Dunedin, Florida

Für amerikanische Linke war Donald Trumps Wahlniederlage eine erstaunlich bittersüsse Angelegenheit. Man behauptete zwar, er sei die grösste Gefahr für die amerikanische Demokratie seit dem Zweiten Weltkrieg, insgeheim aber schätzte man sich glücklich, denn Trump war so toxisch, dass der korrupte, langweilige, senile Joe Biden vielen Amerikanern als akzeptabel erschien. Nach Trumps Niederlage hatte die Linke ein Problem. Man beschäftigte sich immer noch mit ihm, aber man wusste, dass ein neuer Bösewicht notwendig war, den man dämonisieren konnte. Und hier kommt Ron DeSantis ins Spiel, der Gouverneur von Florida.

Dass er Linken einmal als republikanischer Buhmann dienen könnte, hätte noch vor wenigen Jahren für Erstaunen gesorgt. In drei Legislaturperioden als Kongressabgeordneter tauchte Ron DeSantis, 44, kaum in den Nachrichten auf, man sagte ihm mangelndes Charisma nach. 2018 wurde er mit einer hauchdünnen Stimmenmehrheit von 0,4 Prozent zum Gouverneur von Amerikas grösstem Bundesstaat gewählt.

Doch dann avancierte er während der Pandemie wegen seiner wirtschaftsfreundlichen Art und seiner lautstarken Kritik an Corona-Einschränkungen, Masken- und Impfpflicht zu einer nationalen Figur – Held für die Rechten, Buhmann für die Linken. Die Medien bezeichneten ihn als «wissenschaftsfeindlich» und gaben ihm den Namen «DeathSantis», weigerten sich aber weiterhin, mit altersspezifischen Corona-Mortalitätsraten zu arbeiten, die zeigten, dass Florida die achtzehntbeste Performance von fünfzig Bundesstaaten aufwies, obwohl dort kein Lockdown verhängt wurde.

Vehement gegen Wokeness

Während Schüler in manchen Staaten fast zwei Jahre lang nicht zur Schule gehen konnten, gab es für die Kids in Florida zu Beginn der Pandemie nur zwei Monate Online-Unterricht. Florida wurde, je nach politischem Standpunkt, ein Symbol für Freiheit oder Diktatur. Jedenfalls führte DeSantis seinen Wahlkampf unter dem Motto «Florida bleibt frei». Er wandte sich vehement gegen Wokeness und attackierte die Linken und ihre Verbündeten in den Medien bei allen möglichen Themen – von illegaler Einwanderung über Bildung bis hin zur LGBT-Agenda.

Wer die Berichterstattung über Ron DeSantis und die vielen Kontroversen um seine Person hauptsächlich in den amerikanischen und internationalen Medien verfolgt hat, wird ihn fälschlicherweise für einen Extremisten halten. So dürfte kaum jemand wissen, dass er sich als Naturschützer nach dem Vorbild von Teddy Roosevelt sieht und dass er als Kritiker der mächtigen Zuckerwirtschaft in Florida hervorgetreten ist. (In seiner Antrittsrede erklärte er, dass Florida «ein goldenes Zeitalter für den Schutz unserer wertvollen natürlichen Ressourcen» erlebe.) Vielleicht haben Sie auch von seinem Gesetz zur Stärkung der Erziehungsrechte der Eltern gelesen, das von seinen Gegnern als «Don’t Say Gay»-Gesetz bezeichnet wurde. Das Gesetz, in dem das Wort «Gay» übrigens nirgendwo vorkommt, verbietet keineswegs, dass in Schulen in Florida über Homosexualität gesprochen wird. In Kindergärten und in Schulen bis zur dritten Klasse soll es einfach nur keinen Unterricht zum Thema sexuelle Identität und sexuelle Orientierung geben.

Im September 2022 lief die Empörungsmaschine der linken Medien auf Hochtouren, als DeSantis fünfzig venezolanische Asylbewerber nach Martha’s Vineyard verfrachtete, die Insel vor Cape Cod im Bundesstaat Massachusetts, auf der Barack Obama und viele andere Prominente ein Sommerhaus besitzen. Laut Umfragen wurde diese Massnahme von hispanischen Einwanderern in Florida noch deutlicher unterstützt als von anderen Gruppen, aber die Demokraten und die Medien regten sich furchtbar auf.

