Der Wolf, wissenschaftlich Canis lupus, ist ein Popstar. Schillernde Projektionsfläche. Verzückt umschwärmt von den einen. Ein tierischer Jack the Ripper, sagen die anderen. Wer ist er wirklich, dieser Wolf?

Unlängst galt der Wolf als anspruchsvoller, menschenscheuer Bewohner urtümlicher Wälder und Indikator für eine intakte Natur. Heute ist klar: Wölfe leben einfach dort, wo wir sie leben lassen. Ob in der rumänischen Vorstadt oder norddeutschen Agrarsteppe, in alpenländischer Kulturlandschaft oder im Waldnationalpark, Wölfe lassen sich nieder, wo sie genug zu fressen finden. Wählerisch sind sie nicht. Zuoberst stehen hierzulande Hirsch und Reh, sie erbeuten jedoch alles von Büffel bis Maus, Vögel, Nutztiere, Katzen und Hunde. Hauptsache Fleisch. In Notzeiten überdauern sie mit Beeren und Kräutern.

 

Wolf oder Wohlstand

Vor 8000 Jahren begannen die Menschen, in Mitteleuropa Ackerbau und Viehwirtschaft zu betreiben, die ersten Spuren von Alpwirtschaft sind 7000 Jahre alt, die Reste der ältesten bekannten Alphütte der Schweiz 3000 Jahre. Zweifellos waren Wölfe eine ständige Gefahr. Mit den Wölfen zu leben, hiess, sie wo immer möglich zu töten. Seit Jahrtausenden.

Die alten Eidgenossen taten dies mit schweizerischer Perfektion. Im Jahr 1548 schrieb der Chronist Johannes Stumpf: «Diese Wölfe findet man in keinem Land Europas minder als im Alpgebirge von Helvetien. Sodann einer aus Lamparte [der Lombardei; d. Red.] heraus oder aus anderen Deutschen anstossenden Landen herein kommend, sind es seltene Gäste, und werden vom Landvolk grimmig verfolgt.» Auch Adler, Fuchs und Luchs wurden als sogenanntes Raubzeug, Hirsch und Reh als Schädlinge an landwirtschaftlichen Kulturen eliminiert.

Die einwandernden Wölfe wurden unter anderem im Jahr 1511 drei Näherinnen in der Nähe von Chur oder 200 Jahre später einem Münstertaler Mädchen, das abends am Brunnen Wasser holen wollte, zum tödlichen Verhängnis. Gefackelt wurde nicht lange. Im Winter 1801 erschlug ein Engadiner Bauer einen Wolf mit der Axt, als der sich auf seinen Hof getraute. Die Koexistenz zwischen Wölfen und Weidewirtschaft war nie friedlich. Wolfsjagd war integraler Teil der Landschaftspflege. Dazu wurden mit Fleisch versehene Widerhaken, Gift, Fangnetze, Lanzen und Wolfsgruben eingesetzt, in den Nachbarländern auch speziell trainierte Jagdhunde, ganze Fanganlagen, die «Wolfsgarten» genannt wurden, und in jüngeren Zeiten Schusswaffen. Die Todesstrafe für Viehraub traf nicht nur den Wolf. Anno 1811 wurde in Chur ein Mann hingerichtet, weil er ein Schaf gestohlen hatte. Das Vieh war wertvoll, sein Verlust gefährdete die Existenz der ganzen Familie.

Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Wölfe in Westeuropa bis auf minimale Restbestände eliminiert. Das gelang weltweit sonst nirgends auf so grosser Fläche. In die gleiche Epoche fiel die Begradigung der wilden Alpenflüsse und Trockenlegung der grossen Moore im Mittelland. Die Hochwassergefahr wurde gebannt, fruchtbarer Boden gewonnen und die Malaria ausgerottet. Es war ein sich gegenseitig bestärkender Prozess aus Industrialisierung, landwirtschaftlichen Mehrerträgen und Eindämmung von Naturgefahren. Die Volksgesundheit wurde verbessert und die Basis für den späteren Wohlstand gelegt. Ebenjenen Wohlstand, dank dem wir uns Hirsch, Adler und Luchs heute leisten können und der uns überhaupt über Wölfe diskutieren lässt. Wölfe hat nur, wer in Armut oder Luxus lebt.

