Der Mensch und sogenannte Grossaffen wie die Schimpansen sind zu 96 Prozent verwandt. Den letzten gemeinsamen Vorfahren hatten sie vor etwa sechs Millionen Jahren. Affen können Gefühle zeigen, Werkzeuge erfinden, um Macht und Vorherrschaft wüst ringen – «gleich manchen Politikern», sagt Dr. Jane Goodall. Sie klopfen sich zur Begrüssung auf die Schulter und praktizieren sogar den Handkuss. Bei Menschen, sei hier angemerkt, ist er Usus bei Hochwohlerzogenen, bei Schimpansen ist er demokratisiert. Und: Schimpansen sind Persönlichkeiten, keine Nummern.

Zu diesen Erkenntnissen kam die britische Forscherin Anfang der sechziger Jahre in Gombe, heute Tansania, durch Feldstudien statt Laborarbeit. Die damals 26-Jährige revolutionierte damit die Schimpansenforschung. Und wäre nicht der Prähistoriker und Paläoanthropologe Louis Leakey gewesen, der sie bei ihrer ersten Afrikareise als Sekretärin einstellte, dabei ihre Geduld bei Ausgrabungen und ihr tiefes Wissen über die Wildnis erkannte, dann hätte sie nie ein Forschungsstipendium der National Geographic Society erhalten. Die Nichtstudierte hätte nicht mit ihren Beobachtungen direkt in Cambridge zur Ethologin – Tierverhaltensforscherin – promovieren können. «Ein schwieriges Wort für eine einfache Sache», schreibt sie.

 

Im Bett mit Regenwürmern

Die zierliche Frau mit dem jugendlichen, inzwischen ergrauten Pferdeschwanz weiss, wovon sie in Paris Anfang Dezember vor Jung und Alt spricht: «Gebt nie auf. Es gibt immer Menschen, die helfen.» Frankreichs Jane Goodall Institute feiert hier, am Hauptsitz der Good Planet Foundation, bereits ihren 90. Geburtstag – vier Monate im Voraus. Dankbar erwähnt Goodall ihre Mutter: «Sie schimpfte nicht, als ich Regenwürmer ins Bett nahm, um zu sehen, wie sie ohne Füsse laufen konnten, oder stundenlang verschwand, um zu beobachten, wie ein Huhn ein Ei legte.» Die Mutter begleitete sie auch, als die britische Regierung ihr ein Visum nur gewähren wollte, wenn sie zu zweit in die Wildnis gingen.

Es klingt wie ein Appell an alle Eltern, wenn Goodall resümiert: «Ohne das Verständnis meiner Mutter wäre ich nicht das, was ich heute bin – und manchmal selbst nicht glauben kann!» Die in London am 3. April 1934 Geborene, ein Scheidungskind, war mit dem Trauma des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen und wurde mangels Geld Sekretärin. «Mutter sagte: ‹Gib stets dein Bestes und ergreife die Gelegenheit.›» Heute ist Jane Goodall Dame des British Empire, mehrfache Ehrendoktorin, auch der Universität Zürich. Sie steht siebzig Jane-Goodall-Instituten vor, ermutigt seit 1991 Kinder in über hundert Ländern mit der Aktion Roots & Shoots, eigene Naturschutzprojekte zu entwickeln, schuf 1994 das Projekt «Tacare» in sechs Ländern Afrikas zur Aufforstung und zum Tierschutz durch Einheimische. Ihr holistischer Ansatz: Mensch, Natur und Tier sind ein Ganzes.

Die vor ihrem Publikum kerzengerade stehende und sich behende fortbewegende kleine Frau ist eine Ikone. Ein Vorbild für viele Frauen, die sich dank Goodalls Lebensgeschichte emanzipierten. Ein Idol für Kinder, die wie die kleine Jane in Bournemouth auf Bäume klettern und sich aus ihrer Umgebung – mit Büchern – wegträumen. So wie Jane mit «Doctor Dolittle» und «Tarzan». Als Wissenschaftlerin ist sie eine Leitfigur für jene Engagierten, die malträtierte Tiere retten und unsere Natur schützen wollen. Und sie ist, so ganz nebenbei, ein wandelndes Beispiel dafür, dass der alternde Mensch nicht im Rollstuhl oder mit einem Rollator enden muss.

«Gebt nie auf. Es gibt immer Menschen, die helfen.»

Noch mit 89 Jahren kann man die Jugend begeistern und Berge versetzen. «Jeder Mensch hat eine Mission auf dieser Erde. Er muss sie nur finden.» Ihre ist es, Hoffnung zu säen. «Hope» steht deshalb in leuchtenden Lettern auf dem Pariser Podium. «Hoffnung ist seit je wie der unbesiegbare menschliche Geist das Überlebens-Tool der Menschheit», erklärt sie in ihrem jüngsten Werk, «The Book of Hope» (Penguin, 2021). Der «Überlebensführer» in «schwierigen Zeiten» entstand im Gespräch mit Friedensforscher Douglas Abrams vor und während der Covid-19-Krise. Genauso wie die «virtuelle» Jane und zahlreiche ihrer «Hopecasts».

