Berlin

Das Äussere spiele keine Rolle, heisst es oft. Es gehe um innere Werte, Charakter, Intelligenz und Humor. Nicht nur sämtliche Partnerbörsen, Headhunter und Heidi Klum wissen es besser, sondern auch die deutschen Grünen. Ohne ihr erfrischend wirkendes, und ja, gutaussehendes, charismatisches Glamourpaar Annalena Baerbock und Robert Habeck hätten sie nicht jenen wunderwuzzihaften Aufschwung genommen, der sie zwar nicht ins Kanzleramt, aber doch in Führungspositionen der Bundesregierung gebracht hat.

Keine Berufslehre, keine Praktika

Es ist ganz einfach: Die äussere Erscheinung, Gesicht und Figur, Bewegung, Mimik und Gestik sind schlicht das, was zuerst auffällt und Wirkung entfaltet. Das weiss auch die frischgewählte Parteivorsitzende der deutschen Grünen. «Mein Name ist Ricarda Lang, ich bin 28 Jahre alt, und ich sehe aus, wie ich aussehe», sagte sie zum Abschluss ihrer zehnminütigen, freigehaltenen Bewerbungsrede aus dem Home-Office. «Ich bin verdammt stolz, dass nichts von alledem darüber entscheidet, was mir politisch zugetraut wird.»

Die Anspielung auf ihr unübersehbares Übergewicht und die Shitstorm-basierten Beleidigungen im Internet, darunter auch Handyfotos, die eine grosse McDonald’s-Tüte auf ihrem Tisch im ICE zeigen – das sogenannte body shaming –, war knapp, aber deutlich.

Will man wahre Gendergerechtigkeit walten lassen, muss man fairerweise an die ehemaligen Kanzleramtsminister Peter Altmaier und Helge Braun erinnern, letzterer von Beruf Arzt. Auch sie hatten ein ins Adipöse tendierendes Übergewicht, ohne dass es zum öffentlichen Thema gemacht worden wäre. Freilich gilt hier wie da: Wer vom Stimmvolk immer wieder Klimadisziplin, Fleischverzicht und sozialen Zusammenhalt verlangt, sollte sich selbst ein bisschen zusammenreissen können. Von «Gürtel enger schnallen» wie einst ist sowieso keine Rede mehr.

Was die inneren Werte bei Ricarda Lang betrifft, weiss man noch nicht allzu viel. Noch vor wenigen Wochen war die 1994 geborene Tochter einer alleinerziehenden Sozialarbeiterin aus dem Raum Stuttgart nur politischen Insidern bekannt. Mit 18 trat sie der Grünen Jugend bei, absolvierte ihr Abitur und begann ein Studium der Rechtswissenschaften, das sie nach sieben Jahren ohne Abschluss abbrach. Unterdessen nahm ihre Karriere in der Partei Fahrt auf. Drei Jahre später, mit 21, war sie im Bundesvorstand der Grünen Jugend, 2017 dann deren Bundessprecherin.

Im November 2019 wurde sie stellvertretende Bundesvorsitzende der Grünen und «frauenpolitische Sprecherin». Seit dem vergangenen Oktober ist sie «die erste offen bisexuelle Abgeordnete» im Deutschen Bundestag mit den thematischen Schwerpunkten «Feminismus, Vielfalt und Strategien gegen rechts», wie die Website der Grünen vermerkt. Dazu kommt noch, was Wunder, «Body Positivity».

Parallelen zu anderen Parteifunktionären um die dreissig drängen sich auf: Wie Kevin Kühnert, 32, Generalsekretär der SPD, verfügt die neue Grünen-Chefin über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Weder Praktika noch Studienaufenthalte im Ausland oder berufliche Tätigkeiten sind im Lebenslauf vermerkt. Die Generation Joschka Fischer hatte immerhin eine Mischung aus revolutionärem Strassenkampf, Marx-Exegese und Taxifahrer-Job zu bieten. Wie Kühnert verfügt sie über rhetorische Fähigkeiten, die sich bei anderen erst nach Jahrzehnten einstellen.

Windräder und Wirklichkeit

Das demonstrativ Nachdenkliche eines Robert Habeck geht ihr zwar ab, doch ein schnell artikuliertes «Eine bessere Welt wartet nur auf uns»-Ankündigungsdeutsch hat sie schon drauf. Wenn sie im Interview sagt, die «Realität» komme nun «in der Regierung» an, so meint sie nicht die Alltagserfahrungen der normalen Menschen, sondern die politische Agenda, die die Grünen gern mit der Wirklichkeit verwechseln. Französische Atomkraftwerke und die Ablehnung von Windrädern im Hochschwarzwald gehören jedenfalls nicht zur grünen Realität.

Wie alle Spitzenpolitiker beherrscht Ricarda Lang die Technik, auf konkrete Fragen nicht zu antworten, das aber mit vielen Worten. Omid Nouripour, 46, der in Teheran geborene Co-Vorsitzende, lobt zusätzlich die bürokratische Effizienz seiner Kollegin. Der Zeit erzählte er, dass Frau Lang eine 28 Punkte lange Besprechungsliste beim Mittagessen innerhalb von 39 Minuten abgearbeitet habe: «Waaahnsinn, wie klug, weitsichtig und sortiert diese Frau ist.»

Gleichwohl könnte die fast geräuschlose Installierung der neuen Doppelspitze den Anfang vom Ende des Grünen-Hypes markieren. Der Einfluss der Parteiführung wird schon nur durch das Gewicht der Ämter von Vizekanzler Habeck und Aussenministerin Baerbock begrenzt.

Wichtiger noch: Die Enttäuschung vieler Wähler ist nur eine Frage der Zeit. Neue Richtungskämpfe werden aufbrechen und Teile der bürgerlichen Grünen-Wähler abschrecken. Realität ist eben doch mehr als ein Wort – und Lebenserfahrung eine hilfreiche Sache. Dieses Problem immerhin löst sich mit der Zeit.