Barbara Sichtermann ist die Frau, die vor rund dreissig Jahren das Leben von Hunderttausenden von Müttern auf ein neues Fundament ­stellte. In ihren beiden Bestsellern «Leben mit ­einem Neugeborenen» und «Vorsicht Kind» gelang ihr das Kunststück, Frauen aus den ­Fesseln eines tyrannischen Mutterideals zu ­befreien und sie gleichzeitig für die sinnliche Lust am Kontakt mit ihren Babys zu sensi­bilisieren.

Die Bücher werden regelmässig neu aufgelegt, da ihre Botschaft offenbar immer noch vielen Frauen aus dem Herzen spricht. Gleichzeitig publizierte Sichtermann damals eine Textsammlung, die sie schlicht «Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten» taufte. In diesen Essays befasste sie sich mit Fragen der erotischen Spannung zwischen den Geschlechtern, und das zu einer Zeit, da die Frauenbewegung die männliche Sexualität auf den In­dex gesetzt hatte: «Ausbeuterisch, unterdrückend, egoistisch», lautete das Verdikt. Radikale Stimmen propagierten die lesbische Liebe für alle. Sichtermann war selber stark von der Studenten- und Frauenbewegung geprägt. Trotzdem war es ihr ein besonderes Anliegen, «das Glück der erotischen und sexuellen Anziehung nicht dem Kampf mit den Männern um mehr Rechte zu opfern». Der Idee, dass Frauen nur noch Frauen lieben sollten, konnte sie nichts abgewinnen: «Die Libido der allermeisten Frauen ist auf Männer bezogen», sagt sie nüchtern. Auch «Weiblichkeit» wurde zum Bestseller.

Jetzt, mit knapp siebzig, meldet sie sich zum Thema weibliche Sexualität zurück. Vor wenigen Wochen erschien ihr neuestes Buch, «Was Frauen Sex bedeutet». Grund genug, die Pu­blizistin und Schriftstellerin in Berlin zu besuchen. Sichtermann ist eine zierliche Frau, die ­ihren Gast fast scheu begrüsst und sich ­dafür entschuldigt, dass man in einem Zimmer Platz nimmt, das im eher dunklen Teil der Wohnung liegt, der – typisch für Berliner Altstadthäuser – auf den Innenhof ausgerichtet ist. Ihre Schüchternheit löst sich augenblicklich in Luft auf, als das Interview beginnt. Sie ist zweifellos eine Frau des Wortes. Sie spricht gern von ihrem jüngsten Werk, von dem sie im Verlauf des Gesprächs sagen wird, dass sie ein sehr intimes Verhältnis zu ihm habe: «Es liegt mir am Herzen.»

Eiskalt und berechnend

Das Buch versammelt Episoden aus der ­Sexualbiografie von sieben Frauen im Alter von Mitte zwanzig bis Mitte fünfzig, die ihre Geschichten im fiktiven Rahmen einer wissenschaftlichen Befragung preisgeben. Die Geschichten, sagt Sichtermann, seien authentisch. Die einen habe sie selber erlebt, andere seien ihr von Freundinnen oder Bekannten erzählt worden, dritte habe sie im Verlauf der Jahre gelesen. Entstanden ist ein fiktionales Sachbuch, analog den Doku-Soaps im Fernsehen, die die langjährige TV-Kritikerin der Zeit à fond kennt. Sie habe diese Form bewusst gewählt, da sie es sich nicht zugetraut habe, das Thema Sexualität in klassischen Interviews mit identifizierbaren Frauen zu ergründen.

Mehr als hundert Interviews, glaubt sie, wären nötig gewesen, um auf sieben spannende, ­aussagekräftige Geschichten zu stossen. Die brauchte sie, um eine Idee umzusetzen, die ihr bei der Lektüre von Giovanni Boccaccios «Il Decamerone» in den Sinn gekommen war. In der Novellensammlung aus dem 14. Jahrhundert vertreiben sich zehn Menschen auf einem Landgut ausserhalb des von der Pest heimgesuchten Florenz ihre Zeit, indem sie einander Geschichten erzählen, darunter viele deftig und erotisch. Die lebensbedrohliche Ausnahmesituation löst ihnen die Zunge. Sichtermann kreierte analog dazu das zeitgemässere Szenario einer wissenschaftlichen Befragung, das die Frauen ungeniert reden und ins Detail gehen lässt – sie tun es ja im Dienste der ­Wissenschaft.

