Geht es um das Thema Bildung und Erziehung, ist sie eine der bekanntesten Stimmen im Land. Und eine, die auch unangenehme Tatsachen anspricht und sich nicht hinter dem üblichen Fachjargon versteckt. Wir treffen Margrit Stamm, emeritierte Professorin der Universität Freiburg, in ihrem Büro in der Berner Altstadt. Die zierliche Frau mit dem auffallenden Schlangen-Tattoo auf dem Handrücken hat vor ein paar Jahren ihr eigenes Forschungsinstitut in Bern aufgebaut: Familie, frühkindliche Bildung, Chancengerechtigkeit sind die grossen Themen, die sie beschäftigen und zu denen sie regelmässig publiziert. Ihr Lebensweg hätte auch ganz anders verlaufen können: Margrit Stamm heiratete früh, ihr Mann war als Arzt, Militärpilot und Jäger viel unterwegs, sie kümmerte sich einige Jahre lang um die beiden Kinder und den Haushalt – und war dabei nicht immer nur glücklich. Erst später begann sie, ihre beruflichen Pläne zu realisieren. Für die häufig überzeichneten Probleme der heutigen Frauengeneration hat die Erziehungswissenschaftlerin nur begrenztes Verständnis, dafür immer mehr für die Anliegen der oft geringgeschätzten Väter. Mit diesem Thema befasst sich auch ihr neues Buch, das Anfang August erscheinen wird: «Neue Väter brauchen neue Mütter».

 

Vor kurzem machte ein Foto einer Zürcher Schulklasse die Runde, in der achtzehn von neunzehn Kindern Ausländer sind. Viele Schweizer Eltern dürften sich für ihren Nachwuchs eine andere Klassenzusammensetzung wünschen. Direkt gefragt: Wie viele Ausländer verträgt es in einer Klasse?

Die Forschung zieht die Grenze mehrheitlich bei einem Ausländeranteil von 50 Prozent. Es gibt aber auch Studien, die bereits 30 Prozent als Maximalgrösse ansehen, damit einheimische, also deutschsprachige Kinder auch noch vom Schulunterricht profitieren können. Nach meiner Erfahrung ist die Ausländerfrage aber nicht unbedingt von Prozenten abhängig. Vielmehr können schon einzelne Schüler Probleme machen, kulturelle Konflikte untereinander austragen und für eine negative Dynamik innerhalb der Klasse sorgen, welche die einheimischen Kinder runterzieht.

In Deutschland ist der Ausländeranteil in den Schulen ein Riesenthema, es wird über eine Obergrenze pro Klasse diskutiert. Wäre das auch ein Weg für die Schweiz?

Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Obergrenze in der Praxis funktionieren kann. Klar ist aber, dass die Integration auch für Schweizer Schulen eine enorme Herausforderung darstellt. Gerade jüngst wurden schweizweit Lehrerinnen und Lehrer befragt, womit sie am meisten zu kämpfen hätten. An erster Stelle wurde die Umsetzung des Lehrplans 21 genannt, an zweiter Stelle die Integration. Doch die Probleme werden heute leider nicht klar angesprochen, es wird viel schöngeredet.

Die Volksschule wurde immer dafür bewundert, dass sich in ihr die sozialen Klassen durchmischen. Mein Eindruck ist allerdings, dass es immer mehr «Ausländerschulen» und «Schweizerschulen» gibt, da gut ausgebildete Eltern häufig in teurere Quartiere umziehen, sobald die Kinder eingeschult werden.

Diese soziale Entmischung findet statt, das ist eine Tatsache. Dabei ist es nicht immer nur allein der Ausländeranteil, der bildungsorientierte Eltern zu einem Umzug bewegt. Häufig wollen sie dem Kind einfach eine möglichst ideale Umgebung bieten und es mit Klassenkameraden zusammenbringen, die aus demselben privilegierten Milieu stammen. Die Segregation spielt sich aber auch in die andere Richtung ab: Nicht nur die ambitionierten Eltern ziehen sich in ihre Quartiere zurück, sondern auch die verschiedenen ausländischen Ethnien. In den einen Hochhäusern wohnen die Albaner, in den anderen die Serben und dort die Eritreer. Das führt dann beispielsweise zum sogenannten Sommerloch-Effekt: Verbringen die Kinder mehrere Ferienwochen in «ihrem» Hochhaus mit Leuten einzig aus ihrem Kulturkreis, verlieren sie einen Gutteil der erworbenen Kenntnisse. Die Lehrer müssen mit diesen Kindern im August praktisch wieder von vorne beginnen.

