Wenn eine erfolgreiche und renommierte Wissenschaftlerin, die seit Jahrzehnten Teil der Klimaforschung ist, als Insiderin aus eigener beruflicher Erfahrung ihre Einschätzungen zu Klimathemen darlegt, kommt ein enormer Wissensschatz zusammen. Judith Curry, emeritierte Professorin am Giorgia Institute of Technology, befasst sich in ihrem Buch «Climate Uncertainty and Risk» mit den erheblichen Unsicherheiten in der Klimafrage und mit den Konsequenzen daraus für einen rationalen Umgang mit dem Klimawandel.

Das gut 300-seitige Buch mit fünfzehn Kapiteln gliedert sich in die drei Hauptteile Herausforderung des Klimawandels, Unsicherheit des Klimawandels im 21. Jahrhundert sowie Klimarisiken und deren Eindämmung. Insgesamt wurden rund 1300 Referenzen ausgewertet. Diese betreffen nicht nur die Klimaforschung selber, sondern auch übergreifende Themen. Das Buch ist textlich gehalten, mit einer einzigen Abbildung sowie drei Tabellen.

 

Kontrollillusion

Curry beginnt mit unserem Wissen und Nichtwissen um die globale Erwärmung. Unsere Erkenntnis sei eingeschränkt: einerseits durch fehlende, lückenhafte, verrauschte oder zu kurze Datensätze; andererseits durch eine grosse inhärente Unsicherheit, Unkenntnis oder Unberechenbarkeit des Klimas. Dies stehe im Widerspruch zur Gewissheit, mit der behauptet werde, dass anthropogene Treibhausgase die Hauptursache der Erwärmung seien und diese eine Gefahr heraufbeschwören würden. Eine solche Möglichkeit wird von der Autorin nicht bestritten, aber sie führt aus, dass weder die Ursache gewiss sei, noch ab wie viel Grad, in welcher Zeit, wo und in welcher Weise – und ob überhaupt – eine Gefahr entstehen könnte.

Die auf Treibhausgase verengte Analyse täusche eine Gewissheit vor, die es objektiv nicht gebe und führe zur Kontrollillusion («overconfidence»). Anstelle der fehlenden Objektivität werde ein vom Weltklimarat (IPCC) künstlich erzeugter Konsens gesetzt («manufactured consensus»), gewissermassen als Stellvertreter für Wahrheit («proxy for truth»). Aus dieser verengten Analyse werde am Ende eine weitreichende Klimapolitik mit erheblicher sozioökonomischer Auswirkung abgeleitet.

Der Klimawandel sei kein «zahmes» Problem, dem mit einer einfachen Antwort zu begegnen sei. Eine Abwendungsstrategie aufgrund einer Prognose («predict-then-act») sei zum Scheitern verurteilt. Der fragwürdige Satz «Folgt der Wissenschaft» sei Ausdruck einer Anmassung von Wissen, das wir nicht haben. Wie in der Erzählung der Hydra Köpfe nachwuchsen, gebar neue Erkenntnis stets neue Fragen und neue Unsicherheit. Dies bezeichnet die Autorin als «Unsicherheitsmonster», mit dessen Beschreibung der zweite Buchteil beginnt.

Klimamodelle beseitigen die Unsicherheit nicht. Sie litten, so die Autorin, unter unvollständiger Kenntnis der Grundlagen, eingeschränkter Rechenleistung und vor allem Unkenntnis oder Nichtberücksichtigung wichtiger Einflussgrössen. Die Emissionsszenarien des IPCC hätten zudem enorme Spannbreiten, und der genaue Wert der Klimasensitivität bezüglich CO2 sei umstritten. Prognosen tragen somit mehrfache Unsicherheit in sich und seien kein solides Fundament, auf das man bauen könne.

 

Von unten nach oben

Wenn uns die Modelle nicht weiterbringen, was dann? Ein Kernsatz des Buchs lautet: Wir müssen die Unsicherheit als ein Teil der Erkenntnis sehen und sie in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Die Unsicherheit sei objektiv und lasse sich nicht durch Expertenkonsens entfernen, seien die Experten noch so klug oder zahlreich. Der Rahmen für den Umgang mit Klimaveränderungen müsse aus dem engen Korsett der anthropogenen Treibhausgase befreit und die natürliche Klimavarianz adäquat einbezogen werden.

