Es rumort nicht erst seit gestern in der russischen Seele. Auch ist der Überfall auf die Ukraine mehr als unverdaute Reichsnostalgie. Die Aussenwahrnehmung des Liberalismus als Nährboden für Dekadenz, Zerfall und Niedergang mobilisiert breite Schichten der russischen Bevölkerung, und das gesellschaftlich, politisch und religiös. Die Verfechter der «Russischen Welt» mögen mit ihrem Konstrukt geopolitische Ansprüche legitimieren, etwa den an die Nato gerichteten Warnruf: «Hände weg!» Doch die Wurzeln des Konflikts liegen tiefer, tiefer als Marx und Lenin, als Kapitalismus und Kommunismus.

Vorläufer des Liberalismus als Antipode russischen Selbstverständnisses ist der Katholizismus der frühen Neuzeit, verkörpert im polnisch-litauischen Staat, dem Angstgegner des 16. und 17. Jahrhunderts. Bollwerk des russischen Widerstands war die orthodoxe Kirche, deren Repräsentanten das Moskauer Fürstentum im 16. Jahrhundert, nach dem Fall von Byzanz, zum «dritten Rom» erhoben, zur Siegelbewahrerin der antiken europäischen Zivilisation (nach Rom und Konstantinopel).

Putin, Kyrill und das «dritte Rom»

Diese Selbstüberhöhung (und Selbstüberschätzung) war von Anbeginn an mehr kultureller als politischer Natur. Auch noch 400 Jahre später wirkt sie fort. Während der europäische Westen die liberalen Werte als universal postuliert (und verabsolutiert), versteht die russische politische Klasse sich weithin als Hüterin des «eigentlichen» europäischen Wesens. Nur dass als Angstgegner, eine Folge der fortschreitenden Entchristianisierung des westlichen Europas, inzwischen der Liberalismus fungiert.

Im Jahr 2022 stehen zwei Männer wie Galionsfiguren für diese Konfrontation: der russische Präsident und sein oberster Kirchenmann, Patriarch Kyrill I., mit Geburtsnamen Wladimir Gundjajew, Jahrgang 1946. Dessen Vater war einfacher Priester in Leningrad; Ende 1952 soll er Wladimir Putin getauft haben. Was allerdings für die Karriere des Sohns irrelevant war: Priesterweihe 1969, erste Stationen im diplomatischen Dienst der russisch-orthodoxen Kirche, nach 1986 viele Jahre als Bischof in Kaliningrad (Königsberg), 1991 Metropolit, seit 2008 Patriarch der mächtigsten orthodoxen Kirche weltweit.

Wie Putin war Kyrill dem KGB verpflichtet; die sowjetische Organisation hatte ihr Spähernetz über den gesamten Klerus geworfen. Wie bei Putin vermischt sich bei Kyrill der Dienst am Staat mit dem Dienst am eigenen, russischen Exzeptionalismus, der in Vorstellungen wie der «Russischen Welt» oder dem «dritten Rom» seinen Ausdruck findet. So gesehen, waren die artifiziell-atheistischen Jahrzehnte der kommunistischen Herrschaft wenig mehr als eine exzeptionelle Variante des europäischen Sprungs in die Moderne.

Flair für teure Uhren

Für beide Männer ist die Affinität zur Staatssicherheit gleichbedeutend mit dem Bestreben, ausländische Einflüsse bestenfalls selektiv zuzulassen – ein uraltes Motiv russischer Politik. Und zyklisch: Auf die weltanschauliche Willkommenspolitik der 1990er Jahre folgt eine lange Phase der Abwendung und Ablehnung. Während die westlichen Gesellschaften die individuelle Selbstbestimmung, nicht zuletzt in sexueller Hinsicht, kulturell kanonisieren, orientiert sich eine breite Mehrheit der Russen an den kollektivistischen Wurzeln der Tradition. So streicht das westliche Demokratieverständnis die Rechte von Minderheiten heraus, während in der russischen Gesellschaft der Wille der Mehrheit im Mittelpunkt steht.

Jetzt, im 21. Jahrhundert, zerstört der geopolitische Bekenntniszwang ganze Länder und Existenzen.

In diesen Punkten ist der Patriarch Partei. Wenn er gegen Gay-Paraden lästert, LGBT verteufelt und den Schutz der Familie aus Vater, Mutter und Kind fordert, weiss er den Beifall auf seiner Seite. Schon 1990 hat seine Kirche ihn zum Vorsitzenden einer Kommission zur Wiederbelebung religiös-moralischer Erziehung und Wohltätigkeit gemacht. Seither suchen Staat und Kirche ganz offen nach Wegen, vor allem die junge Generation gegen den westlichen (Un-)Geist zu immunisieren.

Patriarch Kyrill schlägt dabei nicht wenig Kritik entgegen. Auch die russische Gesellschaft ist gespalten, wenngleich umgekehrt proportional zur westlichen. Der 25-fache Ehrendoktor und 6-fache Ehrenprofessor ist den Verlockungen der Materie nicht abgeneigt. Bis heute unvergessen ist der Skandal um ein Foto des Patriarchen mit einer angeblich 30 000 Franken teuren Uhr der Marke Breguet am Handgelenk. Ein Mitarbeiter liess das schöne Stück 2012 per Photoshop verschwinden. Leider hatte der eifrige Retuscheur das Spiegelbild auf der polierten Tischplatte übersehen. Spott und Häme folgten auf dem Fusse.