Interessanterweise geht in weiten Teilen Europas die Tilgung der Wolfsbestände mit der Zunahme von Freiheitsrechten einher. Offen ist allerdings, ob es sich bloss um eine Koinzidenz oder einen Kausalzusammenhang handelt. Immerhin hatten Feudalherren ein gewisses Interesse an Wölfen. Wolfsjagd war ein vergnüglicher Freizeitvertrieb. Zudem kam es den hohen Herren zupass, wenn sich die Unfreien mit den Wölfen herumschlugen. Das kühlt den Mut von Aufmüpfigen und betont die Bedeutung des herrschaftlichen Schutzes.

 

Die Schweiz als wohlgefälliger Garten

Die geregelte Weidewirtschaft konnte sich erst entwickeln, als die Wölfe weitgehend verdrängt waren. Nur so konnte eine Landschaft entstehen, die einen weltweit einzigartigen Reichtum an Strukturen, Verzahnungen, kleinflächigen und unterschiedlichen Nutzungen aufweist. Die Schweiz als wohlgefälliger Garten, wie sie schon Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert beschrieb, entstand.

Viehhaltung in Kleinherden, Mahd von steilen, entlegenen Wiesen oberhalb der Baumgrenze und Ackerbau auf Kleinparzellen bis in Hochlagen waren für die damalige Subsistenzwirtschaft unentbehrlich. Ein Auskommen zu finden, war aufreibend, das Leben am Berg aufgrund der Lawinen gefährlich. Das System lief am äussersten Limit. Zusätzlichen Aufwand für Prädatorenabwehr vertrug es nicht. ›››

Hirten waren allgegenwärtig. Sie hatten nicht die Aufgabe, das Vieh vor Raubtieren zu schützen. Ihnen oblag, das Weidevieh am richtigen Ort zu halten. Eingesetzt wurden die Jüngsten, Alten und Lahmen, die nicht auf Hof und Feld arbeiten konnten. Sie hatten gar nicht die physischen Möglichkeiten, sich gegen Wölfe zu wehren. In der Geschichte Mitteleuropas gibt es denn auch keine Tradition von passiven Herdenschutzmassnahmen.

 

Gelebte Nachhaltigkeit

Wenn es sie nicht schon gäbe, dann müsste man sie erfinden: die Alpwirtschaft. Sie ist gelebte Nachhaltigkeit in Reinkultur. Das Tierwohl ist maximal. Die Weidetiere haben Auslauf rund um die Uhr, das Vieh wird zum nahrhaftesten Futter geführt, bei Hitze kann es nachts fressen. Unter freiem Himmel können natürliche Abkalbungen stattfinden. Naturnäher geht nicht.

Lange Zeit wurde das Weidevieh durch Menschen gehütet, weil die Menschen günstiger als Zäune waren. Die Hirten wurden später weitgehend durch Stromzäune ersetzt. Das Weidevieh kann nun noch besser genau dann und dort gehalten werden, wo es Wetter, Gelände, Wasser und Futter empfehlen. Die Kinder gehen zur Schule, für die Alten gibt es eine Pension, für Versehrte eine Invalidenrente. Win-Win für Tier und Mensch.

Profitiert hat auch die Artenvielfalt. Ein wilder, ungenutzter Alpenraum wäre bedeutend artenärmer als die bewirtschaftete Kulturlandschaft. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten sind auf die Wiesen, Weiden, Äcker und künstlichen Kleingewässer angewiesen. Besser geht’s nicht: Der Mensch lebt und nutzt, die Natur profitiert. Win-Win.

Hergestellt werden gesunde, naturbelassene Lebensmittel. Landen tun sie nicht auf dem Weltmarkt, sondern in der nahen Region. Nachhaltigkeit durch kurze Transportwege.

Alpwirtschaft steht quer zur gesellschaftlichen Entwicklung. Sie bildet ein geistiges Reduit, das sich der Moderne widersetzt. Nicht Digitalisierung und Anonymisierung, sondern Kontakt mit den Elementen, mit den Tieren. Eigenverantwortung, physische Arbeit, Selbstwirksamkeit – oder Scheitern. Unmittelbar. Nicht «Work-Life-Balance» mit einer Separierung von Arbeit und «Leben», sondern das Leben ist in die Arbeit integriert, die Arbeit ins Leben. Der Blick in die Augen der Kuh, der Sonnenaufgang beim Mähen, der Glanz im taufrischen Gras, die müden Glieder nach einem arbeitsreichen Tag ersetzen Achtsamkeitsübungen und Schlaftraining.

