Ich habe geschrien und für einmal meine noble Zurückhaltung verloren. Es war bei Etappe acht, und der Jubel galt dem grandiosen Wout van Aert. Tja, das sind eben nicht die Velofahrer, die einem tiefenentspannt mit E-Bike und ohne eine Schweissperle auf dem Pass oben entgegenkommen. Das sind jene, die uns mit ihrer Hingabe den Atem rauben. Ich habe die Tour de France geschaut.

Ein Novum, denn ich hielt Radrennsport stets für die populäre unter den unpopulären Sportarten, nun wurde ich über Nacht zum Fan – einer Netflix-Doku sei Dank –, seither fiebere ich mit. Info-Box für Anfänger: Die Tour de France hat jedes Jahr eine neu festgelegte Strecke durch wunderschöne Landschaften, 21 Etappen, meistens zwischen 120 und 200 Kilometer täglich, knapp 3500 insgesamt während dreier Wochen, unter anderem flach, hügelig, Gebirge. Zuschauer warten stundenlang am Streckenrand, um die Fahrer während fünf Sekunden zu Gesicht zu bekommen.

In solchen Momenten rasen dann 352 rasierte Beine vorbei, die sich mehr oder weniger im Gleichschritt in die Pedale werfen. Mit flach gehaltenem Oberkörper und nach unten gesenktem Kopf, weil sie in der Stellung nicht nur in der Lage sind, den Wind zu brechen, sondern, da bin ich mir sicher, auch auf Wasser zu fahren.

Seit ich die Tour schaue, erscheinen die Laien-Radrennfahrer auf der Strasse in ganz anderem Licht.

Ihre Körper, die ganz offensichtlich nur aus Beinmuskeln und roten Blutkörperchen bestehen, sind verschmolzen mit hautengen Trikots, und dass sie nicht davongeblasen werden, wenn sie in Wind geraten, ist wohl einzig der Tatsache geschuldet, dass sich die Fahrer an ihren Rädern festhalten. Radrennfahrer sehen aus, wie ich mir humanoide Roboter vorstelle, und ich glaube, sie atmen aus Effizienzgründen nur bei ebener Fahrt, also bei einer Geschwindigkeit von etwa 50 km/h, denn da entspannen sie. Noch mal: Sie entspannen, während sie einen Affenzahn draufhaben und seit einer ganzen Weile schon täglich eine Strecke ähnlich Zürich–Lugano radeln, mit gerade mal zwei Ruhetagen. Radrennfahrer haben tatsächlich teilweise einen Ruhepuls von unter vierzig.

Seit ich die Tour schaue, erscheinen die Laien-Radrennfahrer-Grüppchen auf der Strasse in ganz anderem Licht. Auffallend sind ihre in der Sonne blitzenden Räder. Radrennfahrer sind besessen von ihren Fahrrädern. Sie verbringen wahrscheinlich mehr Zeit damit, ihre Velos zu optimieren, als mit ihrer Familie. Dass sie ihre Räder nachts mit ins Bett nehmen und in den Schlaf streicheln, halte ich für kein Gerücht. Die Räder sind fast so teuer wie ein Kleinwagen – und oft besitzen sie so viele Räder wie unsereins T-Shirts.

Dass sie Radrennfahrer sind, dokumentieren auch ihre Socken. Das sind niemals irgendwelche Socken, sondern Markensocken, versehen mit gut sichtbarem Topmarken-Logo, wobei der Abstand zwischen Schuh und Knie von grosser Wichtigkeit ist; sie dürfen nicht zu weit nach unten reichen, nicht zu weit nach oben, müssen ganz genau in der Mitte des Schienbeins klemmen und sind farblich mit dem restlichen Tenue abgestimmt. Von Insidern habe ich mir sagen lassen, dass das Outfit am Abend zuvor mit den Fahrkollegen abgesprochen wird: «Kurz kurz oder kurz lang?»

Ein weiteres Merkmal ist ihre Schachbrettmuster-Bräune, die sie mit einer verständlichen Portion Stolz tragen, zeigen die Tan-Linien doch am Ende des Sommers, dass sie zu jenen gehören, die den Radsport ernsthaft betreiben. Und dann gibt es noch ihre Obsession mit allem, was leicht ist. Sie schneiden alles nicht absolut Notwendige von ihren Rädern, ihrer Kleidung und ihrem Haar ab, weil sie glauben, dass durch das Weglassen einer Faser die Chance, Lichtgeschwindigkeit zu fahren, steigt. Wenn sie könnten, würden sie zwecks Sicherstellung maximaler Wirkkraft nackt radeln.

Radrennfahrer sind ein eigenes Völkchen. Wie sie sich durch endlose Kilometer und harte Anstrengung quälen, ist bewundernswert – und lässt auch Sportarten wie Fussball anders aussehen, der dagegen wie ein Kaffeekränzchen unter Rentnern wirkt. Sie zeigen, dass es auf dem Velo noch mehr gibt als nur gemütliche Ausflüge oder Bergtouren mit Trethilfe. Am Sonntag endet die Tour de France. Vielleicht gönnt sich der eine oder andere Fahrer dann ja einen Wurstsalat mit Pommes frites statt Proteinriegel, und sei es nur, damit er nicht vergisst, was Menschen manchmal so essen.