Der Name könnte kaum besser passen: Bei «Kickl» denkt man sich sofort einen Kicker mit rustikalem Einschlag, der einerseits einen begnadeten verbalen Ballakrobaten abgibt, andererseits einen Klotzer, der sich nicht scheut, andere derart rabiat vors Schienbein zu treten, dass man zwar vielleicht trotzdem lacht, sich derweil aber etwas beklommen fragt, wie er sich das eigentlich vorstellt im Nachspiel.

 

Sternstunden auf Youtube

Meint Herr-Bert (wie Ernies Kumpel, nur viel bissiger, scharfsinniger und witziger, das sei ihm unbenommen) etwa, dass es ihm bald vergessen und nachgesehen wird, wenn er zum Beispiel in einer Brandrede im Juli (Misstrauensvotum gegen die «giftgrüne» Ministerin Leonore Gewessler) dem amtierenden Kanzler an den Kopf wirft, dass es so einen Schwächling wie ihn «in dieser Republik überhaupt noch nie gegeben hat» und dass man sich «ärger, peinlicher und schlimmer nicht mehr blossstellen und erniedrigen kann, als Sie das machen»? Kann er wirklich glauben, dass die Betreffenden ohne weiteres mit dem Schwamm darüber hinweggehen werden und dass derselbe Verein, den er lockig-flockig als Casa Nostra denunziert, ihm bereitwillig den Steigbügel halten wird, nachdem sich die Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten verschoben haben? Man mag den Zynismus der Politik für so grenzenlos halten, wie es unser Kicker augenscheinlich tut; aber das Menschliche kommt in dieser Rechnung doch etwas zu kurz, und dabei denke ich gar nicht an die so gerne pathetisch beschworene Menschenwürde, sondern schlicht an die üblichen Befindlichkeiten des Homo sapiens.

Ich sollte meinen Überlegungen zur besseren Einordnung vielleicht vorausschicken, dass sie keineswegs auf Vertrautheit mit österreichischen Politverhältnissen beruhen. Die Bekanntschaft des Herrn Kickl habe ich erst vor ein paar Tagen gemacht, als ich mir ein paar seiner Sternstunden auf Youtube angesehen haben: eine durchaus beeindruckende Einführung. Im Übrigen habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, nicht nur das europäische, sondern auch das tagespolitische Geschäft überhaupt besser nur aus der Distanz des fernen Bangkok zu verfolgen, und zwar mit mindestens einer Woche Verzögerung, per Economist. Das reicht in der Regel und lässt meinem labilen Seelenfrieden eine Chance.

Zu den Wiener Intrigenspielen im Allgemeinen und dem Komplex FPÖ habe ich aus der Entfernung wenig beizutragen, und nichts läge mir ferner, als etwa in die üblichen Betroffenheitschoräle einzustimmen, die mir nach dreissig Jahren des ewig gleichen Kummerrefrains so abgedroschen vorkommen, dass ich gar nicht wüsste, wo anfangen – wenn ich denn müsste, was glücklicherweise nicht der Fall ist. Stattdessen kann ich getrost auf einen Text vom Februar 2000 verweisen, in dem Karl-Peter Schwarz den «kalkulierten Wahn des Westens» schon so einschlägig thematisiert hat, dass er mir nicht nur nach einem Vierteljahrhundert immer noch erstaunlich präsent ist, sondern auch (mit ein paar leichten Detailkorrekturen) kaum an äusserer Aktualität verloren hat. Plus ça change, plus c’est la même chose: «Wer unbedingt glauben will, dass Österreich von dumpfen Troglodyten und alpinen Geheimnazis bevölkert ist, die nur darauf gewartet haben, auf Befehl grunzend aus ihren Höhlen zu kriechen, um in den von der Zivilisation über Nacht verlassenen Palais an der Ringstrasse die letzten Reste österreichischer Kultur, Urbanität und Humanität aus der Schüssel zu kratzen, der soll es halt glauben.»

