Herr Bundesrat, Sie sind im EU-Steuerstreit angetreten mit der Losung: Es wird nicht verhandelt. Jetzt haben Sie einen unilateralen Steuersenkungsvorschlag zur Besänftigung der EU lanciert. Warum sind Sie eingeknickt?
Ich bin doch nicht eingeknickt. Es gibt nichts zu verhandeln. Basta. Wir können die EU-Forderungen jedoch als Hebel verwenden, um unsere Gewinnbesteuerung zu senken. Machen wir uns nichts vor: Der EU geht es am Ende nur ums Geld. Ich kenne meine Kollegen Finanzminister. Die wollen möglichst viel einnehmen und möglichst wenig ausgeben. Ich wollte zweierlei signalisieren. Erstens: Es gibt nichts zu verhandeln. Zweitens: Die Schweiz ist stark genug, um sogar Steuern zu senken. Das war eine Warnung Richtung Brüssel. Seht her, wenn ihr uns unter Druck setzt, machen wir unseren Standort noch attraktiver. Die Botschaft wurde verstanden.

Spüren Sie Nervosität bei den ausländischen Firmen?
Sie sprechen von 20000 Holding-, gemischten und Verwaltungs-Gesellschaften mit 150000 Angestellten. Deren Steueraufkommen beträgt über sieben Milliarden Franken. Ihnen sagen wir: Bleibt gelassen. Wir verschlechtern die Situation nicht. Im Gegenteil: Wenn, dann verbessern wir sie.

Ihre Gesprächsverweigerungspolitik gegenüber der EU aber haben Sie faktisch aufgegeben.
Man muss Realist bleiben. Ich komme doch laufend mit den europäischen Finanzministern zusammen, die sprechen mich darauf an. Wir sind in einem permanenten Dialog. Da kann ich mich nicht einfach stumm und dumm stellen. In diesem Dialog bilde ich Themenkörbe. Richtige Verhandlungen mit Traktanden und Lösungsvorschlägen gibt es nicht.

War es rückwirkend nicht ein Fehler, auf das Prinzip Nichtverhandlung zu setzen? Sie hätten ja einfach endlos reden und die Gespräche im Sand verlaufen lassen können.
Das mag insgeheim als meine Hoffnung gelten. Darum wurde ich auch schon als Schlaumeier bezeichnet. Aber: Unter den Finanzministern wimmelt es von Schlaumeiern. Sie schauen für sich, legen die Rechtssituation je nach Interesse aus. Ich sage Ihnen: Das Zeichen gegen Brüssel musste klar sein, nicht Wischiwaschi. Wir mussten es auf den Punkt bringen: Mit uns gibt es keine rechtliche Lösung.

Wer sind die treibenden Kräfte hinter dem Steuerstreit?
Die Kommission hat den Auftrag, Gralshüterin der Verträge zu spielen. Da hat es Leute darunter, die sich sehr gut auskennen, gerade in Steuerfragen. Es gibt durchaus heikle Punkte, die zu diskutieren sind. Dialogverweigerung könnte geradezu tödlich sein für die Schweiz. Am stärksten drücken wohl Frankreich und Deutschland, weil beide Länder etliche Holdinggesellschaften verloren haben. Ihnen kamen beträchtliche Steuervolumen abhanden, allerdings nicht nur Richtung Schweiz.

Glauben Sie wirklich, mit Ihrem Steuersenkungsvorschlag die EU zu besänftigen? Am Ende macht die EU doch Druck, weil sie Firmen an die Schweiz verliert.
Wir riskieren schon heute, dass EU-Mitglieder die existierenden Doppelbesteuerungsabkommen gegen uns auslegen. Es gibt Leute, die sagen, ich sei umgefallen, aber das ist dumm. Es ist halt so, dass wir uns unter Partnern dem Dialog stellen, auch weil die EU im Alltag verschiedene kleine Angriffspunkte finden könnte, die sich zum grossen Problem addieren könnten.

Sie sagen: Sie knicken nicht ein, sondern Sie ziehen die Schraube an.
So ist es.

Haben Sie nicht einen fundamentalen taktischen Fehler gemacht, als Sie das Steuerdossier überhaupt in die Hand nahmen? Der Bundesrat ist gar nicht zuständig, sondern die Kantone sind es, genau genommen das Volk. Sie haben sich unnötig in die Schusslinie gebracht.
Das geht doch nicht. Die EU wird nie mit den Kantonen verhandeln, nur mit dem Bund. Er ist das völkerrechtliche Subjekt. Ich kann mich nicht hinter den Kantonen verstecken, wobei ich das natürlich habe abklären lassen...

