Julien Green: Treibgut. Neu aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang Matz. Hanser. 400 S., Fr. 39.90

Der entscheidende Satz steht bereits auf der ersten Seite: «Rechts von der Treppe fesselt eine Art Abgrund den Blick.» Das Wort «Abgrund» taucht in diesem Roman noch oft auf; der Blick in denselben noch öfter. Der diesen Blick hier gleich zu Beginn tut, ist Philippe, ein einsamer Flaneur im nächtlich-nebligen Paris der frühen 1930er Jahre. Aus seinem bourgeoisen Viertel, dem 16. Arrondissement, hat es ihn an die Seine getrieben. Hier wird er Zeuge eines Streits zwischen einem Mann und einer Frau. Verzweifelt schreit die Frau um Hilfe – und was tut Philippe? Er geht nach Hause in den bürgerlichen Salon mit den Bücherschränken, den Vorhängen aus schwerer Seide und blättert in Kunstzeitschriften.

 

Bizarre Wohnverhältnisse

Philippe, dieser «Feigling», ist gerade 31 Jahre alt geworden, ein gutaussehender, junger, kräftiger Mann. Doch «diesen gutgebauten Körper hatte er geerbt wie den Rest, wie die Brieftasche seines Vaters, die auf Vorsicht bedachten Gewohnheiten, den abergläubischen Ordnungssinn. All das bildete ein Vermächtnis, unteilbar und wertvoll zugleich, und trotzdem nutzlos. Nutzlos, denn mit all den Reichtümern war die Kraft, die sie geschaffen hatte, nicht weitergegeben worden. Die Erbschaft war ohne Wert.»

«Diesen gutgebauten Körper hatte er geerbt wie den Rest, wie die Brieftasche seines Vaters.»

Da Philippe also dank seines Erbes nicht arbeiten muss, besteht seine Hauptbeschäftigung darin, sich gelangweilt treiben zu lassen, «Treibgut» zu sein in immer abgründigeren Vierteln von Paris: «In allen grossen Städten gibt es Zonen, die entfalten ihr wahres Bild erst im Halbdunkel. Am Tage bleiben sie versteckt, tragen ein banales und gutmütiges Gesicht [. . .] im Abenddämmer jedoch erwacht derselbe Ort zu einem Leben, das aussieht wie die Parodie des Todes.» So gibt sich Philippe lustlos seiner «Einsamkeit im Herzen einer monströsen Stadt» hin. Es ist dem Leser, als folge er dieser Romanfigur durch die Paris-Fotografien eines Eugène Atget oder Brassaï.

Philippes Langeweile, diesem ennui wird nichts Sinnvolles entspringen; diesen bürgerlichen promeneur nocturne treiben einzig «Entschlusslosigkeit und Trägheit» auf der Suche nach nichts. «Mit seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr hatte er aufgehört zu glauben, er sei für die Gesellschaft irgendwie nützlich.»

Bizarr sind denn auch Philippes Wohnverhältnisse in dem grossen bürgerlichen Pariser Appartement. Er ist Teil einer Ménage-à-trois: Da ist seine stets fremdgehende Frau Henriette, Ende zwanzig, «sie spielte Leben» und «knabbert Aspirin wie Zucker». Seit der Heirat und der Geburt eines ungeliebten Sohnes hat Philippe sie nicht mehr berührt, denn ohnehin haben «Leidenschaften des Fleisches für ihn nur theoretischen Wert». (Zwischen den Zeilen mag der Leser in Philippe einen Homosexuellen erkennen, der nichts von seiner Homosexualität weiss.)

 

Aussenseiter der Weltliteratur

Und da ist auch noch Henriettes etwas ältere Schwester Éliane. Hündisch unterwürfig verzehrt sich die Schwägerin nach Philippe und hat ihre Rolle als Haushälterin gefunden. Auch für die beiden Schwestern bedeutet der Aufstieg ins Bürgertum lebensentleerende Langeweile. Der als nutzlos empfundenen eigenen Existenz will/kann niemand entkommen. Dafür fehlt die Kraft. Gegen Ende des Romans sinniert Philippe, dieser Mann ohne Eigenschaften, an der Seine über den Selbstmord. Doch da er ja reich und gesund ist, fehlt ihm «die Rechtfertigung» dafür. Einen «Selbstmord aus Langeweile» würde er begehen, aber auch dafür fehlen Mut und Kraft: Der junge Mann am Ufer taucht nur die Hände in den Fluss, «er musste sie berühren, die Seine».

Als dieses Buch 1932 unter dem Titel «Épaves» erschien, war Julien Green bereits durch drei hochgelobte Romane erfolgsverwöhnt. «Treibgut» nun war ein Blick in den Abgrund eines untergehenden Bürgertums zwischen den Weltkriegen. Den 1900 in Paris geborenen und 1998 dort gestorbenen Green hatte schon 1927 der Literaturkritiker Walter Benjamin interviewt und erkannt: «Proust ruft die Zauberstunde der Kindheit herauf, Green bringt Ordnung in unsere frühesten Schrecken.»

Julien Green war Amerikaner und blieb es zeitlebens. Er schrieb vierzig Romane, eine monumentale Autobiografie sowie die wohl umfangreichsten Tagebücher der Literaturgeschichte und verbrachte (mit Ausnahme der Besatzungsjahre durch die Deutschen) sein fast hundertjähriges Leben als Homosexueller in Paris. In viele Sprachen übersetzt und höchst geehrt, blieb er ein absoluter Aussenseiter der Weltliteratur. Heute ist Julien Green fast vergessen. Das sollte sich ändern. Unbedingt ändern mit diesem Roman und seinem sehr aktuellen Thema. Eine gelangweilte, kraftlose, sich treiben lassende «Erbengesellschaft» ist uns heute ja auch nicht unbekannt.