite ­ und haben keinen Kontakt zu den Kunden. ­ Oft werden für diese Rolle alleinerziehende ­Mütter engagiert.

«Stehend k.o.»

Vierzig Prozent plus beträgt die Jugendarbeitslosigkeit im Norden. Für Teenager bietet das Drogennetz eine verlockende Geldquelle und ist oft der einzige Ort, wo ihnen Disziplin vermittelt wird. Jeden Morgen würden die Bosse ihren Truppen verschiedene Aufgaben zuteilen, der Dienst werde rigoros kontrolliert, erzählt Berriche. Dutzende solcher Netzwerke gebe es in Marseille, die sich gegenseitig Platz und Kundschaft streitig machten. Kaum einer der jungen Montagues und Capulets, die keine Waffe besitzen. Kalaschnikows sind en vogue. Angeb­lich stammen sie aus Rumänien. Für 500 Euro sind sie zu haben – billiger als ein Motorrad.

«Das ganze Quartier ist stehend k.o.», sagt Berriche. Als Sohn algerischer Einwanderer zusammen mit sechs Geschwistern im Quartier aufgewachsen, kennt er hier jedes Gesicht und ­jeden Leumund. Auch er habe früher bêtises gemacht, sagt Berriche, anderthalb Jahre habe er hinter Gitter verbracht. 25 Tage sogar in ­Lugano, wegen Kreditkartenfälschung. Ein Paradies sei das gewesen im Vergleich zu den französischen Strafanstalten: keine Schläge, keine Beleidigungen.

Vor paar Monaten hat Berriche einen «Snack» eröffnet, eine Art Jugendtreff mit drei Game-Konsolen und einer Mikrowellen­küche, die günstige Sandwiches, Salat und Soft Drinks serviert. Für viele Jungen ist Berriche eine Art Ersatzvater, der ab und zu nach ihrem Wohlbefinden fragt. Und der «Snack» ist die einzige Abwechslung auf der Speisekarte. Zu Hause im Wohnsilo reicht es den kinderreichen Mi­grantenfamilien selten zu mehr als Café complet, Milch­kaffee mit weichem Weissbrot. Dass Marine Le Pen in der Präsidentenwahl in Clos la Rose 26 Prozent der Stimmen geholt hat (Platz zwei hinter Hollande), überrascht hier niemanden. Die Stimmung oszilliert zwischen Hoffnungslosigkeit, Frust und Sehnsucht nach Stabilität.

«Multikulti ist ein Phantom»

Mindestens vierzig Personen werden gemäss Polizeiangaben monatlich wegen Drogenhandels verhaftet. Wenn die Polizisten im Quartier einfahren, hagelt es von den Balkonen Steine und Boule-Kugeln. «Das Problem wird die ­Polizei nie lösen», sagt Berriche, «weil die ­Politik das nicht will.» Wie Berriche glauben hier viele, dass die Macht der Drogenkartelle der Grund dafür ist, dass es bisher keine Massenausschreitungen gab wie in Paris oder Lyon. «Die Dealer spielen die ­Rolle der Stossdämpfer», so Berriche. «Man lässt sie nach der zynischen Maxime gewähren: Solange sie im eigenen Getto ihr Drogengeld verdienen, schlagen sie im weissen Süden keine Autos kaputt.»

Im Büro Innenstadt des Front national ist unterdessen der Kreischef eingetroffen. Die Gewalt im Norden sei ein Krebsgeschwür, sagt Laurent Comas. Noch mehr stört ihn allerdings die zunehmende muslimische Präsenz im Stadtzentrum. «Wir fühlen uns in der eigenen Stadt nicht mehr zu Hause», klagt er und weiss damit eine wachsende Minderheit der Bevölkerung hinter sich. Die abendländische christliche Kultur werde sukzessive verdrängt. Selbst im Zentrum mache sich der Orient breit.

Im Belsunce-­Quartier, fünf Gehminuten vom Vieux-Port entfernt, weht ein Hauch von Casablanca. Doch was auf den ersten Blick wie ein kompakter muslimischer Mikrokosmos erscheint, entpuppt sich bald als nach Herkunft getrenntes, argwöhnisches Nebeneinander. «Marokkaner, Tunesier, Algerier, Komorer, ­alle bleiben unter sich», sagt Omar Dschellil, 40, langjähriger Sekretär der Taqwa-Moschee, des ältesten muslimischen Gebetshauses in der Stadt. «Solidarität und Durchmischung gibt es auch unter uns Muslimen nicht.» Der Multikulturalismus? «Das ist bloss ein Phantom.»

Auch von Gaudins Harmoniepolitik hält er «weniger als nichts». Sie sei eine Farce. Das ganze Politestablishment trenne das Volk, statt es zu vereinen. Dutzende Anlässe für Minderheiten organisiere die Stadt: vom Wettbewerb im Couscous-Kochen über Kurse in Kalligrafie bis zum Djembe-Trommeln für Ivorer. «Wenn man eine Gruppe in ihr kulturelles Getto verweist, kreiert man Rassismus», sagt Dschellil.

Dschellil gehört zu den schillerndsten Figuren der Stadtpolitik. Er entstammt einer algerischen Militärfamilie. Sein Grossvater und dessen Brüder hatten für die Franzosen gekämpft, in Monte Cassino, Indochina und ­Algerien. In Frankreich geboren, begann er sich früh in der Politik zu engagieren, zuerst bei den Sozialisten. Die seien am schlimmsten, sagt Dschellil. Null Aufstiegschancen gebe es da für einen wie ihn. Weder Schwarze noch Araber liessen sie ins Kader aufsteigen. Nach zehn Jahren gab er den Austritt.

Letztes Jahr entschloss er sich zu einem unerhörten Schritt. In einer Art Überraschungscoup suchte er den Schulterschluss mit dem Front national. Sein Partner auf der anderen Seite: Stéphane Durbec, 40, Ziehsohn schwarzer Hautfarbe von Jean-Marie Le Pen, genannt «Obama der Rechten». Zusammen haben sie die Alliance Républicaine Ethique (ARE) ins Leben gerufen. Dschellil und Durbec sehen sich als «Kinder der Republik», teilen die ­«Liebe zur Flagge» und tragen «Frankreich im Herzen». Ihr Ziel: eine radikale Umsetzung der laizistischen Verfassung. «Man muss aufhören, die Bürger über ihre Religion, Rasse oder soziale Herkunft zu identifizieren», so Durbec. «Wer Franzose ist, ist Franzose – und nichts sonst.»

Bald weckte der pragmatische Dschellil das Interesse Jean-Marie Le Pens. Der Doyen des Front nahm eine Einladung an, die Taqwa-Moschee zu besuchen, und ass in einem Kreis von Arabern sogar Hallal-Fleisch. Vier Mal ­kam Le Pen mit Dschellil zusammen. Auf ­You­tube sind minutenlange Mitschnitte ihrer Treffen zu sehen. Le Pen lobt Dschellil als ­«Patrioten». Dschellil seinerseits nennt Le Pen «Freund» und einen«grossen Fran­zosen».

Dessen Tochter Marine hingegen habe ihn nie sprechen wollen, bedauert Dschellil. Im Gegensatz zu ihrem Vater habe sie die Konfrontation mit den Muslimen gewählt. Sie ­stehe unter Einfluss des Vize, Louis Aliot, ihres Lebensgefährten, eines Zionisten. Stéphane «Obama» Durbec bezeichnet Marine sogar als rassistisch und islamophob. Vor paar Wochen trat er unter Protest nach 25 Jahren aus dem Front national aus. Damit war auch die zag­hafte Annäherung zwischen Marseiller Muslimen und dem Front national gescheitert.

«Wir spüren den Stress»

Was viele Marseiller beunruhigt, ist nicht die Angst, dass das multiethnische Versuchslabor in einem gewaltigen Knall explodiert, sondern, dass die Gesellschaft langsam zerbröselt, Identität und Gemeinsinn völlig abhandenkommen. Nicht in einer drohenden Welle des Islamismus liege die Gefahr, sondern im schleichenden Tolerieren von Gewalt.

In Frankreich Jude zu sein, sei wieder schwierig geworden, sagt Rabbiner Lio­nel Dray. «Seit den Anschlägen von Toulouse fühlen wir den Stress.» Jede Synagoge, jede Schule der ­Jüdischen Gemeinde in Marseille (rund 70 000 Gläubige) werde von der Police nationale bewacht. Das sei unangenehm. Was ihn noch mehr stört, ist das Schweigen der Massen. Wo ist die Solidarität der Muslime? Wo ihr Bekenntnis zum Staat und gegen die Gewalt der Radikalen in ihren Reihen? Für Gaudin, den Harmonie-König im Bürgermeisteramt, gehören die Spannungen zum Alltag einer multiethnischen Metropole. Er ist bereits absorbiert von seinem nächsten Projekt. Es soll sein grösstes werden. 2013 ist ­Marseille Kulturhauptstadt Europas. Fünfzig neue ­Kulturmagnete sollen in Marseille und der Provence gebaut werden. Veranschlagte Kosten für die Region: 600 Millionen Euro. Ausserdem gastiert die Gay Pride, die Schwulen- und Lesbenparade, in der Hafenstadt.

Gaudin wird die Besucher­ströme an den «Problemzonen» vorbei direkt an die prächtige Küste lenken. In den nördlichen Gettos hat sich längst eine Gegenkultur etabliert. Seit den achtziger Jahren haben Migranten in der Hip-Hop-Kultur ein Ventil gefunden. Heute ist der französische Hip-Hop-Markt nach dem der USA der zweitgrösste der Welt, vor allem dank der Künstler aus Marseille.

Die wenigsten jedoch haben den Sprung aus ihren Trabantensiedlungen geschafft. Sie tragen martialische Namen wie L’Algérino, Kalash L’Afro, oder Puissance Nord. Ihre Sprechreime hören sich an wie ein zynischer Abgesang auf Gaudins mélange-Laboratorium: «Tu veux ­savoir ce que j’en pense?», fragt Sat L’Artificier in seiner Ode an Marseille City. «Pour moi, Marseille, c’est déjà plus la France.»