Ein paarmal im Jahr erscheint in einer der grossen englischsprachigen Zeitschriften ein mehrseitiger Essay, der ein vertrautes Thema in ein neues Licht rückt. Bei den Autoren ­solcher Beiträge handelt es sich in der Regel nicht um professionelle Journalisten; der heutige Me­dien­betrieb scheint, von einer Handvoll herausragender Korrespondenten abgesehen, kaum Raum zu lassen für ungewöhnliche Betrachtungen. Freunde aus der schreibenden Zunft sagen es ganz offen. Mit einem Hauch ironischer Selbstverachtung­ ­bemerken sie, der Wissenserwerb der meisten Journalisten bestehe in der Lektüre einer beschränkten Anzahl von (deutschsprachigen) Zeitungen. Wen wundert es da, dass sich die Berichte kaum voneinander unterscheiden. Das Interview mit dem Professor, dessen ­Meinung man vor allem deshalb schätzt, weil man sie teilt, gilt in der Branche als anerkanntes Substitut für unabhängige Analyse.

Meister des Essays

Gut, gibt es da noch publizistische Erzeugnisse wie die New York Review of Books oder die ­London Review of Books. In letzterer erschien kürzlich ein brillanter Beitrag zur Situation Italiens. Sein Autor ist der britische Historiker Perry Anderson, ein Meister des politischen Essays. Titel: «The Italian Disaster». Anderson, emeritierter Professor der University of California und Autor zahlreicher Bücher, war während Jahrzehnten Herausgeber der New Left Review.

Die Brisanz seiner Ausführungen liegt darin, dass er das Land von sechzig Millionen ­Einwohnern nicht als Europas Ausnahmefall begreift, sondern als Paradebeispiel für den Abbau demokratischer Kultur im Namen höherer Interessen. An Italien lässt sich laut Anderson der moralische Kompass der europä­ischen Politik besonders gut ablesen. Neben dem Kernthema der Demokratie konzentriert sich der Beitrag auf einen der Protagonisten der italienischen Politik der letzten Jahrzehnte: Präsident Giorgio Napolitano. Anderson stützt sich massgeblich auf das 2013 erschienene Buch des Historikers und investigativen Journalisten Marco Travaglio: «Viva il re! Giorgio Napolitano, il presidente che trovò una repubblica e ne fece una monarchia» (Lang lebe der König! Giorgio Napolitano, der Präsident, der eine Republik vorfand und daraus eine Monarchie machte). Das 600-seitige Werk ist eine Anklage an die Adresse Napolitanos.

In der deutschsprachigen Presse wird Napolitanos Rolle seit Ausbruch der Euro-Krise ­ausnahmslos positiv ­bewertet; es lässt sich gar ein eigentlicher Heldenkult um den greisen Präsidenten ausmachen. Die Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung bezeichnete Napoli­tano wiederholt als moralisches Vorbild, als Fels in der Brandung, der Italien und Europa vor Schlimmem bewahre: «Der weise alte Mann auf dem Quirinalshügel ist ein Garant dafür, dass die Dinge nicht ganz aus dem ­Ruder ­laufen.»

Sie liegen ihm zu Füssen

Auch die Rom-Korrespondentin des Tages-­Anzeigers konnte sich dem Bann Napolitanos bei seinem Besuch in der Schweiz nicht entziehen. Der italienische Staatspräsident setze sich für eine ­liberalere europäische Flüchtlingspolitik ein und habe die grassierende ­Jugendarbeitslosigkeit wie kein anderer gegeisselt; er unterstütze «Bürgerinitiativen, die sich gegen die Macht der Mafia wehren». Vor allem aber fasziniere er durch seine Ausstrahlung: «Eine angelsächsisch anmutende Noblesse scheint das greise Staatsoberhaupt zu umwehen. Dabei stammt Napolitano aus dem chaotischen Neapel und war die meiste Zeit seines Lebens Kommunist.» Für jene Italiener, die Napolitano nichtkonstitutionelles Handeln vorwerfen, hat die Korrespondentin kein Verständnis. Napolitano sei «ein quick­lebendiges Stück europäischer Geschichte – voller Erfahrung, aber auch voller Elan».

