«Ich würde auch meinen Hund wählen, wenn er gegen George W. Bush eine Chance hätte», hatte Stephanie letzten Januar einmal gesagt. Damals stritten sich noch mehrere Kandidaten um die Nominierung der Demokraten. Es war ihr völlig gleichgültig, ob schliesslich Wesley Clark, Howard Dean oder John Kerry gegen den amtierenden Präsidenten antreten würde. Und als Kerry das Rennen machte, kümmerte sie genauso wenig, dass er von allen Kandidaten der war, den sie am unsympathischsten fand. Die 57-jährige Klavierlehrerin war eine meiner Nachbarinnen in Los Angeles, eine sanfte, zurückhaltende Frau, die an ihrem Garten sehr viel interessierter schien als an Politik. Deswegen war die Bemerkung mit dem Hund überraschend rüde.

Am Morgen nach den Wahlen begann sie zu weinen, als wir uns trafen. «Es fühlt sich nicht mehr wie mein Land an. Ich verstehe es nicht mehr.» Andere Nachbarn sagten Ähnliches, und es klang ebenso heftig: Schande, Katastrophe, Fremdheit im eigenen Land. Ich hatte sie noch nie so reden hören.

Ungebremste negative Gefühlsäusserungen gelten in Kalifornien als uncool. Aber das Abhandenkommen der Coolness nach den Wahlen schien eine verbreitete Erscheinung. Die Zeitungen vermeldeten abrupten Zulauf bei Psychiatern und Psychologen, die auf «anger management» spezialisiert waren.

In den Gärten vieler Häuser steckten noch die blauen Wahlschilder «Kerry and Edwards». Es ist ein solid demokratisches Viertel, Mittelstand, überwiegend Kirchgänger, überdurchschnittlich steigende Grundstückspreise. Vor etwas mehr als einem Jahr hatten in manchen der Gärten Schilder «Arnold for Governor» gefordert. Man wählte Schwarzen-egger, weil man ihn aus dem Kino kannte oder einfach weil man so frei war, den Kandidaten zu wählen, den man für den besseren Mann hielt. Dass Schwarzenegger Republikaner war, fiel nicht ins Gewicht. Ein Jahr später war solches Abwägen keine Option mehr. Die Präsidentschaftswahl 2004 war keine Entscheidung über Inhalte, sondern eine ideologische Zugehörigkeitserklärung.

Moralische Werte, nicht Wirtschaft oder Irak hätten den Wahlkampf entschieden, sagen die Umfragen. Welche moralischen Werte? Noch grösser als in den demokratischen Städten der Westküste war der Schock über Bushs Wiederwahl in New York. Dort, wo der verheerendste Anschlag auf die USA stattgefunden hatte, wählte die überwiegende Mehrheit nicht den Kriegspräsidenten, sondern den Herausforderer, der ihnen mehr Sicherheit zu garantieren schien, auch wenn er seltener betete. Sie fühlten sich vom grossen Rest des Landes im Stich gelassen. War die Weltoffenheit, auf der die Stadt noch immer besteht, kein moralischer Wert?

In der New York Times fragte sich Kolumnist Thomas Friedman, den nichts so langweilt wie verbohrte Einseitigkeit, warum ihn Bushs Wiederwahl völlig verstört habe, ganz im Gegensatz zu seiner ersten Wahl vor vier Jahren. Er vermutet, dass diesmal die Abstimmungsresultate genau gleich ausgefallen wären, wenn man – statt nach Bush oder Kerry – gefragt hätte, ob die Leute den konservativen Nachrichtensender Fox News einstellen oder die liberale New York Times lesen würden. Und er kommt zu einem Schluss, der im Wesentlichen derselbe ist wie der von Stephanie, der Nachbarin: «Diese Wahl ist von Leuten entschieden worden, die nicht nur eine andere Politik befürworten als ich, sondern ein anderes Amerika. Wir sind uns nicht mehr einig, was Amerika ist.»

Das andere Amerika wird die in der Verfassung festgeschriebene Trennung von Kirche und Staat noch zügiger abbauen als bisher. «Wir haben keinen anderen König als Jesus», sagt der zurückgetretene Justizminister Ashcroft. Bald wird sich zeigen, sein Jesus ist strenger als der von Stephanie, obwohl auch sie Christin ist. «Am wütendsten macht mich der Gedanke» sagt sie, «dass wir wieder für das Recht auf Abtreibung demonstrieren müssen. Gibt es etwas Trostloseres, als wenn sich die Dinge wiederholen?»