...es wäre ein Vorteil gewesen, auf die, sagen wir, anarchische Qualität der Schweiz hinzuweisen...
...ein netter Gedanke, eine Pointe, aber in der Realität ist das anders. Man muss sich vielmehr die Frage stellen: Worüber soll der Dialog geführt werden? Es gibt drei Bereiche. Erstens: Das Freihandelsabkommen bietet keinen rechtlichen Rahmen. Der zweite Punkt ist die Wettbewerbsfähigkeit. Der dritte ist die Steuersouveränität. Hier wehre ich mich mit Händen und Füssen, dass sie ins Wanken kommt. Wir sind dem europäischen Code of Conduct nicht verpflichtet, also soll man uns auch nicht darauf behaften. Wir dürfen den bilateralen Weg nicht stören. Der nützt der Wirtschaft. Ich unterstütze ihn mit voller Überzeugung, weil ich dezidiert gegen einen EU-Beitritt bin. Innenpolitisch gilt es zudem, die Unternehmenssteuerreform II und den Neuen Finanzausgleich über die Bühne zu bringen. Wir könnten nie akzeptieren, dass durch Eingriffe der EU das finanzielle Ressourcenpotenzial der Kantone geschmälert würde.

Trotzdem hätten Sie die Karte klarer spielen müssen, dass im Grunde der Bund gar nicht zuständig ist.
Das sehen Sie falsch. Denn wir haben diese Karte gespielt. So haben wir der EU deutlich dargelegt, dass man in der Schweiz nicht einfach die Steuern harmonisieren kann. Das Staatswesen ist so gewachsen. Sie bringen Appenzell Innerrhoden und Genf nie unter einer Flagge zusammen, wenn es nicht absolut föderalistisch und direktdemokratisch geschieht.

Welche Massnahmen ergreifen Sie, wenn die EU auf stur schaltet?
Ich stelle fest, dass Finanzminister allesamt auch nur mit Wasser kochen. Ausserdem sind wir daran, die Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU zu erheben. Ich muss Ihnen sagen: Es ist unglaublich, was da alles subventioniert und gestützt wird. Offensichtlich gibt es zulässige Beihilfen.

Sie meinen: Die EU hat gar nicht die moralische Legitimation, Druck auf die Schweiz zu machen?
Es ist zumindest ein interessanter Punkt. Von mir wird erwartet, den Dialog mit der EU zu führen. Umgekehrt soll mir die EU zunächst einmal erklären, worin eigentlich genau die angebliche Wettbewerbsverzerrung der Schweiz im Steuerbereich besteht und was genau deren Folgen sind. Bis jetzt habe ich noch nichts Überzeugendes gehört. Aber Sie haben Verständnis, dass ich jetzt nicht alle strategischen Details veröffentliche. Ich sage nur: Mehrere EU-Finanzminister signalisierten mir, dass ihre Bereitschaft limitiert sei, Sanktionen gegen die Schweiz auszusprechen. Wenn sich im Dialog allerdings beidseits Handlungsbedarf zeigen sollte, dann wäre ich der Letzte, der sich verweigert. Vielleicht kommt es zur grossen autonomen Steuerreform, wer weiss. Schliesslich wird permanent an Steuerreformen gearbeitet. Dies braucht viel Zeit und geschieht nur im Einklang mit den Kantonen.

Läuft die Schweiz nicht Gefahr, Opfer von Verunsicherungen zu werden im Gefolge des Steuerstreits? Auf einmal wandern die Firmen ab, weil sie nicht an die Langfristigkeit unserer Tiefsteuerstabilität glauben.
Ich wiederhole mich gerne: Wenn überhaupt etwas passiert, dann werden es Verbesserungen sein. Die Holdinggesell schaften sind hochmobil. Sie gingen aber nicht in die Nachbarländer zurück, sondern eher nach Singapur oder Hongkong. Die Asiaten sehen jetzt ihre Chancen. Die Wirtschaft braucht und erhält klare Signale, sonst besteht Abwanderungsgefahr.