In diesen Lobgesang mag Anderson nicht einstimmen. In seiner langen politischen Karriere sei ein Motiv für den sanft wirkenden Mann aus Neapel bestimmend gewesen: Opportunismus. Napolitano habe sich stets auf die Seite der jeweiligen Sieger geschlagen. Als Student trat er 1941 der faschistischen ­Jugendbewegung (Gioventù universitaria fascista) bei. Als der Faschismus besiegt war, schrieb sich Napolitano bei der Kommunistischen Partei Italiens ein, wo er rasch an Einfluss gewann.

Nachdem russische Panzer den Aufstand in Ungarn 1956 niedergeschlagen hatten, erklärte er am nächsten Parteikongress, die ­Sowjetunion habe mit ihrem entschlossenen Vorgehen die Ungarn vor dem Chaos und die Welt vor erneutem Krieg ­bewahrt. In den sechziger Jahren stimmte Napolitano für den Ausschluss von Parteimitgliedern, die gegen den Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in der damaligen Tschechoslowakei protestiert hatten.

Windungsreiche Bahn

Seine Skepsis gegenüber Grundwerten der ­liberalen Gesellschaft – allen voran Transparenz, Meinungsvielfalt sowie Kampf gegen Korrup­tion – sollte für ihn handlungsweisend bleiben. So setzte er sich im Sommer 2012 für die Einstellung einer Untersuchung gegen den Christdemokraten Nicola Man­cino ein. Mancino wurde verdächtigt, bei der Ermordung von Staatsanwalt Paolo Borsel­lino in Palermo eine Rolle gespielt zu haben. Als Borsellinos Bruder Salvatore die Aufhebung der Immunität Napolitanos forderte, stellten sich führende Politiker und die ­Medien schützend vor den Präsidenten.

In den siebziger und achtziger Jahren war Napolitano vor allem in Mailand politisch aktiv, wo er zusammen mit dem 1994 wegen Korruption zu 27 Jahren Gefängnis verurteilten Sozialisten und späteren Ministerpräsidenten Craxi die Zeitschrift Il Moderno herausgab. Auch zu Berlusconi, der das Organ massgeblich finanzierte, entwickelte sich bald eine enge Beziehung.

Als Napolitano 2006 Staatspräsident wurde, blieben die Bande zum «Cavaliere» ungetrübt. Noch 2008 unterzeichnete er das Lodo Alfano, einen Gesetzesentwurf, mit dem sowohl dem Ministerpräsidenten (Berlusconi) als auch dem Staatspräsidenten (Napolitano) Immunität vor Strafverfolgung zugesichert werden sollte. Das Gesetz wurde vom Verfassungsgericht für rechtswidrig erklärt.

Erst die Finanzkrise führte zum Bruch mit dem Premierminister und Medienmagnaten. Als Angela Merkel und Mario Draghi die Entmachtung Berlusconis beschlossen, stand ­Napolitano bereit, die Rolle des Vollstreckers zu übernehmen. Am 9. November 2011 wurde der ungewählte Mario Monti, damals Rektor der Bocconi-Universität, ehemaliger EU-Kommissar und wie Draghi einst auf der Lohnliste von Goldman Sachs, von Napolitano zum Senator auf Lebenszeit erklärt. Die internationalen Medien, allen voran die ­Finanzpresse, applaudierten.

Die von Napolitano orchestrierte Einsetzung Montis an der Spitze eines ungewählten Kabinetts, in dem Banker und Technokraten den Ton angaben, sieht Anderson als Beleg für das, was «demokratische Verfahren und Rechtsstaatlichkeit im heutigen Europa bedeuten».

Der korrupte und mit der Justiz auf Kriegsfuss stehende Berlusconi wurde vom Triumvirat Merkel/Draghi/Napolitano nicht etwa zu Fall gebracht, weil er sich der Korruption schuldig gemacht hatte; an unter Korruptionsverdacht stehenden Spitzenpolitikern herrscht in Europa bekanntlich kein Mangel, man denke nur an den spanischen Präsidenten Mariano Rajoy.

