Im Pop-Universum ist eine bewundernswerte Konstellation erkennbar. Zu einer Zeit, in der aus heiterem Himmel ein neuer Beatles-Song fällt, wimmelt es auch sonst nur so von brillanter Musik. Einfach von einer glücklichen Fügung zu sprechen, griffe zu kurz. Man kann es auch so sehen: Pop wird immer besser. Er ist grenzenlos, bedient sich hemmungslos bei allen Musikrichtungen und verwandelt sie zu einem neuen Ganzen. Je mehr Genres es gibt, desto reichhaltiger und ausgeklügelter wird der durchschnittliche Popsong.

Konnten sich die Beatles schon von Klassik, Rock’n’Roll und Jazz inspirieren lassen, steht den heutigen Songschreibern und Sound-Ingenieuren eine bedeutend grössere Auswahl an neuen Stilen und technischer Unterstützung, diese zu analysieren, zur Verfügung. Der vielleicht Erste, der diesen eklektischen Ansatz zur Vollendung gebracht hatte, hiess Michael Jackson. Und im Zeitalter von künstlicher Intelligenz heisst das: Je mehr Informationen gesammelt werden können, desto höher wird die Qualität.

 

Doja Cat: Paint the Town Red

Wie gut das klingen kann, beweist im Moment Doja Cat. In ihrem Hit «Paint the Town Red» vom Album «Scarlet» verschmilzt die amerikanische Rapperin ihren rollenden Sprechgesang mit verblüffend eingängigen melodiösen Elementen. Man spitzt sofort die Ohren. Und blickt man auf die Entstehungsgeschichte des Stücks, reibt man sich die Augen: Unter anderem sind Burt Bacharach und Hal David als Komponisten angegeben. Diese schrieben in den sechziger Jahren Hits wie «Raindrops Keep Fallin’ on My Head» und auch «Walk On By» (1964) von Dionne Warwick. «Paint the Town Red» greift den Rhythmus und ein paar Melodienbrocken dieses Easy-Listening-Klassikers auf und lässt ihn hochmodern ertönen. Auf Junge wirkt «Paint the Town Red» deshalb magisch, während ältere Hörer ein unwiderstehliches akustisches Déjà-vu erleben.

Künstliche Intelligenz heisst: Je mehr Informationen, desto höher die Qualität.

 

Coi Leray: Players

Mit einer ähnlichen Vorgehensweise bastelte sich die 26-jährige Coi Leray aus Boston ihre Erfolgsnummer «Players» zusammen. Auf der Basis von «The Message» der Hip-Hop-Legenden Grandmaster Flash & the Furious Five (1982) rappt sie nun ihren eigenen Text. Ein paar Monate nach der Veröffentlichung brachte Leray gleich einen – schliesslich noch kommerzielleren – Remix von «Players» auf den Markt, den sie mit Busta Rhymes’ «Put Your Hands Where My Eyes Could See» (1997) abschmeckte. Der Song ist lustig und sorgt mit seinen einschlägigen Breakbeats sofort für Heiterkeit.

 

Stephen Sanchez: Until I Found You

Eine Popballade der Extraklasse schrieb Stephen Sanchez. Er kommt nicht nur aus dem kalifornischen El Dorado Hills, er klingt auch golden. Beim Hören von «Until I Found You» hat man partout das Gefühl, es müsse sich um ein Cover einer Produktion aus den fünfziger oder sechziger Jahren handeln. Der 21-Jährige hat das Stück aber selber komponiert. Ursprünglich im Jahr 2021 veröffentlicht, schaffte es im Duett mit Em Beihold den grossen internationalen Durchbruch 2023.

Auch der Rest von Sanchez’ Debütalbum «Angel Face», das im Herbst erschien, ist hörenswert. «Until I Found You» ragt aber dermassen heraus, dass der Schnulzenkönig schlechthin, Elton John, bei seinem geschichtsträchtigen allerletzten Auftritt am Glastonbury-Festival im Sommer das Lied in sein Programm aufnahm und es zusammen mit Sanchez vor 100 000 Fans und 7,3 Millionen Fernsehzuschauern vortrug.

 

Dua Lipa: Houdini

Als der britische Superstar Dua Lipa im Mai «Dance the Night» veröffentlichte, ahnte man noch nicht, dass die 28-Jährige bereits im November einen noch besseren Song nachlegen würde: «Houdini», eine charmante Hommage an den berühmten amerikanisch-ungarischen Zauberer Harry Houdini (1874–1926). Der Refrain mit den Worten «Catch me or I go Houdini» setzt sich sofort im Ohr fest; das ganze Stück ist ein Radio- und Disco-Hit von entfesselnder Verspieltheit.

