Eine Begleiterscheinung der sozialen Medien ist, dass man Menschen beiwohnen kann, wenn sie die Welt im Rahmen eines emotionalen Kontrollverlusts über ihre Probleme informieren. Neulich wurde ich auf das virale Video einer schniefenden jungen Frau aufmerksam. Unter Tränen gestand sie, dass sie zum ersten Mal nach dem College in einem Nine-to-five-Job arbeite und völlig abgekämpft sei. Morgens müsse sie wegen des langen Arbeitswegs das Haus um 7.30 Uhr verlassen, zurück käme sie nie vor 18 Uhr. Die Arbeitszeiten liessen ihr keine Zeit, abends etwas zu unternehmen, sie habe keine Energie mehr zum Kochen, Sporttreiben oder um Freunde zu treffen. «Ich bin so wütend, o mein Gott. Ich bin so gestresst!» Einen Nine-to-five-Job hält sie generell für «verrückt». Es hagelte spöttische Reaktionen.

Ich finde es nicht verrückt, zu denken, man habe zu wenig Zeit, um seinen Interessen nachzugehen. Das ist ein verständlicher Wunsch. Und lange Arbeitswege sind kein Zuckerschlecken. Wir alle haben diese Tage, wo wir uns wünschten, das Leben wäre einfacher, der Spassfaktor höher. Oft falle ich nach einem langen Tag ausgepowert aufs Sofa, mag weder kochen noch reden, lasse nur «Call of Duty» in meine Welt, und es soll mir dann ja keiner kommen und was von mir wollen. Und dann warten an den freien Tagen auch noch quälende Dinge wie Wohnungsputz, Wäsche, Einkäufe. Gerade jungen Menschen kann so eine Lebensrealität durchaus zusetzen. Du kommst frisch ab der Uni, und weil bisher viele Dinge für dich erledigt wurden, bist du vom Alltagsstress grösstenteils verschont geblieben und meinst dann später, wie so manche, «unsere Generation hat eben erkannt, dass das Leben aus mehr besteht als nur aus Arbeit». Plädierst für weniger Arbeit – bei gleichem Lohn.

Ich bin nicht sicher, ob der Weg, Menschen glücklicher zu machen, über weniger Arbeit führt.

Tief im Kern hat die junge Frau mit ihrer Beobachtung ja recht. Unser modernes Leben, mit seinen Strukturen, Erwartungen, aber auch den endlosen Möglichkeiten, überfordert uns bisweilen. Die Lebenskosten sind hoch, Menschen kämpfen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Doch es gibt einen weiteren Aspekt: Viele von uns arbeiten viel, weil wir uns an einen exzessiven Konsum gewöhnt haben; wir arbeiten für Dinge, die wir nicht unbedingt benötigen: alle paar Monate eine Städtereise, das zehnte Paar hippe Turnschuhe, künstliche Wimpern und Nägel, wie die Dame im Video, und noch mehr Klamotten.

Es gibt Menschen, die haben diesen Verlockungen den Rücken gekehrt. Die haben sich quasi zurückbesonnen, führen tatsächlich ein einfaches Leben gemäss der Idee des Weniger-arbeiten-macht-glücklicher. Sie organisieren ihren Alltag anders, beschränken ihren Konsum auf das Allernötigste. Viel Besitz haben sie nicht mehr, und sehr viele sind es nicht. Ich kann mich täuschen, aber ein Grossteil der jungen Menschen, die heute ein geringeres Arbeitspensum anstreben, gehört wohl nicht unbedingt zu der Gruppe, die dafür die Annehmlichkeiten ihres modernen Lifestyle aufgibt. Sich in ein Heim auf dem Land zurückzieht, Obst und Gemüse selbst anbaut, angesagten Klamotten entsagt, Flugreisen, Schminkartikeln und den neusten Smartphones auch. Und in der Schule die Kleider ihrer älteren Geschwister austrägt.

Ich bin nicht sicher, ob der Weg, mehr Menschen glücklicher zu machen, automatisch über weniger Arbeit führt. Die Krux ist: Wenn wir alle weniger arbeiten, wer ermöglicht dann modernes Leben? Wir werden immer mehr, nicht weniger, und irgendwer muss den Job ja erledigen, damit wir auf Strassen gehen, in Läden einkaufen und in Spitälern behandelt werden können, rund um die Uhr. Die Verhältnisse sind verzwickter, als man meinen könnte. Irgendwo auf der Welt investiert gerade jemand acht Stunden oder mehr seiner Zeit, damit wir hier unsere preiswerten Sneakers kaufen können.

Eine Beschäftigung, die um neun Uhr beginnt und um fünf Uhr nachmittags endet, ist etwas, von dem viele träumen. Wäre die junge Dame im Spital tätig, in der Fabrik, im Gastgewerbe oder auf dem Bau, ich möchte nicht wissen, wie ihr Befinden dann wäre. Wenn sie um 23 Uhr zu Bett geht, geniesst sie etwa acht Stunden Schlaf und hat abends fünf Stunden Freizeit. Das übersteigt bei weitem das, was die meisten Menschen auf der Welt haben – oder in der Vergangenheit hatten. Das relativiert die Verhältnisse, und die Tränen erscheinen in einem neuen Licht.

 

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