Die Schweiz hätte starke Druckmittel gegen die EU in der Hand. Wir sind frei, das Personenfreizügigkeitsabkommen mit den neuen Beitrittsländern Rumänien und Bulgarien zu sistieren, bis der Steuerstreit behoben ist. Wir könnten beim Elektrizitätsmarktabkommen und bei weiteren Kohäsionsmillionen für die neuen Mitgliedsländer Bulgarien/Rumänien bremsen. Wieso werden solche Instrumente nicht benutzt?
Es gehört zu meiner Strategie, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Bei der Personenfreizügigkeit hat sich der Bundesrat verpflichtet, diese auch mit den Neumitgliedern abzuschliessen. Das Volk kann darüber noch abstimmen. Bei den Kohäsionszahlungen wären wir freier. Wir könnten die Beiträge ohne Gefährdung des bilateralen Wegs hinauszögern. Beim Elektrizitätsmarkt ist es umstritten, wie weit er als Druckmittel im Steuerstreit eingesetzt werden kann. Es ist Teil der Strategie, jetzt nicht alle Karten auf den Tisch zu legen. Wenn die EU eskaliert, können auch wir eskalieren.

Muss die Schweiz wirklich die Personfreizügigkeit auf Bulgarien und Rumänien ausdehnen?
Ja, wir können darüber aber noch abstimmen.

Ihre Milde erstaunt. Die EU erhöhte den Steuerdruck just am Tag nach der Zustimmung des Schweizer Stimmvolks zur Kohäsionsmilliarde. Vielleicht sollten wir auch mal etwas, sagen wir, entschlossener werden.
Das ist leicht gesagt, aber der Druck der EU kann auf Umwegen kommen. Sie muss uns kein grosses Leck schlagen, sondern die können mit vielen kleinen Löchern das Schiff versenken. Das ist zu verhindern. Es wäre falsch, jetzt schon den Knüppel auf den Tisch zu legen.

Haben wir eigentlich noch ein vitales Interesse an der EU über die bilateralen Verträge hinaus?
Unsere Wirtschaft wollte in den Binnenmarkt. Das darf nicht mehr gefährdet werden.

Das sind die alten Dossiers. Sind die neuen Dossiers so interessant für uns?
Das wird die Zukunft weisen. Ich bin etwa der Meinung, dass das Strommarktdossier von gegenseitigem Interesse geprägt ist. Deshalb sollte man dieses Abkommen verhandeln, unabhängig von der Steuerdebatte.

Der Steuerstreit zeigt, dass EU und Schweiz nicht kompatibel sind.
Die EU ist tatsächlich ganz anders als die Schweiz. Hier müssen Gesetze nicht vom Volk abgesegnet werden. Sie können über die Bande Brüssel manches Anliegen einfacher durchbringen. Der Steuerstreit mit der EU ist ein Angriff auf unsere Volksrechte. Das muss ich Brüssel klarmachen.

Warum schweigt der Bundesrat, wenn Schweizer Medien in Selbstgeisselung verfallen und von Rosinenpickerei sprechen, wo legitime Interessen vertreten werden?
Sie können damit auf den Balkon gehen und grosse Reden halten. Ich sage es lieber direkt den EU-Ministern. Jedes Abkommen wurde beidseits akzeptiert. Deshalb können wir keine Rosinenpicker sein. Ich betone immer, dass die Schweiz sehr viel für die EU macht.

Der Bundesrat hat Vertrauen verspielt beim Volk, weil er den Eindruck erweckte, den EU-Beitritt zu betreiben. Ist dieses Bestreben noch vorhanden?
Es gibt ein Einsehen.

Melancholisch oder freudig?
Ich persönlich halte die EU in der jetzigen Form für reformbedürftig. Wer weiss, vielleicht entwickelt sie sich in eine Richtung, die für die Schweiz interessant sein kann. Es gibt im Bundesrat keine hidden agenda. Handkehrum gibt es Bundesratsparteien, die in die EU wollen. Wenn die Schweiz einmal der EU beitreten sollte, dann einer EU, die mit der heutigen nicht mehr viel gemeinsam hat.

Sind Sie als Bundesrat eher EU-skeptischer geworden?
Ich bin entspannter geworden. Im informellen Kontakt sieht man in die EU hinein. Ich stelle fest, dass sich die Mehrheit der EU-Länder finanzpolitisch schlechter entwickelt als die Schweiz. Wir haben zwei Entlastungsprogramme durchgebracht. Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Die EU-Länder sind nicht besser, sie überholen uns nicht. Voraussetzung für unseren Erfolg bleibt: Wir dürfen uns nicht einbinden lassen.

Die EU-Minister betonen, die EU hätte wie die Schweiz einen richtigen Steuerwettbewerb. Stimmt das?
Es gibt verschiedene Tendenzen. Die generelle Richtung ist Harmonisierung. Eindeutig. Das ist nicht ungefährlich für die EU.