Geschichten über Weltveränderer

Hoffnung ist auch das, was sie seit 1977 als Umweltaktivistin um den Globus treibt. «Wir haben noch ein kleines Zeitfenster», erklärt sie unaufgeregt und damit umso eindringlicher dem Publikum. «Aber wir müssen jetzt handeln.» Dem lauten Zorn einer Greta Thunberg, für die sie ein Vorbild ist, setzt Goodall das Ansehen des Problems, das Verstehen und vor allem das entschlossene Handeln entgegen. «We can!» und «We will!» lauten ihre Aufrufe, mit denen sie auch das fast zweistündige konzentrierte Podiumsgespräch in Paris abschliesst. Das Publikum stimmt unter ihrer dirigierenden Hand ein, so wie 2019 in Davos hochrangige Politiker einstimmten. Und dann erzählt sie nochmals, im Stehen und nimmermüde, Geschichten über Weltveränderer. Etwa über einen blinden Zauberer, der sie das Surfen und Malen lehrte und ihr den Stoffaffen schenkte, den sie auf Vortragsreisen bei sich hat. Oder über jenen Geschäftsführer einer umweltverschmutzenden Industriefirma, der sein Unternehmen zum Sauberen bekehrte. Oder über jene Soldaten, die in Ruanda einer Handvoll decouragierter Kinder plötzlich halfen, Bäume auf unwirtlichem Boden zu pflanzen. «Wir fingen mit einer Handvoll Kindern bei Shoots & Roots an. Bis heute haben wir Hunderttausenden Hoffnung und Lebenssinn gegeben.»

Jane Goodalls schlichte Ernsthaftigkeit, mit der sie erzählt, macht sie glaubwürdig. Die Frau, die seit je Hosen trägt, braucht weder Schmuck noch teure Kleidung, um Gehör zu finden. In Paris trägt sie rote Socken, schwarze Stoffschuhe, Jeans und einen dünnen Anorak ihrer Organisation. Sie ist konzentriert. Wiederholt blitzt der Schalk in ihren Augen, etwa, wenn sie unvermittelt in Schimpansenlauten spricht, «Hello, I am Jane», oder Vögel imitiert. Man lauscht ihr gebannt, lacht und verinnerlicht die Botschaft. Jane Goodall berührt. Sie ist direkt und jedem Menschen zugewandt, der sie abfängt und sein Anliegen vorträgt.

Zu Besuch bei ihrer Wachsfigur

Dabei bleibt sie jedoch immer eins: Verhaltensforscherin und stille Beobachterin. Auch der Menschen. Eifrige Organisatoren, die sie von ihrer Signierstunde mit schüchternen Kindern abbringen wollen, ignoriert sie und macht einfach weiter. Denn «Jeder Mensch zählt» ist ein weiteres Motto. Und Kooperation. Um Tiere zu retten, müssen wir zuvor den Menschen vor Ort gute Lebensbedingungen verschaffen und mit ihnen zusammenarbeiten. Geben, was wirklich erfragt und gebraucht wird. Auch wieder eine klare Jane-Goodall-Formel. Es könnte so einfach sein, unsere Welt zu retten. Schon durch weniger Fleischkonsum, glaubt sie. Sie selbst ist Vegetarierin seit Ende der sechziger Jahre. Goodall gibt uns noch ein wenig Zeit. Mutter Natur zeigt Resilienz. Sie erholt sich, so, wie wir uns erholen, wenn wir in die Natur gehen. Der Elan der Jugend kann bei der Rettung helfen. Genauso wie unser «erstaunliches Gehirn», das uns letztlich von Schimpansen unterscheidet. Es kennt die Konsequenzen unseres Handelns, kennt die Ursachen der Klimakatastrophe und kann sie deshalb richten.

Ihr eigenes Zeitfenster sieht sie noch weit offen. In Paris, wo sie vor der Schweiz hinreiste, auch um Geld zu sammeln und ihre etwas grösser und männlicher geratene Wachsfigur im Musée Grévin einzuweihen, sagt sie amüsiert: «Ich bin noch nicht tot. Ich werde sicherlich, wie die Buddhisten sagen, wiedergeboren. Vielleicht als Tier. Dann lerne ich etwas Neues.» Stete Neugierde ist neben Hoffnung eine weitere Antriebsfeder Jane Goodalls. Wenn jeder sich interessiert und anpackt, wird letztlich alles gut. Besagt das nicht auch ihr Name? «Goodall» liest sich umgedreht «all good». Das Wortspiel dürfte ihr gefallen.