 

Mut zum Dissens

Ich empöre mich lieber nicht über die markigen Töne des Herrn Kickl. Manche Polemik ist treffend und geistreich (solange ich nicht auf der Nehmerbank sitzen muss), und das lautstarke Nachdenken über die Herabsetzung des Strafalters auf zehn, über Präventivhaft und Salven auf vermeintliche Eindringlinge an der österreichischen Grenze scheint mir eher auf den Kabarettcharakter berechnet als auf die inhaltliche Glaubwürdigkeit. Was ich entschieden interessanter finde (wie Kickl gerne sagt, bevor er zum Frontalschlag ausholt), ist, wie man in seinen Fünfzigern ankommen kann, ohne anscheinend erkannt zu haben, dass es im Umgang mit Menschen nicht nur (noch nicht einmal vorwiegend!) darauf ankommt, besonders gescheit und wortgewandt zu sein, geschweige denn, recht zu haben. Letzteres ist, wenn ich ein Wort des grossen Alfred Adler bemühen darf, ganz im Gegenteil «oft das Fatalste in der Welt», und zwar wenn man andere in der Gewissheit, recht zu haben, regelmässig vor den Kopf stösst, ohne sich bewusst zu machen, wie gründlich man es sich mit ihnen dabei verdirbt. Martin Amis, in jungen Jahren ein ähnlich versierter Haudegen, war 51, als er Folgendes zu bedenken gab: «Die Lust an der Beleidigung ist ein jugendlicher Unsegen. Man verliert die Freude daran, wenn einem aufgeht, wie sehr sich andere bemühen, wie viel es ihnen ausmacht und wie lange sie sich daran erinnern.» (So weit im Vorwort zu «The War Against Cliché».)

«Wer unbedingt glauben will, dass Österreich von alpinen Geheimnazis bevölkert ist, soll es halt glauben.»

Better late than never, fiele mir dazu ein. Wobei man etwas spitz hinzufügen könnte, dass die späte Erkenntnis des Herrn Amis keineswegs dazu geführt hat, in der mit diesem Widerruf versehenen Essaysammlung etwa die heftigsten Hiebe aus früheren Jahren aussen vor zu lassen; sie haben trotz dem Dementi Eingang gefunden und lohnen die Lektüre, wenn man sie nicht persönlich einstecken muss. Fairerweise sollte ich in diesem Zusammenhang eingestehen, dass es auch bei mir länger gedauert hat, bis endlich der Groschen gefallen ist (wenn die Pfennige nicht noch immer unterwegs sind), dass der Mut zum Dissens zwar Wert und Berechtigung hat, aber die Mässigung ebenfalls – und vor allem ein Gespür dafür, dass man weder sich noch anderen einen Gefallen tut, wenn man sie blossstellt, und seien sie noch so spärlich bekleidet.

Beim alten Freiherr Knigge könnte man dazu auch für den deutschen Sprachraum einiges an Raffinesse reklamieren. Andererseits ist ein Besserwisser auf Deutsch, der es anderen partout sagen muss, auch nicht gerade kulturfremd, ob Akzent Nord oder Süd. Somit eben statt Knigge dem Edelmann die weitaus witzigere wiewohl weniger edle kicklsche Tonlage. Den Amerikanern, bei denen bekanntlich kommerziellere, womöglich krudere, aber allemal oberflächlich umgänglichere Formen zu herrschen pflegen (brüskierte Kunden sieht man in der Regel nicht wieder, wenn man nicht gerade in einem Wiener Kaffeehaus oder einem Berliner Café sitzt), hat Dale Carnegie zu dieser Thematik in seinem Klassiker zur Freundesgewinnung (von 1936: Der Kontrast zum deutschen Programm jener Tage ist besonders auffällig) die folgende Formel ins Poesiealbum geschrieben: «Es gibt im menschlichen Umgang eine entscheidende Massregel. Wenn man sie befolgt, wird man zahllose Freundschaften schliessen und im Leben glücklich werden; wenn man sie aber bricht, sind endlose Sorgen unausweichlich. Sie lautet schlicht: Gib anderen immer das Gefühl, wichtig zu sein.» Wem Carnegie zu schnöde klingt, der kann sich eine ganz ähnliche Maxime aus der Seelenlehre Adlers ableiten, natürlich mit der wichtigen Einschränkung, dass es im Leben nicht nur darum gehen kann, Freunde zu gewinnen oder glücklich zu werden. Beides scheint jedenfalls bei Herrn Kickl nicht im Vordergrund zu stehen.