Trump war so toxisch, dass der korrupte, langweilige, senile Biden vielen als akzeptabel erschien.

Doch trotz der Negativwalze in den Medien wurde DeSantis im vergangenen November mit knapp 60 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Es war ein historischer Sieg: Seit 1868 hat kein Republikaner in Florida so deutlich gewonnen, und jeder Demokrat, der in diesem Staat für ein öffentliches Amt kandidierte, verlor, während Republikaner anderswo durchweg enttäuschten.

DeSantis’ Sieg und die Tatsache, dass er die Stimmen der Hispanics und das multiethnische Miami gewann, obwohl die Linken ihn als Rassisten verunglimpft hatten, waren eine grosse Enttäuschung für das linksliberale Establishment.

Die Wähler wussten es zu schätzen, dass es keine Lockdowns gegeben hatte und dass Florida ein Niedrigsteuerstaat mit einem beispiellosen Haushaltsüberschuss ist. Kaum jemand in Florida fiel auf das Narrativ der Medien herein, die DeSantis als «Baby Trump» oder einen «Trump mit Gehirn» porträtiert hatten, denn man konnte sehen, dass er in Auftreten und Temperament konzentriert und ruhig ist und nicht erratisch und unberechenbar wie Trump.

Federers Fussspuren

Für mich war sein Erdrutschsieg keine Überraschung, weil ich geahnt hatte, dass er Wähler und Wählerinnen wie meine Frau für sich gewinnen würde, eine Unabhängige, die für Trump nichts übrighat. Obwohl er in seiner offiziellen Biografie auf seine Herkunft aus der Arbeiterklasse verweist, spricht er selten über sein Elternhaus in Dunedin. Und so beschloss ich ein paar Wochen vor der Wahl, mich in Dunedin umzusehen, um mir ein Bild von dem Mann zu machen, der unser nächster Präsident sein könnte.

Ich bin überzeugt, dass man den Fussspuren bedeutender Persönlichkeiten folgen muss, wenn man verstehen will, wer sie waren oder sind. Ich habe Porträts über Pablo Neruda, Kurt Cobain, Charles Darwin, Ernest Hemingway und viele andere bekannte Figuren geschrieben. 2019 folgte ich in der Schweiz den Spuren von Roger Federer und schrieb ein Buch darüber mit dem Titel «Footsteps of Federer». Im Fall DeSantis war es schwieriger, weil seine engste Umgebung den Medien misstraut. Interviewanfragen wurden regelmässig abgelehnt.

Dunedin bezeichnet sich als älteste Stadt zwischen Key West und Cedar Key an der Golfküste Floridas. Die Stadt mit rund 35 000 Einwohnern am St. Joseph Sound ist bei Touristen vor allem wegen der vorgelagerten Barrier Islands beliebt, die einige der schönsten Strände der Golfküste vorweisen können, wie etwa den Honeymoon Island State Park.

Der Name der Stadt (Dunedin ist der gälische Name von Edinburg) geht auf zwei schottische Einwanderer zurück, und die schottischen Ursprünge sind noch heute zu bemerken. Ein schottisches Kulturzentrum, an dem ich vorbeikam, kündigte mit Aushängen die alljährlichen Highland Games and Festival mit Dudelsackmusik, Tanz, Wettbewerben und reichlich Alkohol an.

Im frühen 20. Jahrhundert kam Dunedin durch den Anbau von Zitrusfrüchten zu Wohlstand, doch 1985, als DeSantis’ Eltern dorthin zogen (der kleine Ron war sechs), waren es schwierige Zeiten. Rons Vater Ronald senior arbeitete als Techniker für eine Firma, die TV-Einschaltquoten misst, seine Mutter Karen war Krankenschwester. Drei Jahre nachdem die Familie am östlichen Stadtrand ein Haus für 65 000 Dollar gekauft hatte, das die Eltern noch immer bewohnen, wurde eine Agentur gegründet, die sich um die Wiederbelebung der heruntergekommenen Innenstadt kümmern sollte.