Was soll man tun, damit solche Kinder nicht komplett abgehängt werden?

Ein Patentrezept gibt es nicht. Migrantenfamilien müssen sicher stärker zur Einhaltung der hiesigen Regeln verpflichtet und ihre Kinder besser betreut und gefördert werden. Im Ausland Geborene machen einfach zu wenig Fortschritte, das zeigt auch der neue Bildungsbericht.

Warum setzen sich viele ausländische Familien nicht stärker für das Fortkommen ihrer Kinder ein? Warum muss das zur Staatsaufgabe werden?

Wie es in gewissen Familien zugeht, ist für uns schlicht unvorstellbar. Es gibt Eltern namentlich aus afrikanischen Ländern, die beschäftigen sich nicht mit ihren Kindern, ja reden nicht einmal mit ihnen. Sie lassen sie den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen oder mit dem Handy spielen. Solchen Eltern muss man zuerst einmal zeigen, was in der Schweiz von ihnen erwartet wird. Handkehrum gibt es aber auch viele positive Beispiele von Migrantenkindern, die von ihren Familien stark unterstützt werden, die strebsam und erfolgreich sind – denken Sie an die Asiaten.

Für die erfolgreiche Integration und die Chancengerechtigkeit unter den Kindern brauche es mehr frühkindliche Bildung, ist häufig zu hören. Was halten Sie davon? Ist es wissenschaftlich erwiesen, dass Kindertagesstätten (Kitas) förderlich sind?

In der Forschung ist man sich einig, dass sehr, wirklich sehr benachteiligte Kinder aus eigentlichen Risikofamilien von einer frühen auswärtigen Betreuung profitieren und diese ihnen zu einem guten Lebensweg verhilft. Doch schon bei der Gruppe jener, die in einem häuslichen Umfeld aufwachsen, das nicht speziell förderlich ist, sind die Ergebnisse sehr unterschiedlich. Solche Kinder profitieren zwar ein bisschen von der Kita, machen aber nicht die Fortschritte, die man von ihnen erwartet. Und sämtliche Untersuchungen zeigen, dass gutsituierte Kinder immer einen Vorsprung haben – und zwar in erster Linie wegen der häuslichen Förderung, nicht wegen des Besuchs einer Krippe.

Dann ist die Forderung nach einem Ausbau der frühkindlichen Bildung, wie sie derzeit im Bundesparlament diskutiert wird, also ohne wissenschaftliche Grundlage?

Nicht ohne, aber die Grundlage ist einseitig. Es ist empirisch in keiner Weise nachgewiesen, dass die Kita für «Startchancengleichheit», für «Bildung für alle» sorgt, wie euphorisch behauptet wird. Durch einen Kita-Besuch kann man keine Nachteile wirklich ausgleichen. Die Familie hat eine viel grössere Wirkung auf das Kind als jede Krippe, selbst wenn diese ihre Arbeit vorzüglich macht.

Die Frage, wie man Familie und Beruf unter einen Hut bringen kann, ist ein Dauerbrenner. Wo sehen Sie die grössten Schwierigkeiten für berufstätige Eltern?

Eine Familie gibt sehr viel zu tun, das ist nicht zu ändern. Selbst wenn ein Kind bis abends fremdbetreut ist, muss die Mutter, der Vater dann noch kochen, sich um das Kind kümmern, die Post erledigen und so weiter – das ist viel Arbeit, und zwar über Jahre hinweg. Darüber redet man nicht gerne. Sicher, man kann die Kita-Öffnungszeiten verlängern oder noch mehr Krippenplätze subventionieren. Ich fände es allerdings zukunftsträchtiger, wenn wir neue Lebensmodelle suchen würden, die es den Eltern erlaubten, Karriere und Familienphase zeitlich zu trennen. Es sollte doch möglich sein, zwischen dreissig und vierzig Jahren mehr Zeit für die Familie zu haben und mit 45 oder fünfzig, wenn die Belastung zu Hause abnimmt, beruflich noch vorwärtszukommen.