Was Berlusconi zum Verhängnis wurde, war vielmehr seine Unberechenbarkeit. Dass die Entmachtung verfassungswidrig war, wurde in Kauf genommen.

Bei Staatspräsident Napolitano dürfte der Vorgang kaum Gewissensbisse ausgelöst ­haben; denn bereits bei der schrittweisen Entkernung des nach dem Zweiten Weltkrieg installierten Verhältniswahlsystems hatte er eine wichtige Rolle gespielt. Wurde der ­Wahlproporz bereits mit der Verfassung der Zweiten Republik ab 1993 drastisch beschnitten, so droht ihm nun durch ein von Berlus­coni und dem neuen Ministerpräsidenten ­Renzi vorgeschlagenes Wahlverfahren – man spricht in Italien von Renzusconi – eine ­weitere Schwächung. Die politische Macht würde damit noch stärker als bisher bei der Regierung und den politischen Parteien konzentriert.

Gesamthaft hat die angebliche Stabilisierung Italiens im Zeichen der EU-Austeritätspolitik jene Kräfte gestärkt, denen die Aussicht auf eine starke Bürgerdemokratie schon immer Kopfzerbrechen bereitet hatte. Das Spannungspotenzial ist beträchtlich. Das Land befindet sich in einer tiefen Rezession; die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei vierzig Prozent; gleichzeitig wurde der Spielraum für demokratische Teilnahme in den letzten Jahrzehnten sukzessive heruntergefahren. Politologen betonen oft die Bedeutung effizienter checks and balances. Damit meinen sie jedoch ­selten die Beschränkung der Exekutivmacht durch die Bürger, sondern die verfassungs­mässige Beschneidung (direkt)demokratischer Instrumente. Das heutige Italien entspricht diesem Idealbild einer dezisionistisch zurechtgestutzten Republik in weiten Teilen.Perry Andersons Überlegungen sollten zu denken geben. Mit der in den deutschsprachigen Medien vorherrschenden Deutung der europäischen Verhältnisse sind sie kaum ­vereinbar. Die EU erscheint dort meist als ­legitimes Bollwerk gegen alles, was sich pauschalisierend dem Begriff des Populismus zuschlagen lässt. Ähnlich wie bei der Beurteilung Napolitanos herrscht auch hier weitgehende Übereinstimmung.

«Insel der Seligen»

In ihrer letzten Ausgabe ortete beispielsweise die Zeit eine Tendenz zur «Oligarchisierung» der Demokratie, vor allem in den USA und in Indien. Im Vergleich dazu sei Europa immer noch «eine Insel der Seligen», wobei der ­«nationale Populismus» die Demokratie zunehmend bedrohe. Auch in einem kürzlich im Tages-Anzeiger veröffentlichten Interview wird der Populismus als Hauptgefahr für die europäische Stabilität gesehen. Für den Spiegel teilt sich die europäische Öf­fentlichkeit gegenwärtig in «Freunde» und «Feinde» Europas. Weniger verkrampft und ent­sprechend aufschlussreicher ist da erwartungsgemäss Ulrich Schmid von der NZZ; zum moralischen Klima auf deutschen Redaktionen stellt er fest: «Europakritik, selbst die mildeste, wird in vielen politischen Feuilletons reflexartig als ‹emotional› gelesen», also als «unreif», «irrational» und «mithin verwerflich».

Perry Andersons Überlegungen sind kein Wasser auf die Mühlen pausbackiger Nationalisten. Ihr Gewicht gewinnen sie daraus, dass sie sich jenseits der gängigen, reflexartig abrufbaren Klischees bewegen, welche die Diskussion zu Europa beherrschen. Vor allem weist er nach, dass Italien nicht Europas Ausnahme darstellt, wie oft behauptet wird, sondern sein Spiegelbild. Im Originalzitat: «Ita­lien ist nicht eine ­Anomalie innerhalb Europas. Es ist eher ein Konzentrat davon.»