Trotz der Negativwalze wurde DeSantis mit knapp 60 Prozent der Stimmen wiedergewählt.

Europäische Touristen zieht es vor allem in das alternativ angehauchte Stadtzentrum, wo man eher Regenbogenfahnen als DeSantis-Plakate sieht. Fährt man aber zehn Minuten in nördlicher Richtung und dann auf der Main Street in östlicher Richtung durch eine klassische Vorstadtgegend mit Supermärkten und Einkaufszentren, kommt man in eine komplett andere Welt. Dies ist DeSantis-Land, die Gegend, in der Ron aufwuchs. Es ist eine typisch amerikanische Enklave mit schmalen Kanälen und bescheidenen Ranch-artigen Häusern aus den 1970ern, überall sieht man amerikanische Fahnen. Hier wohnen Anhänger von Trump und DeSantis. DeSantis-Land ist ein Quartier von Arbeitern und Rentenempfängern, die Leute sind stolze Hauseigentümer, die Vorgärten sind makellos gepflegt, auf der Strasse grüsst man sich.

Misstrauen gegenüber den Medien

Von Nachbarn erfuhr ich, dass DeSantis in einer Schüler-Baseballmannschaft spielte, die sich 1991 für die Little League World Series qualifizierte. Er studierte Geschichte an der Yale University und machte sich dort einen Namen als erstklassiger Schlagmann des College-Teams.

Bei meinem ersten Besuch in Dunedin verzichtete ich darauf, bei Rons Eltern vorzusprechen. In der Hoffnung, dass sie mich zu einem Interview empfangen würden, schrieb ich ihnen stattdessen einen Brief und packte all die positiven Artikel hinein, die ich über ihren Sohn geschrieben hatte. Als ich eine Woche später vor ihrem Haus stand, war ich so nervös, dass ich befürchtete, im nächsten Moment mit einem Herzinfarkt zusammenzubrechen.

Nach einer Weile kam Rons Vater zur Tür, die er aber nur einen Spaltbreit öffnete. «Ich kann nicht mit Ihnen reden», sagte er, nachdem ich mich vorgestellt und er erklärt hatte, meinen Brief nicht erhalten zu haben. «Die Medien geben alles, was man sagt, verzerrt wieder und reissen es aus dem Zusammenhang.»

Ich entschuldigte mich für die Störung und wandte mich zum Gehen, doch kurz bevor ich mein Auto erreichte, hörte ich eine Frauenstimme meinen Namen rufen. Ich drehte mich um und sah eine Frau, die mir auf der Einfahrt entgegengelaufen kam. Es war Karen DeSantis, Rons Mutter. Sie hatte von meinem Projekt gehört und erklärte entschuldigend, dass sie Anweisung hätten, alle Interview-Anfragen an das Wahlkampfbüro weiterzuleiten. «Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen», sagte sie.

Ich sah mich ein wenig in der Umgebung um, sprach mit Nachbarn, die mir erzählten, dass die Familie bescheiden sei und grosses Ansehen geniesse. «Sie protzen nicht damit, dass ihr Sohn der Gouverneur von Florida ist», sagte ein Mann, der gleich nebenan wohnte.

Bei meiner Rückkehr fand ich ein E-Mail von Ronald DeSantis senior in meinem Posteingang. Er teilte mir mit, dass ein Nachbar den Briefkasten für sie geleert hatte und dass mein Brief tatsächlich angekommen sei. Er sagte, dass ihm mein Schreibstil gefalle, reagierte aber nicht, als ich ihm in meiner Antwort einige Fragen stellte. Im Grunde war es nicht so wichtig.

«Bronze Star» im Irak

Einige Besuche in DeSantis-Land und mein kurzer Kontakt mit den Eltern verschafften mir einen Eindruck von dem Mann, der, im Gegensatz zu Trump, lieber über politische Themen als über sich selbst spricht. Ron DeSantis wuchs in einer Gegend auf, in der die Leute stolz darauf sind, Amerikaner zu sein. Er wohnte in einem unprätentiösen Haus, dessen Wert heute etwa 50 000 Dollar unter dem durchschnittlichen Hauspreis in den USA liegt.