 

Hotspot der Biodiversität

Der Alpenraum ist ein Hotspot der Artenvielfalt von gesamteuropäischer Bedeutung. Das Magazin Hotspot des Bundesamts für Umwelt (Bafu) schrieb in seiner 27. Ausgabe: «Für die biologische Vielfalt der Schweiz haben die Alpen eine ausserordentlich hohe Bedeutung. [. . .] Das Biodiversitätsmonitoring Schweiz BDM hat nachgewiesen, dass bei vielen Organismengruppen die Artenzahlen auf der alpinen Stufe besonders hoch sind und viele Arten hier ihren Verbreitungsschwerpunkt haben. Insgesamt ist das Grünland der subalpinen und alpinen Lagen um rund ein Viertel artenreicher an Pflanzen als das Grünland im Flachland.» Über 80 Prozent der national bedeutenden Moore, Auen, Trockenwiesen und -weiden liegen im Alpenraum.

Der Zungenbrecher «Trockenwiesen und -weiden» meint die artenreichen Blumenwiesen von höchster Qualität. Es gibt an wenigen Orten wie zum Beispiel im Mittelwallis natürliche Trockensteppen, die auch ohne menschliches Zutun waldfrei bleiben. Alle anderen Flächen bedürfen der Pflege durch Mahd oder Beweidung. 93 Prozent ihrer aktuellen Flächenausdehnung liegen in Jura und Alpen, 62 Prozent werden beweidet.

Die Bedeutung der Trockenstandorte für den Artenschutz kann gar nicht stark genug betont werden. Sie gehören zu den Lebensräumen mit den meisten gefährdeten Arten. Seit Jahrzehnten gibt es in der Schweiz zwar weder Arten- noch Insektensterben, aber es gibt eine anhaltende Verlagerung. Anspruchslose Habitatgeneralisten sowie Bewohner von nährstoffreichen Standorten und Wäldern nehmen zu, ebenso grosse und mittelgrosse Arten, allen voran Beutegreifer. Unter Druck stehen die anspruchsvollen Habitatspezialisten sowie Bewohner von nährstoffarmen Standorten und Offenland, ebenso kleine Arten, allen voran Beutearten. Letzteres beschreibt exakt die Lebensgemeinschaften der Trockenstandorte. Für über tausend spezialisierte Tier- und Pflanzenarten haben die Wiesen und Weiden des Alpenraums eine hohe Verantwortung. Das heisst, wenn sie im Berggebiet verschwinden, dann verschwinden sie mit grosser Wahrscheinlichkeit ganz aus der Schweiz.

Die Bedeutung und die Bedrohung wurden erkannt, und Trockenstandorte sind bundesrechtlich geschützt. Es ist untersagt, sie in Qualität oder Fläche zu beeinträchtigen. Der Schutz ist rigide. Jegliche Nutzungsintensivierungen, Erschliessungen und andere Bauprojekte sind verboten, auch forstwirtschaftliche und touristische Nutzungen dürfen dem Schutz nicht zuwiderlaufen, selbst für das angrenzende Land gibt es Bewirtschaftungsbeschränkungen.

Die Ausdehnung der Trockenstandorte ging in der Schweiz seit 1900 um rund 90 Prozent zurück; zumindest besagt das eine Modellierung der ETH-Forschungsanstalt WSL. Eine darauf basierende Auswertung für den Kanton Graubünden hat gezeigt, dass rund 5 Prozent der Verluste auf Nutzungsintensivierungen zurückzuführen sind. Satte 95 Prozent aber sind der Nutzungsaufgabe respektive Bewaldung geschuldet.

Die Trockenstandorte zuwachsen lassen, weil das dann «richtige» Natur sei, ist keine sinnvolle Option. Das würde das Ende des Arten- und Biotopschutzes bedeuten. Weshalb sollte der Forstdienst gehindert werden, aus Sicherheitsgründen eine neue Erschliessungsstrasse durch Schutzgebiete zu bauen, weshalb darf der Bauer nicht Gülle ausbringen, um für sein Vieh nahrhafteres Heu zu gewinnen, weshalb soll die Gemeinde nicht ihre Bauzone erweitern können? Wenn der Erhalt von seltenen Arten offenbar gar nicht relevant wäre, wären sämtliche Restriktionen fürs Bauen obsolet.

