Aboriginal Voices: Instant Music (reissue). LP. Billbrook. BBR 002LP

Mitte der Siebziger fetzten im New Yorker Klub «CBGB» die Prä-Punks vor sich hin. Malcolm McLaren, der Mann mit der Nase für Angesagtes, importierte den Sound nach London, wo seine Liebste, Vivienne Westwood, die Retortenband Sex Pistols einkleidete. Und ein paar Popzeitschriften später – wir befinden uns in einer analogen Welt! – sprossen allerorten Punkbands wie Pickel auf schlechternährten Teenagern. Wobei entgegen der Legende oft jene den grössten Erfolg hatten, die vorher schon musiziert hatten.

In Zürich etwa Heinrich «Wüste» Zwahlen, der Violine spielte, eine Jazz-Schule besuchte und in Prog-Rock machte, bevor er mit dem späteren Rockstar Rams bei den Nasal Boys zugange war, einer der ersten Zürcher Punkbands. Zur Szene gehörte die Frauenband Kleenex, deren Minimalismus die Londoner Musikpresse besang, derweil der wichtigste Rocktheoretiker, Greil Marcus, eine Ode schrieb und dabei Zürichs Rolle als Geburtsstadt des Dadaismus hervorhob. Auf den sich die militante Jugendbewegung berief, die 1980 explodierte und die Stadt der Banken, des Protestantismus und der Langeweile mit rohem Witz und expressiver Gewalt aufmischte. Und die sich abends an den Konzerten lokaler Kapellen zusammenrottete, wo sie sich – befeuert von endogenen und artifiziellen Substanzen – dem Überschwang und der Selbstverschwendung hingab.

«Tanz den Mussolini»

Dieses Klima des Alles-ist-möglich trieb an der musikalischen Front auch der Entwicklungsfortschritt in Sachen Produktionsmittel voran: Plötzlich waren digitale Instrumente nicht mehr hippiesken Nerds à la Tangerine Dream vorbehalten, die wie autistisch-psychedelische Telefonfräuleins vor grossen Steckbrettern sassen und für ihre Klangteppiche Kabel umstöpselten. Jetzt entlockte fesches Bühnenpersonal handlichen Geräten temporeiche Sounds.

Die Gruppe Kraftwerk wurde modisch, das Zürcher Duo Yello experimentierte mit neuen Klängen, und es erschien die bahnbrechende LP der Düsseldorfer Deutsch-Amerikanischen Freundschaft, die ihr Programm aus Provokation mal Tanzbarkeit mit den Zeilen besang «Tanz den Jesus Christus / Tanz den Mussolini / Tanz den Adolf Hitler». In England lösten die elektronisch unterlegten New Romantic Bands gerade New Wave ab. Human League, Heaven 17, Duran Duran, OMD, Depeche Mode oder Visage mit – très cool – französischem Sprechgesang.

In Zürichs Untergrund sorgte das Duo Aboriginal Voices für Aufsehen. Ein Paar, gutaussehend, gestylt, cool, mit tanzbarem Elektro-Sound, dem Micheline «Misch» Pfister eine eigene Note verlieh, wenn sie französisch sang. Micheline hatte eine klassische Pianoausbildung, jobbte als Beleuchterin in einem Strip-Lokal und im Booster, der angesagtesten Boutique Zürichs. Voilà: eine ebenso gestylte wie toughe Musikerin. Mit Heini Zwahlen spielte sie schon bei den Doobie Doos. Bandkonzept: Alle traktieren nur Instrumente, die sie nicht beherrschen. 1980 entstanden die Aboriginal Voices, die anfänglich noch mit der in klassischem Gesang geschulten Magda Vogel auftraten.

Die Enervierung über organisatorische Reibungsverluste und stete Scherereien mit Bandbesetzungen brachten Wüste und Misch dazu, alles nur noch zu zweit zu machen. Mit dem Linn-Drum-Gerät. Heini an der Gitarre, Micheline am Yamaha-Synthesizer. Wobei die Aboriginal Voices als eine Art Influencer avant la lettre jeweils die neuesten Gerätschaften erhielten, um sie auszuprobieren. Zumal sie es darauf anlegten, nicht mit Tapes zu arbeiten, sondern alles auf Liveshows hin zu konzipieren.

Eiserner Vinyl-Bestand

Für den legendären Roland-MC-4-Microcomposer liessen sie sich ein Interface bauen, so dass ein Ausgang eine mit dem Sound synchrone Lightshow steuerte. Eine Pioniertat, die gut in den Do-it-yourself-Geist des Punk passte, mit seinen selbstvertriebenen Tapes und der fuck-you-Attitüde gegenüber den Kretins der Musikindustrie. Folgerichtig erschienen bloss zwei Kassetten und eine EP auf einem Kleinstlabel. Dem Sound, dem Kleidungsstil und der Elektronik eignete etwas Futuristisches, wobei die Haltung rebellisch blieb. Etwa wenn sie sich mit der Zeile «We create instant music» mokierten über die Puristen, die Debatten führten, ob elektronische Musik überhaupt Musik sei.

Nun, Computer schienen neu, und noch 1984 bekämpften Teile der rechtgläubigen Lokallinken die Verschiffung von Computern für die Revolutionsregierung Nicaraguas, weil das doch finstere Herrschaftstechnologie sei. Derlei fochten weder die Aboriginals noch ihr Publikum an, das sich immer wieder an den Konzerten einfand, wohlwissend, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. Und so manche, die ihr Vinyl durch das Digiformat Flac ersetzten, behielten die Aboriginal-Voices-EP im eisernen Vinyl-Bestand. Zu Recht.

Sven Regener, Kopf von Element of Crime und heute Deutschlands erfolgreichster Popliterat, sagte vor ein paar Jahren auf die Frage, ob er Schweizer Musik kenne: «Natürlich! 1983 spielte vor uns eine Schweizer Band, die hiess Aboriginal Voices. Toll, avantgardistischer Elektropop. Das war meine erste Begegnung.» Wer sie einmal sah, vergass sie nicht mehr und gehörte damit über die Jahre zu einem kleinen Kreis Eingeweihter, der sich darüber freut, dass nach all den Jahren neue Aficionados dazukommen.