Das entspricht aber nicht dem «Ideal» der Vollzeit arbeitenden Mutter, wie es jüngst auch von der Chefin des Eidgenössischen Gleichstellungsbüros propagiert wurde.

Das Vollzeitmodell darf nur eine Möglichkeit unter anderen sein. Will eine Mutter Vollzeit arbeiten, braucht sie erstens eine unerhörte psychische Stärke – ich selber hätte diese nicht gehabt –, und zweitens müssen die Kinder einigermassen pflegeleicht sein und dieses Leben mitmachen.

In der Debatte um Kinder und Beruf stehen immer noch die Frauen im Mittelpunkt – trotz jahrzehntelanger Gleichstellungsarbeit. Ist das nicht erstaunlich?

Für Mütter ist die Situation heute tatsächlich schwieriger als für Väter. Sie haben trotz Beruf und Karriere sehr hohe Verpflichtungsgefühle dem Kind gegenüber, und zwar in einem Mass, wie das frühere Frauengenerationen nicht hatten. Die Bedürfnisse des Kindes stehen an erster Stelle, und wenn es mit dem Kind Probleme gibt, suchen die Mütter die Schuld bei sich. Diese Haltung, dieser «Mama-Mythos», der durch Freunde, Erziehungsratgeber und Fachleute angeheizt wird, steht quer zur Emanzipation und zur weiblichen Berufstätigkeit.

Ist diese Fixierung aufs Kind eine Folge des schlechten Gewissens, das viele berufstätige Mütter haben?

Nicht nur. Mütter, die nicht auswärts arbeiten, wollen dem Umfeld ebenfalls beweisen, dass sie es besonders gut machen und ihr Entscheid, zu Hause zu den Kindern zu schauen, richtig ist. Nicht wenige Mütter, die so in ihren Kindern aufgehen, haben es schwer, eine erfüllte Partnerschaft zu leben. Auch für die Kinder ist es nicht gut, wenn sie dauernd im Mittelpunkt stehen und verherrlicht werden.

War das in den 1950er, 1960er Jahren, als die soziale Kontrolle viel grösser war, nicht auch schon so?

Eine Frau musste damals in erster Linie dem Ehemann den Rücken freihalten und ihre Qualitäten als Hausfrau beweisen – beispielsweise einen tollen Parkettboden präsentieren können. Doch ihre Aufgabe war nicht ausschliesslich auf das Kind ausgerichtet, wie das heute der Fall ist. Eine Mutter braucht ein grosses Selbstbewusstsein, um sich diesem Druck zu entziehen.

Wo bleiben heute eigentlich die Väter? Welche Rolle spielen sie in der Familie?

Eine viel grössere und wichtigere, als man ihnen gemeinhin zugesteht. Auch traditionelle Väter tragen sehr viel zur Familie bei, in erster Linie mit ihrem Lohn, aber auch, indem sie sich um die längerfristigen Anschaffungen kümmern, für Steuererklärungen, Versicherungen und so weiter zuständig sind. Der pauschale Vorwurf, Väter seien zu Hause faul, ist nicht gerechtfertigt. Kommt hinzu, dass die Mütter den Vätern oft Grenzen setzen, wenn sie sich zu Hause vollwertig engagieren möchten.

Sie verteidigen das Revier?

Genau, die Mütter behandeln den Mann oft wie einen Junior-Partner und sagen ihm, wie er Haushalt und Kinder besorgen soll. Sie möchten zwar, dass der Mann ihnen irgendwie zur Seite steht, aber er soll ihnen nicht ebenbürtig sein.

 

Margrit Stamm: Neue Väter brauchen neue Mütter – Warum Familie nur gemeinsam gelingt. Piper. 304 S., Fr. 32.90