Etwas ganz anderes: Sie wollten kürzlich einem Kollegen das schöne Bern zeigen, sind auf die Terrasse gegangen, doch unten waren so viele Penner, dass Sie wegen Pöbeleien wieder weggingen. Offenbar haben Sie sich auch beim Stadtpräsidenten Tschäppät beschwert. Verwahrlost Bern?
Es stimmt. Normalerweise gehe ich nicht mehr auf die Terrasse. Aber selbst wenn ich es mal tue, kann es gut sein, dass man angepöbelt wird.

Was sagte Stadtpräsident Tschäppät?
Man wolle helfen.

Bern ist nicht St. Gallen. Die Stadt ist viel dreckiger.
Diese Frage muss ich Ihnen nicht beantworten, das sehen Sie selbst. Sie sind ein ordentlicher Mensch. Jedermann sieht es. Unordnung und viel Abfall, nebenan ist die Drogenszene. Das gibt es anderswo so nicht.

Wenn Sie die grossen neuen Mächte anschauen: China, Indien. Welche Rolle kann ein Kleinstaat wie die Schweiz spielen?
Ich bin sehr optimistisch. Wir sind dynamisch, wir sind intelligent, wir sind kampflustig, kampfwillig. Für gutorganisierte Länder gibt es immer eine Nische.

Was sind die Schwächen?
Man kennt es aus den Tierfabeln von Lafontaine: Wenn sich der Frosch zum Ochsen aufbläht, kommt es nicht gut. Die andere Gefahr: Man sollte sich nicht überfressen. Wir dürfen die geistige Fitness nicht preisgeben.

Sollte der Staat eigentlich Krippenplätze finanzieren?
Ich bin klassischer Liberaler, als solcher staatsskeptisch. Der Staat muss in gewissen Bereichen stark sein, aber nicht gross. Ich habe in Herisau vor 35 Jahren eine private Kinderkrippe gegründet. Das ist keine Staatsaufgabe, auch wenn heute alle danach zu rufen scheinen.

Was halten Sie vom Vorstoss der FDP-Frauen mit den Betreuungsgutschriften?
Es ist eine bessere Idee als die fixen Beiträge.

Die Betreuungsgutschriften sind doch Staatsgeld.
Ja, es ist Staatsgeld, aber es bietet auch gute Anreize. Schauen wir mal, was daraus wird.

Warum hat sich die FDP von einer Minimalstaats- zu einer Staatsaufblähungspartei gewandelt?
Falsch. So drastisch stimmt es nicht. Natürlich ging der Zeitgeist Richtung Etatismus. Es kam schweizerischer Perfektionismus dazu. Dann gibt es legitime staatliche Anliegen: z.B. Logistik und Infrastruktur. Im sozialen Bereich expandierten die Ansprüche. Die FDP war nicht an vorderster Front.

Sie hat die Fehlentwicklung nicht gebremst.
Wieder falsch. Der Volkswille ist zu akzeptieren.

Die FDP hätte ihre ordnungspolitische Verantwortung wahrnehmen müssen. Aber sie liess sich weichklopfen von links.
Nochmals falsch. Es gab eine Überdehnung der sozialen Marktwirtschaft. Das ist leider wahr. Man bewegte sich schleichend Richtung Kollektivismus. Dieser Trend ist noch nicht gebrochen. Das Land muss zur Besinnung kommen. Am Ende hält es der Wohlstand zusammen.

Managersaläre: Haben wir ein echtes Problem, oder wird das hochgeschrieben in den Medien?
Vielleicht wird es zu Recht hochgeschrieben. Es ist Merkwürdiges zu beobachten, aber der Staat sollte sich nicht einmischen. Der Aktionär, also der Eigentümer, hat zu entscheiden. Die Wirtschaft muss das regeln.

Was gefällt Ihnen am besten am Bundesratsberuf?
Alles.

Das glauben wir nicht.
Mich fasziniert die Staatsrechnung, dann vor allem die Steuerpolitik. Was ich früher zutiefst abstrakt fand, betreibe ich heute mit Begeisterung. Die Steuern haben eine gewaltige, geradezu realitätsprägende Macht. Ich bin fasziniert von der liberalen Staatsphilosophie, aber als Politiker sehen Sie bald einmal, dass sich in der Praxis die reine Lehre nicht immer durchsetzen kann.

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Frage: Steuerstreit: Finden Sie es richtig, dass Bundesrat Hans-Rudolf Merz mit der EU spricht?
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