 

Die Lage ist hoffnungslos, nicht ernst

Nach der Wahl geht nunmehr die Kunde von Herrn Kickls spürbaren Einsamkeit umher (etwa bei Hans Winkler in der Weltwoche 40/24, «Kärntner Freigeist»), die diesen trotz (oder vielleicht gerade wegen) seinem grossen Wahlsieg umgibt. Von tiefster persönlicher Ablehnung ist da die Rede. Mit Verlaub, was erwarten Sie bitte von Leuten, die entweder bereits mit gnadenlosem Sperrfeuer belegt wurden oder die damit rechnen müssen, in die Schusslinie eines Politkriegers zu geraten, der sich nicht lange mit Kleingewehrfeuer aufhält, sondern mehr oder weniger selbstverständlich zu den schweren Kalibern greift? Sollen die sich jetzt bedanken für seine masslosen Beleidigungen und ihm vielleicht im Gegenzug für die Segen, von ihm öffentlich brüskiert und verächtlich gemacht worden zu sein, eine rauschende Wahl-Afterparty schmeissen – oder wie hat man sich als Uneingeweihter die herrschenden österreichischen Verhältnisse vorzustellen? Wenn es wirklich so liefe, wäre Wien noch viel ausserordentlicher, als man sich dort ohnehin wähnt, mit welcher Berechtigung auch immer.

Darf man alles nicht so ernst nehmen, heisst es vielleicht als Nächstes: alles bloss Politiktheater. Daran mag etwas sein: Dass auf der politischen Bühne manch böses Wort fällt, das danach nicht auf die Goldwaage gelegt werden sollte, stimmt sicher. Trotzdem bleibt der Mensch auch im politischen Geschäft Mensch. Insbesondere für Männer im öffentlichen Leben ist es nicht gerade bezeichnend, sich mit selbstironischer Gelassenheit als Waschlappen verhöhnen zu lassen; dass die Bereitschaft dazu ausgerechnet unter denen am ausgeprägtesten sein soll, die sich auf Disraelis «Greasy Pole» besonders weit nach oben gehangelt haben, scheint mir denkbar unwahrscheinlich. Es bleibt also abzuwarten, inwieweit Herr Kickl auf Nachsicht für seine Tritte in diverse Weichteile zählen kann, während er sich andererseits als besonders aufrichtig und unverblümt inszeniert. Darauf, es dann doch nicht so gemeint zu haben, wird er sich jedenfalls kaum zurückziehen können, wenn er sein Image als vermeintliche Lichtgestalt der Integrität zu wahren hofft.

Es bleibt abzuwarten, inwieweit Kickl auf Nachsicht für seine Tritte zählen kann.

Ich empöre mich nicht, wie gesagt, sondern wundere mich nur weiter und werde mit entsprechendem Interesse verfolgen, ob Herr Kickl den Beleg erbringen kann, dass es mit der carnegieschen Formel entweder weniger weit her ist, als man meinen sollte, oder ob vielleicht der Zynismus der Politik tatsächlich so uferlos ist, dass selbst die vermeintlichen Mafiosi und grössten Schwächlinge aller Zeiten (eine eigenwillige Kombination, wie mir gerade auffällt) zum Zweck der Machterhaltung (oder vielleicht auch der Staatsraison) die Kröten schlucken werden, die ihnen der Kicker so bereitwillig aufgetischt hat in den letzten Jahren. So oder so wird die Welt nicht untergehen, allen apokalyptischen Tönen zum Trotz, die gerne angeschlagen werden dieser Tage, sei es auf Seiten des zu erwartenden Öko-Meltdowns, des finanziellen Zusammenbruchs oder der vielbeschworenen Kapitulation des Abendlandes vor dem Halbmond des Propheten. So leicht geht die Welt nicht unter, auch die westlich-liberale nicht, und die Lage bleibt wohl auch in Wien wie gehabt hoffnungslos, aber nicht ernst.

 

Daniel Pellerin ist Professor für Humanities am Mahidol University International College in Thailand.