Die Autorin beschränkte sich auf die Erzählungen von Frauen, weil sie das weitverbrei­tete Vergleichen der männlichen mit der ­weiblichen Sexualität für unergiebig hält: «Es führt in eine Sackgasse, wenn man sich, geleitet von dem Wunsch nach Ordnung und klaren Kategorien, auf die altgedienten Klischees von den draufgängerischen Männern und den sanftmütigen Frauen beschränkt.» So entstünden letztlich Denkverbote, die die Vielfalt insbesondere der weiblichen Sexualität tor­pedierten.

An vielfältigen Erlebnissen, Wünschen und Überlegungen zu weiblicher Sexualität mangelt es dem neuen Sichtermann-Buch wahrlich nicht. Nach der Lektüre reibt man sich die Augen und staunt: Frauen treiben es ganz schön bunt. Da erzählt die fünfzigjährige ­Leonie, dass es einst ein Sechzehnjähriger war, streng genommen also ein Kind, der in der ­erwachsenen Frau Lust und sexuelles Feuer entfachte – und sie schwängerte. Die Frucht dieser unkeuschen Liebe jubelte sie ihrem Ehemann unter, eiskalt und berechnend. ­Heute empfindet sie ihren Trieb nur noch als «grossen Unruhestifter», der sich – leider – nur schwer zähmen lasse.

Die 36-jährige Sekre­tärin Esther erlebt immer wieder Phasen grossen sexuellen Interesses, die sie mit den Brunftzeiten der Tiere vergleicht. Die gesellschaftliche Omnipräsenz alles Geschlechtlichen, verbunden mit dem Zwang zum ewigen Vergnügen, erlebt sie dagegen als fad und belastend. Als prägend bezeichnet sie eine Erfahrung, die sie als 21-Jährige machte. An einem lauen Sommertag trieb sie es an einem Ausflugssee mit drei Arbeitskollegen, nacheinander zwar, aber jeweils in Gegenwart aller Beteiligten, was den Reiz erheblich steigerte.

Die 47-jährige Loreley, eine ehemalige Prostituierte, ist mit einem sehr viel älteren Mann verheiratet, der seine Potenz aufgrund einer Operation einbüsste. Damit kann sie gut leben, zielt ihre Lust doch in Wahrheit auf andere Frauen, die sie sich in Berliner Lesbenklubs sucht. Ihr Mann weiss davon nichts. Leer schlucken muss man, wenn die 53-jährige Vertriebsmanagerin Donata berichtet, dass sie als Siebzehnjährige bei einer Vergewaltigung durch den Freund ­ihrer Mutter einen Orgasmus bekam.

Erotisches Glück in der Unterwelt

Spätestens jetzt fragt man sich, was Barbara Sichtermann mit dem Sprengen (fast) aller Grenzen und Normen bezweckt, warum sie im Grunde nur Geschichten aus den Sperrbezirken des menschlichen Beziehungslebens erzählt. Sie lacht zunächst. Als sie Donatas Vergewaltigungserfahrung aufschrieb, habe sie tatsächlich auch gezögert und sich überlegt, was wohl Alice Schwarzer, die «Emma»-Herausgeberin, für die sie regelmässig arbeitet, dazu sagen werde. Letztlich habe sie sich für die Realität entschieden: «Genau dieses Erlebnis hat mir eine Freundin detailliert und sehr glaubwürdig geschildert.» Frauen hätten eben auch diese Seite, die Donata mit dem Satz zum Ausdruck bringt: «Auch ich bin ein wildes Tier.»

