Es geschieht einem als weitgereister und also einigermassen erprobter Tourist nicht allzu oft, dass man durch sein Reiseziel fährt, ohne es zu bemerken. Respektive erst am Ortsausgang mitzubekommen, dass man es verpasst hat. Genau das ist mir aber passiert, als ich im Alentejo, der Gegend im Süden Portugals, unterwegs war ins zirka 120 Kilometer südlich von Lissabon gelegene Dorf mit Namen Comporta.

Über Comportas Häuser und deren Architektur beziehungsweise Einrichtungsstil gibt es einen Bildband, «Comporta Bliss» (Assouline). Im Klappentext kommt die Beschreibung «wie das Saint-Tropez von Brigitte Bardot in den 1950er Jahren» vor. Es folgen die Begriffe «entspannte Gangart» oder «Künstlergemeinde» und, natürlich, eine Aufzählung von Berühmtheiten, die dort Wohnsitze haben – Christian Louboutin, die Espírito Santos (vor der Pleite ihrer Bank eine der reichen Familien des Landes) oder Madonna. Mit anderen Worten, denen einer Vogue-Journalistin: «Eine sehr überzeugende Verkaufstaktik für einen Trip dorthin.»

Man fragt sich möglicherweise, wie der Reporter diesen Ort verpassen konnte. Antwort: Die Gemeinde ist auf ein ziemlich weites Feld verteilt. Oder, um so genau wie Wikipedia zu sein: Sie weist eine Fläche von 150,5 Quadratkilometern auf und zählt 1268 Einwohner (2011, keine neuere Angabe erhältlich), was eine Bevölkerungsdichte, besser «Bevölkerungsdünne», von 8,4 Einwohnern je Quadratkilometer ergibt, bloss wenig mehr als in Finnisch-Lappland. Und, weiterer Punkt zu meiner Ehrenrettung, wer die Überlandstrasse benutzt, umfährt Comporta.

 

Wellen für Surfer

 

Damit wir uns richtig verstehen: Es ist ein gutes Zeichen, wenn das geschieht. Und als Kompliment an eine Destination zu verstehen. Eric Pukall, ein Fotograf aus Zürich, der zusammen mit seiner Frau, der Designerin Britta Pukall, vor zwölf Jahren ein Stück Land mit vielen Korkeichen und sogar einigen Wildschweinen in der Gegend gekauft hat sowie in der Zwischenzeit zwei Häuser darauf bauen liess, beschreibt diesen Teil des Alentejo als Europas Hamptons; dabei handelt es sich um das Ostende von Long Island in New York. Der Vergleich passt – die Atlantikküste in Südwesteuropa erinnert an die in Nordostamerika, es gibt beiderorts Wellen, die Surfer reiten können.

Grössere Städte fehlen, stattdessen findet man kleine, alte Dörfer, die verschlafen wirken. Resorts mit teuren Einkaufsstrassen, schicken Restaurants und exklusiven Nachtklubs et cetera sind nicht im Angebot. Was weniger daran liege, dass es kein zahlungskräftiges Publikum gäbe. Mehr daran, dass Hausbesitzer und Hotelgäste im erwähnten Comporta, im nahen Melides oder Carvalhal (Kreis Grândola) etwas anderes nachfragten, wenn sie dorthin fahren – richtig, «fahren», zu Fuss geht hier nichts und niemand, es ist zu weitläufig, auch das erinnert an Amerika. «Wer herkommt, möchte abtauchen, nicht auffallen», sagt Pukall weiter. Es sei allerdings nicht so, dass nichts los sei. Bloss finde das gesellschaftliche Leben nicht im öffentlichen Raum statt. Sondern in privaten Gärten und auf Terrassen, die ohne Mauern sowie verschlossene Türen auskommen. Zu abgelegen oder schwer auffind- und erreichbar sind die Anwesen.

Zum Beispiel das von Contessa Noemi Marone Cinzano. Die Italienerin, die in den 1990er Jahren das Wermutgeschäft ihres Vaters übernahm, in der Folge Wein in der Toskana sowie in Argentinien herstellte und schliesslich die Güter verkaufte, wohnt wenige hundert Meter vom Atlantik entfernt. Was nicht auffällt – die noch nähere Lagoa de Melides und die umliegenden Reisfelder ziehen den Blick auf sich (was vielleicht damit zu tun hat, dass Besucher, die Google Maps vertrauen, durch diese geführt wurden – was eine gute Abkürzung ist, wenn man einen Geländewagen fährt, andernfalls verbringt man den Tag damit, das Auto aus dem Sand zu bekommen).

Dass Gräfin Noemi ihre Sommer seit zirka zehn Jahren hier verbringt – wenn’s in Europa Winter ist, lebt sie in Brasilien –, hat mit Christian Louboutin, dem Schuh- und Accessoires-Unternehmer, zu tun, er besitzt ebendort ein Anwesen, die beiden sind befreundet. Sie kaufte das angrenzende Grundstück, liess das darauf stehende Haus abreissen – und das neue, das sie ihrem Geschmack entsprechend gestaltete (mit Innenarchitekt John Stefanidis), hat es in die Architectural Digest AD, eine Zeitschrift, in der aussergewöhnliche Häuser auf der ganzen Welt präsentiert werden, geschafft («eine unangestrengte portugiesische Villa, die sich an eine Düne des unglaublich langen Strands schmiegt»).

