Ein Kennzeichen der Schweizer Demokratie ist ihre Vielstimmigkeit. Unter den Bürgern ihrer Nachbarländer dürfte es nur wenige geben, die auch nur einen einzigen Schweizer Politiker namentlich benennen können. Die Schweiz wird eher kollektiv regiert, darum dauert vieles länger. Manche Chancen mögen so entgehen, aber auch viele Fehler können mangels Gelegenheit nicht gemacht werden. Durch das System der Volksabstimmungen gibt es zudem immer wieder die Gelegenheit, quasi basisdemokratisch den Regierenden Grenzen aufzuzeigen. Als Folge erscheint manches unlogisch oder auch absurd, zum Beispiel das Schweizer Minarettverbot, aber es ist eben trotzdem wirksam. So stabilisiert sich das Schweizer politische System in einer manchmal kruden Mischung aus Fortschrittswillen und Beharrungsvermögen.

Kann das Schweizer Modell ein Exportartikel sein? Ich glaube das eher nicht, weil man es nicht von seinen Bedingungen lösen kann. Den grössten Vorbildcharakter hat für mich die Möglichkeit zu Volksabstimmungen bei wichtigen Grundsatzfragen. Mit der Möglichkeit zu einer Volksabstimmung hätte es in Deutschland weder die Aufgabe der D-Mark zugunsten des Euro noch den Ausstieg aus der Kernkraft und auch nicht die Grenzöffnung 2015 für die asylbedingte Masseneinwanderung gegeben.

Europa konnte erst gedeihen, als Napoleon durch eine europäische Koalition besiegt war.

Aber wäre es mit Volksabstimmungen in den fünfziger Jahren zur bedingungslosen Westintegration, zum Nato-Beitritt und zur Gründung der EWG gekommen? Das war nur dem rastlosen Einsatz Konrad Adenauers zu verdanken, der eine übermächtige Führungsfigur war. Adenauer war sicherlich ein überzeugter Demokrat, aber der Volkswille war ihm ziemlich egal. Er wollte das durchsetzen, was er für richtig hielt, und das hat er auch geschafft. Ähnlich hielten es später – je bei ihren Themen – Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel. Die von Letzterer durchgesetzten Richtungsentscheidungen werden allerdings die deutsche Zukunft auf Jahrzehnte negativ prägen, so, wie sie durch Adenauers Grundsatzentscheidungen positiv geprägt wurde.

Das politische System der Schweiz ist nicht denkbar ohne den Grundsatz der Neutralität. Diese wiederum ist nicht denkbar ohne die Schweizer Geografie, die die Unauffälligkeit im Windschatten des Weltgeschehens begünstigt. Natürlich hätten die habsburgischen Kaiser schon im Mittelalter die widerspenstigen Eidgenossen dauerhaft niederwerfen können. Aber im Verhältnis zum Gewinn der böhmischen und ungarischen Königskrone war ihnen die Herrschaft über Bern und Zürich einfach nicht wichtig genug. Im ewigen Kampf mit Frankreich wälzten sich die grossen Heereszüge durch die burgundische Pforte oder über die Ebenen Flanderns. Niemand nahm den Umweg über das Schweizer Juragebirge, und so blieb die Schweiz bis auf die kurze Zeit der Helvetischen Republik von europäischen Wirren weitgehend verschont.

Für Deutschland gab es nie die Wahl, sich in der Aussenpolitik neutral zu verhalten. Das liess im frühen 19. Jahrhundert Napoleon nicht zu. Europa konnte erst gedeihen, als er durch eine gesamteuropäische Koalition besiegt war. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs beging Deutschland den Fehler, sich den falschen Verbündeten zu suchen – Österreich-Ungarn statt Grossbritannien. Das führte zur Niederlage von 1918, zur nationalsozialistischen Machtergreifung und zu den Schrecken des Zweiten Weltkriegs mitsamt der ewigen Befleckung deutschen Ansehens durch den Judenmord.

Insbesondere Letzteres hat bei den Deutschen die Tendenz verstärkt, sich vor der Geschichte kleinzumachen und am besten ganz aus ihr wegzutauchen. Unter Ausklammerung der Gnome aus Zürich möchten viele aus Deutschland eine Schweiz im Geiste machen: nett zu jedem, Geschäfte mit allen und – als spezifisch deutsche Zugabe – eine untadelige Friedensmoral. AfD und BSW ziehen ihre gegenwärtige Stärke nicht nur aus ihrer migrationskritischen Haltung, sondern vor allem aus der Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine. Deutschland kann sich aber nicht wegducken nach dem Vorbild der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Dazu ist es zu gross und liegt zu zentral. Mit deutschen Waffenlieferungen wird die Ukraine den Krieg gegen Russland vielleicht verlieren, ohne diese Unterstützung wird sie ihn bestimmt verlieren – und was geschieht dann in Ost- und Mitteleuropa?