Zwischendurch blitzten in den letzten Monaten immer wieder auch neue Hits von den anderen ganz Grossen im Geschäft, Taylor Swift (u. a. «Karma»), Miley Cyrus («Flowers», «Used to Be Young») oder Beyoncé («Cuff It»), am Pophimmel auf. Die drei Frauen bestätigen damit eindrücklich, weshalb es sich bei ihnen nicht um abstürzende Eintagsfliegen handelt; die Songs sind einfach zu gut gemacht. Olivia Rodrigo, 20, seit ihrem Corona-Hit «Drivers License» eine der jüngsten Pop-Prinzessinnen, trifft mit ihrer abgeklärt-rockigen Single «Bad Idea, Right?» ebenfalls ins Schwarze.

 

SZA: Kill Bill

Die Frau der Popstunde heisst aber SZA. In der Rap-Szene schon etwas länger bekannt, beförderte sich die 34-jährige Amerikanerin mit dem Album «SOS» Anfang Jahr mitten in den Mainstream. Zu verdanken hat sie das vor allem der Nummer «Kill Bill». Die melancholische, melodisch an ein Schlaflied angelehnte Mörderballade mit explosivem Text stürmte weltweit die Hitparaden. Ein solcher Wurf gelingt auch Superstars nur selten. SZA, ausgesprochen Sisa, hat bei den Grammy Awards im Februar gute Chancen auf eine Auszeichnung für das beste Album.

Das Bonmot «Gut Ding will Weile haben» gilt auch für Qualitätspop.

 

Miguel: Sure Thing

Das Bonmot «Gut Ding will Weile haben» kann auch für Qualitätspop gelten. 2010 brachte der Kalifornier Miguel, heute 38, sein Album «All I Want Is You» heraus. Darauf befand sich ein Stück namens «Sure Thing», das bereits damals in Amerika ziemlich erfolgreich war. Die chinesische Social-Media-Plattform Tiktok, seit 2018 weltweit aktiv, verhalf «Sure Thing» jetzt aber zu einem grandiosen Comeback, und der Song wurde auch international bekannt: 2023 überstieg er über zehn Jahre nach der Veröffentlichung alle früheren Chart-Platzierungen. «Sure Thing» wird dem alternativen R ’n’ B zugeordnet, verbreitet eine coole Stimmung und verfügt über eine enorm griffige Struktur. Die soulige Rap-Perle funkelt ab dem ersten Ton.

 

Kenya Grace: Strangers

Mitreissend und bloss ein paar Monate alt ist der Song «Strangers» von der südafrikanisch-britischen Newcomerin Kenya Grace. Ihre feine Stimme steht in wunderbar schwebendem Kontrast zur trancehaften Drum-’n’-Bass-Instrumentalisierung. Grace hat den Dreiminüter selbst geschrieben und produziert. Sie begann ihn Ende Juli auf Tiktok zu bewerben. Im September veröffentlichte sie den Song offiziell, und er wurde schnell die Nummer eins der britischen Hitparade; in der Schweiz landete er auf dem zweiten Platz. Es ist der erste Hit der 25-Jährigen. Ihr Album soll in diesem Jahr erscheinen.

 

Rema und Selena Gomez: Calm Down

Eines der meistgehörten Stücke der letzten Zeit gelang Rema. Auch anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung spielen die Radiostationen sein «Calm Down» noch immer wie verrückt. Schützenhilfe für den exzellenten Remix erhielt der 23-jährige Nigerianer vom amerikanischen Pop- und Hollywoodliebling Selena Gomez. «Calm Down» gilt als erfolgreichster Afrobeat-Song überhaupt. Seine Qualität liegt im gnadenlosen Rhythmus und der unheimlichen Spannung, die er vom ersten Klang bis zum Schluss halten kann. Spielt der DJ im Klub den Song an, springt der Funke augenblicklich auf die Besucher über, und die Leute können nicht anders, als zumindest mitzuwippen. Auch nach 83 Wochen hält sich «Calm Down» noch in der Schweizer Hitparade, derzeit belegt das Lied Platz 50.

 

The Beatles: Now and Then

Die Beatles sind die Band mit der längsten Zeitspanne zwischen ihrem ersten und letzten Nummer-eins-Hit. Alles begann im Jahr 1964, vor 59 Jahren, mit «I Want to Hold Your Hand». «Now and Then», der zu Beginn erwähnte, vielleicht allerletzte Beatles-Song, der im November 2023 mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, aber auch mit jener der verbliebenen Mitglieder Paul McCartney und Ringo Starr die Spitze der Charts erklomm, markiert zugleich auch einen wunderbaren Poprekord.