Was dazu beitrug, dass Melides zum bereits auf der Relaxt-Chic-Landkarte eingetragenen Comporta aufschloss. «Seit vielleicht sechs Jahren ist Melides der neue Hotspot», sagt sie während eines Mittagessens in ihrem Garten, «Comporta ist überlaufen.» Es gab Schnitzel von örtlichen Kälbern, Gemüse von ihren Feldern, Weisswein von ihren Reben, Schnaps von Früchten ihres Erdbeerbaums («Medronho»). Die Zeile von Yogi Berra, dem amerikanischen Baseballhelden und Sprücheklopfer, fällt einem ein: «Keiner geht mehr hin, es ist zu überlaufen.»

Ein Grandhotel gibt’s keines, Comporta ist nicht Cap Ferrat, Melides nicht Mallorca. Das erste Haus am Platz, wenn man so will, ist das «Sublime», ein country retreat, ein Boutiquehotel mit 23 Zimmern und Suiten sowie 22 Villen. Gonçalo Pessoa, der Besitzer und Betreiber, war ein early mover, hat früh an die Gegend geglaubt – und investiert. «Ich spürte, dass Comporta anspruchsvolle Gäste anziehen würde, es gab bloss keine Unterkunft für sie. Das war meine Chance, und ich ergriff sie», schreibt er in einer E-Mail. Und lässt sein unternehmerisches Wagnis einfach scheinen. Bereut hat er den Entscheid bisher nicht, stattdessen nachgelegt: Vor einigen Jahren eröffnete er den «Sublime Comporta Beach Club», eines der besten Restaurants, gelegen am Strand von Carvalhal.

Das ist das Dorf, in dem der touristische und wirtschaftliche Aufschwung am sichtbarsten ist: Es sieht teilweise aus wie eine grosse Baustelle. Das freut Nuno Carvalho, den lokalen Baulöwen mit über 600 Arbeitern. Wer sich von ihm einen Zweit-(oder Dritt-, Viert- etc.-)Wohnsitz bauen lassen möchte, sollte sich ein, zwei Jahre gedulden können beziehungsweise auf die Warteliste setzen lassen. «Wir haben bloss zwei Probleme: zu wenig Mitarbeiter und zu wenig Parkplätze», sagt er. Hat jemand «Luxus- oder first world-Probleme» gesagt? Die Immobilienpreise entwickelten sich seit Beginn der Erschliessung vor zwanzig oder so Jahren immer bloss in eine Richtung: nach oben. Mittlerweile sind Ferienhäuser, auch von überschaubarer Grösse (unter hundert Quadratmeter Wohnfläche), für weniger als eine Million Euro kaum mehr zu finden. Was auch damit zu tun hat, dass auf einem Gutteil des Lands nicht gebaut werden darf, der Schutz der Küste ist ziemlich streng geregelt – es gibt hier wohl die längsten noch unbebauten Abschnitte Europas, und das soll so bleiben. «Mit grösseren Überbauungen ist nicht zu rechnen», sagt Miguel Vieira von Intertidal Melides, einer Vereinigung zum Schutz der Lagune.

 

«Immer geöffnet»

 

Wenn die Sonne vom Horizont in Richtung Atlantik rutscht und das Licht weicher wird, beginnt die zweite Hälfte des Arbeitstags von Isabel de Carvalho. Sie führt zwei Restaurants in Comporta – das «Museu do Arroz» am Ortsrand und das «Ilha do Arroz» am Strand – sowie einen Laden, Pardon: Concept-Store, im Dorf. Sie war wohl die erste Auswärtige – sie kommt aus der Stadt Porto im Nordwesten des Lands –, die hier eine Strandbar eröffnete, im Jahr 1993. «Unser Erfolgsrezept war: Wir haben immer geöffnet.» Bereits im ersten Jahr verkaufte sie sechzig Flaschen Champagner wöchentlich. Heute ist ihr Angebot vielfältiger, sie veranstaltet beispielsweise Hochzeiten und andere Feste.

Andererseits sei Comporta im Grunde noch immer vergleichbar mit dem Ort, in dem sie sich vor fast dreissig Jahren niedergelassen habe. «Plus ça change, plus ça reste la même chose» (je mehr sich ändert, desto mehr bleibt es gleich), sagen die Franzosen, von denen auch einige gerne hier Ferien machen. Isabel de Carvalho sieht zwei Gründe: «Hätten wir keine Mücken, hätten wir Massentourismus. Plus – es gibt keine Shoppingmöglichkeiten wie in Saint-Tropez, Ibiza oder Porto Cervo.» Mit anderen Worten: keine Latschen von Louis Vuitton, kein Cartier-Collier oder keinen Gürtel von Gucci zu kaufen, wenn das Wetter mal nicht schön ist. Dafür allabendlich zuverlässig den Angriff der mächtigen Mücken. «Fünfzehn Minuten nach Sonnenuntergang fallen sie über einen her», bestätigt Gräfin Noemi Cinzano, lässt sich davon aber nicht sehr stören – «man hat also genug Zeit, ins Haus zu flüchten und die Fenster zu schliessen.»

Falls Niedergelassene und Ortskundige recht behalten, stehen die Chancen gut, dass die Gegend im Alentejo südlich von Lissabon vorläufig mehr oder weniger bleibt, wie sie ist. Dass die Gangart entspannt und ihre Liebhabergemeinde kleingehalten werden kann. Was eine eher seltene Entwicklung darstellt für eine Region, die ihren Eintrag auf der Landkarte der angesagten Destinationen erhalten hat. Und was dann wohl dafür sorgt, dass Erstbesucher weiter Mühe bekunden, Comporta zu finden – weil sie durchfahren, ohne es zu merken.