Die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance ist ein Hammerschlag in die arrogante Behaglichkeit der europäischen Eliten. Mit seinem kurzen Auftritt an der Münchner Sicherheitskonferenz zerriss der frühere Schriftsteller und treue Gefolgsmann von Donald Trump mit einem Streich das ganze Gespinst der Lebenslügen und falschen Theorien, in das sich die führenden Politiker und Parteien Europas in den letzten Jahren zusehends verstrickt hatten.

Das ist auch der Grund, warum sie jetzt mit aggressiver Wut gegen diese frische Brise Realismus aus Washington auf die Barrikaden steigen. Sie fühlen sich entlarvt, sie fühlen sich ertappt, sie spüren, wie das dünne Eis ihrer Weltanschauungen sich unter ihren Füssen auflöst. Dramatisch dreht der Wind. Auf die blinde, selbstherrliche Anbetung der Dogmen der «Woke»-Ideologie folgt nun, angeführt von den USA, eine Art konservative Revolution. Sie wirft die classe politique Europas aus dem Gleis.

Und tatsächlich: Alles, was man den Leuten während der letzten drei Jahre einzureden versuchte, ist plötzlich nichts mehr wert. Das Kriegsgetrommel gegen Russland, der wahnsinnige, gegen jede historische Erkenntnis aufbegehrende Plan, Russland in dessen Vorhof militärisch besiegen zu wollen, entpuppt sich unvermeidlich als hohl, geschichtsblind und gemeingefährlich. Der neue US-Präsident hält Europas Kriegsbeflissenen den Spiegel vor und die gute alte Einsicht, dass Frieden besser ist als Krieg.

Jetzt zeigt sich auch, durch die krasse Irrelevanz der Brüsseler Eurokraten, dass es sich in diesem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland immer nur, wie wir hier geschrieben haben, um einen Stellvertreterkrieg zwischen der neokonservativen amerikanischen Kriegslobby und dem wieder aufstrebenden Russland handelt. Europa und Ukraine sind nur Spielfiguren auf dem Schachbrett der anderen, Marionetten mächtigerer Akteure.

Die Eurokraten und ihre Medien redeten uns ein, in der Ukraine würde die Freiheit des Westens verteidigt. Hätten sie diesen Unsinn jemals ernstgemeint, wären schon längstens offizielle Truppen aus EU-Mitgliedstaaten an die Ostfront entsandt worden, um die Russen zu stoppen. Doch dazu reichte der Maulheldenmut dieser Rhetoriker von Anfang an nicht aus. Die ganze EU-Ukraine-Politik demaskiert sich jetzt als das zynische Desaster, das sie immer war.

US-Präsident Trump freilich hat erkannt, was die europäischen Ukraine-Unterstützer immer noch verdrängen: Russland hat diesen Krieg gewonnen. Weder Sanktionen noch Waffen konnten Putins Staat zu Boden werfen, obschon der Kreml-Chef auch grosse Fehler machte, die Korruption in den eigenen Reihen unterschätzte, die Ukraine für sturmreif hielt und sich von der eigenen Propaganda blenden liess. Doch die Russen haben aus ihren Fehlern gelernt, ganz anders ihre Gegner in Europa.

Das ist keine Rechtfertigung des Vorgehens Russlands. Aber es ist eine noch zurückhaltend formulierte Kritik an der Arroganz des Westens. Der Sieg im Kalten Krieg gegen die damalige Sowjetunion hat in den Hauptstädten des Westens zu Anwandlungen des Grössenwahns geführt. Anstatt die Russen in eine gemeinsame Friedensordnung einzubinden, hat man sie behandelt wie eine Quantité négligeable und damit jene unheilvollen Tendenzen des Nationalismus befeuert, als deren alleinigen Urheber man den Kreml beschuldigt.

Schwindelerregend sind die Slalomläufe des mutmasslichen neuen deutschen Kanzlers Friedrich Merz. Der Mann hat nicht zuletzt in der Ukraine-Frage so viele unterschiedliche, sich widersprechende Positionen vertreten, dass niemand mehr weiss, wo er eigentlich steht. Gestern wollte Merz den Krieg noch weit ins russische Gelände tragen mit der Lieferung von Taurus-Raketen. Dann, urplötzlich, forderte er den sofortigen Waffenstillstand. Eine Woche vor den Wahlen schlägt er wieder konfrontativere Töne an.

Die Drehungen und Wendungen sind das Sinnbild eines Polit- und Medien-Mainstreams, der die Orientierung verloren hat. Merz ist auch deshalb so fürchterlich ins Rotieren gekommen, weil der transatlantische Verbündete auf einmal das Gegenteil von dem predigt, was Merz in blinder Anhänglichkeit an die Regierung Biden während seines Wahlkampfs gefordert hat. Ausgerechnet der CDU-Chef, der beflissen auf der richtigen Seite der Geschichte stehen wollte, findet sich im politischen Abseits wieder.

Wer in Deutschland eine bürgerliche Wende will, eine Rückkehr zum Soliden und Bewährten, ein Ende der grün-woken Überheblichkeit, eine Renaissance der Marktwirtschaft und des gesunden Menschenverstandes, kann auf die alten bürgerlichen Brandmauer-Parteien nicht zählen. Es braucht auch eine starke konservative Opposition. Andernfalls wird sich die bewegliche Merz-CDU zu sehr und weiterhin nach links verbeugen; die Fortsetzung von Angela Merkel mit anderen Mitteln.

Eine bittere Stunde der Wahrheit erlebt ebenso die kleine Schweiz. Dass die Friedensgespräche zwischen Amerika und Russland in Saudi-Arabien stattfinden und nicht am Schweizer Genfersee, ist eine Ohrfeige für die frivolen Neutralitätsbrecher um Aussenminister Ignazio Cassis. Seine Politik liegt in Scherben. Niemand spricht vom «Bürgenstock», dieser diplomatischen Farce der Einseitigkeit, die allerdings von den Medien und allen Parteien ausser der SVP so peinlich bejubelt wurde.

Vielleicht lernen die Schweizer jetzt, dass ihr Land ohne die immerwährende, bewaffnete und umfassende Neutralität wertlos, nutzlos, schutzlos den Begehrlichkeiten des Auslands ausgeliefert sein wird. Der amerikanische, zum Glück jetzt in seine Heimat entschwindende Ex-Botschafter Scott Miller hat es unfreiwillig ehrlich, aber nicht als Kompliment, in einem Interview mit der neutralitätsskeptischen NZZ so formuliert: Ohne ihre Neutralität ist die Schweiz nurmehr «das Loch in einem Donut».

Weniger als nichts.

Dem US-Diplomaten ist, wenn auch nur in diesem Punkt, uneingeschränkt zuzustimmen. Solange die Schweiz ihre Neutralität, ihre weltweit bewunderte Tradition der Unparteilichkeit verteidigt, haben auch die Grossmächte ein Interesse daran, dass man diesen weissen Flecken der Verständigung in Ruhe lässt und nicht behelligt. Die Neutralität ist nicht nur ein Schutzschild vor kriegerischen Angriffen, sie ist auch ein Schutzschild für die Schweiz und ihren Wohlstand in Friedenszeiten, das Emblem ihrer Bedeutung und Nützlichkeit als Insel des Dialogs zur Entschärfung von Konflikten.