Glaubt man den Kritikern, so ist die Breguet eine Petitesse. Auch Schweizer Medien sagen Kyrill eine ganze Uhren-Sammelleidenschaft nach, desgleichen millionenschweren Immobilienbesitz, darunter ein Chalet im Kanton Zürich, die Liebe zum Skifahren, zum Wasserski und zur Hundezucht – insgesamt ein Vermögen von vier Milliarden Franken. Das will die seit dem Ukraine-Krieg verbotene Moskauer Zeitung Nowaja Gaseta herausgefunden haben.

Nun wird bei innerrussischen Korruptionsschlachten nicht mit Schlamm gespart. So entpuppt sich die Jacht, die der Patriarch sein eigen nennen soll – Ausgeburt des Hedonismus –, als schmuckes 32-Meter-Schiff, das bereits unter Kyrills Vorgänger von der Präsidialverwaltung auf die Kirche übertragen wurde. Seither ist sein Heimathafen die Insel Walaam mit dem gleichnamigen Kloster im Ladogasee. Der Patriarch, der dort eine Residenz besitzt, nutzt die russischen Wasserstrassen für Besuche seiner Bistümer. Wie oft der beleibte 75-Jährige auf dem Ladogasee Wasserski fährt, entzieht sich der Kenntnis des Chronisten.

Kirchenspaltung in der Ukraine

Der Vorwurf der Bereicherung begleitet die christliche Kirche seit der Antike; man wird also von dem Versuch Abstand nehmen, diesen konkreten Patriarchen reinzuwaschen. Wichtiger als seine moralischen Qualitäten ist ohnehin seine politische Bedeutung, und Kyrill ist ein politischer Patriarch. Ob er dabei erfolgreich ist, steht auf einem anderen Blatt. Wie der russische Präsident hat er die auf Distanz bedachten Ukrainer nachhaltig antagonisiert. Bis zur ersten ukrainischen Unabhängigkeit 1918 waren die orthodoxen Kirchen im Kaiserreich ausschliesslich Moskau untertan. 1992 kam es dann endgültig zur Spaltung und Ausrufung zweier ukrainisch-orthodoxer Kirchen: Kiewer Patriarchat und Moskauer Patriarchat.

Die nun entstandene Rivalität verschärfte sich nach der orangen Revolution 2004/05 und ein weiteres Mal nach 2014. Gleichzeitig illustriert der Konflikt, wie gering sich die mitunter äusserst scharfen Auseinandersetzungen der ukrainischen Politiker (und Kirchenpolitiker) in der Bevölkerung niederschlagen. Noch 2018 war es einem Drittel egal, ob es eine eigenständige und vom Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel anerkannte ukrainische Kirche gibt oder nicht. Der Grad des Verlangens folgte den üblichen Linien: In der Ostukraine waren 14 Prozent dafür, im Westen über 60 Prozent.

Trümmer der eigenen Politik

Anfang 2019 erkennt das in Istanbul residierende orthodoxe Oberhaupt Bartholomäus I. das Kiewer Patriarchat als autokephal, also eigenständig, an. Für Kyrill ist es ein herber Schlag. Seither existieren in der Ukraine die Strukturen zweier Patriarchate. Hunderte von Gemeinden bekennen sich zu den Kirchenoberen in Kiew, andere bleiben den Moskauer Hirten treu. Auf dem Land wissen die Gläubigen oft gar nicht, welchem Patriarchat ihr Sprengel angehört. Die Schlussfolgerung bestätigt sich: Ob Sprache, Ethnie oder Religion – im europäischen Dazwischen haben zahllose Generationen mehr oder minder problemlos mit fluiden Identitäten gelebt. Jetzt, im 21. Jahrhundert, zerstört der geopolitische Bekenntniszwang ganze Länder und Existenzen.

Mit dem russischen Einmarsch im Februar 2022 gewinnt der Konflikt eine völlig neue Qualität. Patriarch Kyrill macht aus seiner Unterstützung für Putins Kriegsziele kein Geheimnis. Er spricht vom «metaphysischen Bösen», beschwört den Sieg über den deutschen Faschismus und fordert die russischen Truppen auf, ihr Leben für ihren Eid hinzugeben. Gleichzeitig zerstört der russische Angriff Gotteshäuser, auch solche des Moskauer Patriarchats. In der Ukraine, aber auch in der eigenen Kirche in Russland erhebt sich lautstark Widerspruch. Ukrainische Priester und Mönche, vor dem russischen Angriff noch Parteigänger des Moskauer Patriarchats, beten jetzt für den ukrainischen Sieg.

Wenn der Krieg irgendwann zu Ende geht, steht Kyrill vor den Trümmern seiner Politik. Den Anspruch der «Russischen Welt», die Völker des einstigen Imperiums in kulturell-politischer Loyalität zu einen, haben Putin und sein Patriarch gemeinsam und dauerhaft verwirkt.