Auch die anderen Geschichten präsentiere sie, weil sie den Titel ihres Buches ihrer Meinung nach am besten einzulösen vermögen: Sie illustrieren, was Frauen im 21. Jahrhundert Sex bedeutet. Gemeinsam sei allen, dass sie ihr sexuelles Glück in einer Parallel- oder Unterwelt finden, sozusagen im Keller der menschlichen Existenz, wo es dunkel und geheimnisvoll ist. Die ganz grosse Lust sei für Frauen offensichtlich an den Tabubruch geknüpft. Erst in einer Art Doppelleben machten sie Erfahrungen, die ihnen den Kern ihrer je individuellen, einzigartigen Sexualität offenbarten.

Die beglückende Sexualität mit einem netten Ehemann gebe es schon, diese freundliche Hintergrundmusik einer intakten Beziehung. Sie lächelt milde. Aber sie habe für ihr Buch die Wendepunkte im Sexualleben ihrer Protagonistinnen gebraucht, die zeigten, was Sex im Guten wie im Schlechten alles auslösen kann: Frauen wachsen über sich hinaus, fühlen sich bedroht, werden umgetrieben von Sehnsucht oder empfinden sich als besseren Menschen, wenn sie befriedigt das Lager ihres Geliebten verlassen.

Diese sieben Geschichten seien zwar nicht repräsentativ, belegten aber, dass sich Frauen heutzutage neue Freiheiten herausnehmen. Freiheiten, und für einmal drängt sich der Vergleich doch auf, deren sich Männer dank ihrer beruflichen, sozialen und materiellen Unabhängigkeit schon immer bedient hätten, indem sie Geliebte hatten oder Prostituierte aufsuchten. Nun holen die Frauen, ausgerüstet mit eigenen Ressourcen, aber auch sicheren Verhütungsmitteln, auf. Die Zeit, in der das Auffliegen eines Seitensprungs sie an den Rand der bürgerlichen Existenz brachte, sei vorbei: «Frauen», konstatiert Sichtermann, «trennen Sexualität und Liebe stärker denn je. Der Anspruch, alle Lebensbereiche sozusagen unter einem Dach integrieren zu müssen, verblasst. Auch das weibliche Geschlecht zieht in die Welt hinaus.»

Ein solches Verhalten berge natürlich Risiken. Eine Frau, die ein Doppelleben führe, lebe mit mehr Stress, Spannung und der Gefahr, dass sie scheitern könne und das gutsortierte Leben mit Mann und Kindern einbüsse. Dafür schöpfe sie aber auch ihre Möglichkeiten ­besser aus.

«Das ist unser Los»

Bleibt am Ende die Frage, ob diese Errungenschaften den älteren und alten Frauen verwehrt sind. Schliesslich fehlt in Sichtermanns Buch die Stimme der Sechzig- oder gar Siebzigjährigen. Das sei reiner Zufall, sagt sie. Vielleicht ist es ja aber auch Ausdruck davon, dass unsere Gesellschaft der Frau mit dem Ende der Gebärfähigkeit gern auch die Sexualität abspricht. Das lässt sie nicht auf sich sitzen. Temperamentvoll und mit deutlichen Worten verwahrt sie sich gegen die Idee, dass alte Männer per se und immer noch um ihres Körpers willen begehrt würden: «Das ist Bullshit. Dabei geht es in erster Linie um männliche Macht und finanzielle Ressourcen, die sich Frauen früher nur auf diesem Weg sichern konnten.» Sie finde es schrecklich, wenn aussererotische Kategorien wie Geld und ein schicker Wagen den Ausschlag geben würden: «Das kann ja nichts werden im Bett», lacht sie.

Mit dem Altwerden, dem körperlichen Verfall, aber auch dem Schrumpfen des sexuellen Interesses mag sie nicht hadern: «Das wussten wir doch schon immer, dass das unser Los ist.» Abgesehen davon gebe es so etwas wie einen «erotischen Esprit», der viel mit Geist und der Fähigkeit des Spielens, Täuschens, Lockens, Anziehens und Abstossens zu tun habe: «Wer den im Laufe seines Lebens eingeübt hat, verliert ihn auch im Alter nicht und bleibt sowohl für die eigene Generation wie für jüngere ­sexuell attraktiv.»