Im dritten Teil wird dieser Rahmen entwickelt. Man erfährt Allgemeines und Klimaspezifisches über Risikoanalysen. Systemische Klimarisiken können auf zwei Weisen auftreten: erstens als Extremwetterereignisse, die ihren Ursprung in der internen Varianz des Klimasystems haben («emergency risks»), und zweitens als schleichende, zunächst noch vage Risiken, die ihre Ursache zum Beispiel in der Ansammlung von Treibhausgasen in der Atmosphäre haben («emerging risks»). Die ersten Risiken sind akut und offensichtlich, die zweiten zunächst klein, könnten aber wachsen.

Die Risiken der ersten Gattung können nicht mit Massnahmen gegen die zweite Art bekämpft werden. Bei den «emerging risks» ist zudem eine Abwägung mit «transition risks» vorzunehmen, die umso grösser werden, je schneller man agiert. Systemische Klimarisiken wirken sich regional unterschiedlich aus. Ein dezentrales Bottom-up-Risikomanagement ist daher einem zentralistischen Top-down-Ansatz überlegen.

«Decision Making under Deep Uncertainty» (DMDU) ermögliche einen Ausweg aus dem Dilemma, ohne ausreichende Kenntnis handeln zu müssen. Bei DMDU wird der Prozess «predict-then-act» umgekehrt. Bei dieser Methode beginnt man mit einer Reihe möglicher Entscheidungen. Deren Auswirkungen werden mit mehreren plausiblen Szenarien durchgerechnet und verglichen. Dabei werden manche Entscheidungen bezüglich unterschiedlicher Annahmen invarianter sein als andere. Solche Entscheidungen sind robuster. Man geht zunächst kurzfristige, «schmerzfreie» Schritte («no regret») und wiederholt den Prozess in geeigneten Zeitabständen unter Einbeziehung neuer Erkenntnisse. So entsteht ein Lernprozess, bei dem flexiblere Entscheidungen besser abschneiden als starre.

Es folgen Abschnitte zur Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit («adaptation»), zur Gefahreneindämmung («mitigation»), zum Kohlenstoffkreislauf und zur Energiewende.Spannend ist das Kapitel «Vision 2100». Der Energiehunger der Welt steige dynamisch an, und der Trend zur Elektrifizierung steigere die Stromnachfrage doppelt schnell. Unsere Abhängigkeit von einem ausfallsicheren, sauberen und preiswerten Stromnetz wachse. Bei gewünschter CO2-Freiheit verblieben neben Wind, Sonne, CO2-Abscheidung die Kernkraftwerke als die ergiebigsten und zuverlässigsten Stromlieferanten. Die Autorin sieht sowohl die fossile Verbrennung als auch die Kernenergie in das 22. Jahrhundert hineinreichen. Dem Risikomanagement für die Stromversorgung komme eine existenzielle Bedeutung zu. Ein zu schneller Ausstieg aus den Fossilen könne höhere Risiken bewirken als die Erwärmung selber.

 

«Reset» in der Politik

Es folgt eine Skizzierung des Übergangs in eine CO2-ärmere Energieversorgung und das Management seiner Risiken. Die Autorin schliesst den Part mit der optimistischen Botschaft: Innovation, Kreislaufwirtschaft für die teuren Rohstoffe und Kostensenkung durch Massenproduktion würden zu einer sich selbst verstärkenden Rückkopplung führen und zukünftigen Generationen ein leistungsfähiges, sicheres, umweltfreundliches und kostengünstiges Energiesystem ermöglichen.

Das Schlusskapitel schliesst den Bogen zur Politik. Judith Curry schlägt an dieser Stelle einen «Reset» vor. Klimapolitik muss drei Anforderungen gerecht werden:

1 – Bereitstellung sauberer, ständig verfügbarer und preisgünstiger Energie

2 – Wirksame Schutzmassnahmen bei Extremwetterereignissen

3 – Abwehr von etwaigen langfristigen Gefahren durch Ansammlung von Treibhausgasen.

Zu 1. und 2. gibt es keinen grundsätzlichen Disput, sondern Diskussionen über den besten Weg. Forderung Nr. 3 ist eine internationale und ungewisse Sache mit wenig Chancen auf kurzfristige Lösungen, wohl aber einen angelaufenen Verbesserungsprozess.

Der letzte Buchabschnitt enthält einen energischen Aufruf zur freien, interdisziplinären Forschung und eine Absage an Konsensdiktatur und Cancel-Culture. Judith Currys Buch ist ein beeindruckendes, lehrreiches Werk, das auch noch in dreissig Jahren Aktualität haben wird.

 

Hans-Rolf Dübal, Chemiker, war lange in leitenden Positionen bei Unternehmen der chemischen Industrie tätig.