DeSantis muss seine einfache Herkunft nicht herauskehren, weil er als Person überzeugt. Er besitzt etwa 300 000 Dollar, muss aber noch 21 000 Dollar Studienkredit zurückzahlen. Nach seinem Jurastudium an der Harvard-Universität, Alma Mater der renommiertesten Juristen in Amerika, hätte er einen gutbezahlten Job annehmen können, doch er ging zur US-Navy, die ihn unter anderem in den Irak schickte, wo er mit dem «Bronze Star» ausgezeichnet wurde.

Wohngegenden wie DeSantis-Land, mehrheitlich von Weissen und der working class besiedelt, haben sich zuletzt den Republikanern zugewandt, während wohlhabendere Enklaven zunehmend links wählen. Daten der US-Finanzverwaltung von 2020 zeigen, dass 65 Prozent der Amerikaner mit einem Haushaltseinkommen von 500 000 Dollar und mehr mit den Demokraten sympathisieren.

DeSantis’ Werte spiegeln die patriotische, konservative und antielitäre Haltung, der man in DeSantis-Land allenthalben begegnet. Angesichts der vielen amerikanischen Fahnen versteht man sofort, dass DeSantis 2021 beispielsweise das Anti-Woke-Gesetz initiierte, das den Unterricht in kritischer Rassentheorie an Schulen untersagt, weil dieser nach seiner Überzeugung nur dazu führt, dass Schüler ihr Land ablehnen.

Auch Elitenkritik gehört zu den politischen Grundthemen in DeSantis-Land. Der Gouverneur präsentierte seine Corona-Politik als Teil des Kampfes zwischen den Eliten und den einfachen Leuten. «Wir haben die Eliten zu Recht kritisiert», sagte DeSantis. «Es war falsch, dass sie die Schulen geschlossen und Lockdowns verhängt haben. Es war falsch, dass sie eine Maskenpflicht verhängt haben, und sie haben die Wirksamkeit von mRNA-Impfstoffen falsch eingeschätzt.»

Politik für den alten Nachbarn

Zuletzt attackierte er die sogenannten Eliten, die zum Weltwirtschaftsforum nach Davos gereist waren. «Diese Leute kommen dort zusammen und glauben, dass sie die Macht haben und alle anderen bloss Leibeigene sind.» Wäre er in einer privilegierten Familie aufgewachsen, könnte man seine Angriffe auf die Eliten für opportunistisch halten. Aber wenn man DeSantis zuhört, gewinnt man den Eindruck, dass seine Haltung authentisch ist und dass er Sorgen zur Sprache bringt, die unter einfachen Leuten weit verbreitet sind.

Die Rede, die er im Januar bei Antritt seiner zweiten Amtszeit hielt, dauerte nur eine Viertelstunde. Trump ist ein Geschäftsmann, aber DeSantis ist jemand, der sofort zur Sache kommt. Über seine Familie oder seine eigene Person hat er nie viele Worte verloren. Wenn er auf diese Weise einen Personenkult à la Trump begründen will, so ist er darin ziemlich schlecht.

Anders als Trump schielt er nicht auf den Beifall der Eliten. Er trägt seine Verachtung für die Eliten wie ein Ehrenzeichen. In DeSantis-Land versteht man, warum er will, dass die Reichen auf Martha’s Vineyard Asylbewerber aufnehmen, warum er gegen den Erlass der Rückzahlung von Studentenkrediten und gegen Dragqueen-Geschichten zu bester «familienfreundlicher» Sendezeit ist. Seine Politik kommt bei seinen alten Nachbarn an. Er denkt an sie, will sie ansprechen. Man kann nur raten, woher Trumps populistische Neigungen rühren –- bei Ron DeSantis muss man sich nur in den Strassen von DeSantis-Land umsehen, dann weiss man es.

Dave Seminara ist Schriftsteller und ehemaliger Diplomat. Er ist der Autor von «Footsteps of Federer: A Fan’s Pilgrimage Across 7 Swiss Cantons in 10 Acts» und «Mad Travelers: A Tale of Wanderlust, Greed and the Quest to Reach the Ends of the Earth».

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork