Volle 286 Millionen Stunden, so viel Zeit verbrachten die Fans der Netflix-Serie «Stranger Things» am Startwochenende der vierten Staffel mit dem Streamen der neuesten Episoden. Absoluter Netflix-Rekord. Wie hoch diese Zahl tatsächlich ist, wird einem jedoch erst bewusst, wenn man sie auf Jahre hochrechnet. Genau sind es 32 648. Das muss man sich einmal vorstellen.

Immerhin 37 Jahre alt ist der Song «Running Up That Hill» von Kate Bush, der es durch seinen Einsatz in der aktuellen Staffel der Serie erstmalig an die Spitze der britischen Charts schaffte. In Deutschland rangiert er derzeit auf Platz vier der Spotify-Charts. Das sagt sicherlich viel über die geistige und kulturelle Armut der heutigen Musiklandschaft aus, aber eben auch über eine Serie, die ihren Hype nicht nur einem tollen Ensemble, einer grandiosen Story und viel Spannung zu verdanken hat, sondern auch dem einzigartigen Charme der achtziger Jahre.

Die Wissenschaft würde jetzt sagen, dass das daran liegt, dass wir negative Ereignisse aus der Vergangenheit in unseren Erinnerungen streichen, weshalb wir uns im Nachhinein hauptsächlich an die schönen Dinge erinnern würden. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass die 1980er Jahre tatsächlich eines der besten Jahrzehnte überhaupt waren. Und das trotz Kaltem Krieg, Vokuhila und Dauerwelle.

Man ist retro und trotzdem moderner und freier als alles, was sich heute progressiv schimpft.

«Stranger Things», vermutlich auch deshalb nicht so bemüht woke wie andere Serien, weil man mit dem Anspruch angetreten ist, den Zeitgeist und das Gefühl eines Jahrzehnts zu transportieren, in dem es überhaupt noch keine Woke-culture gab, weckt selbst in jenen von uns, die die Achtziger gar nicht kennengelernt haben, eine Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Welt, abgesehen von Monstern und drohenden Rissen in der Erdkruste, noch in Ordnung war. Nein, nicht politisch gesehen, aber sicherlich was das eigene kleine Leben betrifft.

Eine Welt, in der es vor allem in Bezug auf die sich in der Serie anbahnende Katastrophe epischen Ausmasses sicherlich praktisch gewesen wäre, wenn es schon Smartphones gegeben hätte, die dafür aber um einiges echter und entschleunigter daherkommt. In der es keine virtuellen Selbstdarsteller, sondern noch echte Helden gibt und die eigene Lieblingsmusik einen anderen Wert hat, weil man sie a) teuer kaufen und b) jedes Mal auf Kassette zurückspulen muss. Wo tatsächlich jeder ein klar definierbares Geschlecht hat und der Fokus von Serien noch auf guter Unterhaltung statt krampfig woken Skripten liegt.

Stranger Things» beweist, dass eine Serie nicht woke sein muss, um vielfältig zu sein. Dass schwarze Schauspieler nicht per Quote zwanghaft irgendwo reingescripted werden müssen, um einen wichtigen Platz einzunehmen. Wenn sich teenagerliches Gefühlschaos wie bei Will Buyers wie selbstverständlich in die Story einfügt und man mit der lesbischen Robin mitfühlt, während sie ihren Schwarm aus der Ferne anschmachtet, dann ist Vielfalt plötzlich keine linke Propaganda mehr, sondern das, was es die ganze Zeit über sein sollte: etwas völlig Normales.

Mit «Stranger Things» ist den Duffer Brothers ein Meisterstück des neuzeitlichen Serien-Genres gelungen, das es schafft, den Ansprüchen des aktuellen Zeitgeists Rechnung zu tragen, ohne damit die Serie selbst zu zerstören. Man ist retro und trotzdem moderner und freier als alles, was sich heute progressiv schimpft.

Und so ist es wohl der Ironie des heutigen Zeitgeists geschuldet, dass ausgerechnet eine Serie, die sich «Stranger Things» nennt und in der es um Monster, sonstige übernatürliche Wesen und eine «Other Side» geht, mehr realness und Normalität versprüht als jeder woke Diversity-Quatsch der letzten Jahre von «Star Wars» bis «Bridgerton».

Zweifelsohne wäre es vor diesem Hintergrund ein wahrer Segen für die gesamte Streaming- und Filmlandschaft, wenn sich hier auch andere Autoren und Filmemacher eine gehörige Scheibe abschneiden würden. Das Rezept ist denkbar einfach: Unterhaltung vor Wokeness. Dann fügt sich alles von ganz allein. Vielleicht sollten künftig einfach alle Serien in diesem geil-normalen Jahrzehnt spielen. Oder: Wir übernehmen einfach mal wieder die Normalität der Achtziger und übertragen sie auf unsere Gegenwart. Dafür würde ich auch die Renaissance des Vokuhila in Kauf nehmen.