 

Ende der Kulturlandschaft

Trockenstandorte sind meist sogenannte Grenzertragsflächen: abgelegen, steil, unerschlossen, mager. Ihre Bewirtschaftung ist nicht nur aufwendig, sie liefern auch nur wenig und schlechtes Futter. Strukturvielfalt und Nährstoffarmut sind ein doppelter Grund für die hohe Artenvielfalt. Sie sind aber auch ein doppelter Grund, die Nutzung zu intensivieren – was verboten ist – oder ganz aufzugeben. Deshalb wird die extensive Bewirtschaftung mit öffentlichen Geldern gefördert.

Der Schutz der Trockenwiesen und -weiden ist eine Erfolgsstory. Vor etwa fünf Jahren wurde das nationale Inventar überarbeitet. Die erfasste Fläche war um einiges grösser als zwanzig Jahre zuvor. Das ist nicht selbstverständlich. Eine Kuh kann nicht einfach mehr fressen, wenn das Futter mindere Qualität hat. Hochleistungskühe würden buchstäblich vor der vollen Futterkrippe verhungern. Es mussten komplett neue Betriebsformen aufgebaut werden, vielfach mittels Reaktivierung alter Rassen. Die Leistungszucht hatte dazu geführt, dass um die 1980er Jahre typische, alte Schweizer Nutztiere fast verschwunden waren, weil sie zu wenig Ertrag lieferten. Rassen wie Hinterwäldervieh, Pfauenziege, Engadiner Schaf et cetera wurden kurz vor dem Verschwinden in speziellen Zuchtprogrammen aufgefangen. Die Förderung dieser alten Rassen und die Bewirtschaftung von extensiven Wiesen und Weiden gehen Hand in Hand. Um die Steilhänge zu beweiden, braucht es die alten Rassen, weil sie leicht und trittsicher sind. Das magere Heu der Trockenwiesen kann nur von genügsamen Tieren verwertet werden.

Berglandwirtschaft mit ihren ziselierten Verknüpfungen ist ein gewachsenes, komplexes, organisches Netzwerk. Auch wenn die Wolfspräsenz nur einzelne Fäden kappt, so kann sie doch das ganze Gebilde zum Einsturz bringen. Es drohen vierzig Jahre Naturschutzarbeit und Jahrhunderte mühevoller Nutzungstradition in sich zusammenzustürzen.

Das blieb auch Ökologen nicht verborgen. Im März 2024 wandte sich ein Komitee aus Hochschulprofessoren und aktiven Naturschützern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit der Maienfelder Erklärung an die Öffentlichkeit: «Mit einer Fortsetzung der bisherigen Wolfspolitik, die auf einem überholten Sachstand und einer fehlenden Gesamtbetrachtung basiert, ist Europa dabei, seine weltweit einzigartigen, in Jahrhunderten gewachsenen Grünlandkulturlandschaften zugrunde zu richten. Das europäische Schutzgebietssystem wird grossen Schaden nehmen, wenn Weidetraditionen und andere extensive Bewirtschaftungsformen wie die Bergwiesenmahd verloren gehen. Ohne eine Anpassung der Wolfspolitik ist die zunehmende Gefährdung streng geschützter Arten unausweichlich, und Europa macht sich schuldig an einer grossflächigen Verschlechterung von bedrohten Lebensräumen.»

 

Teurer, aber sinnloser Herdenschutz

Mit Herdenschutzmassnahmen soll obiges Dilemma aufgelöst werden. Vor wenigen Jahren galten Stromzäune von neunzig Zentimeter Höhe als wolfssicher. Oder die Anwesenheit von Menschen, eines einzelnen Hundes oder von Eseln würde genügen, die Wölfe fernzuhalten. Gefährdet seien ohnehin nur Schafe und Ziegen.

Die technische Umsetzbarkeit ist gerade im Berggebiet sehr begrenzt, wo rollende Steine oder laufendes Wild die Zäune immer mal wieder umdrücken oder Schnee, der auch im Sommer fallen kann. Die Zäune müssen im steilen Gelände mindestens zweimal pro Tag kontrolliert werden, um Defekte rechtzeitig zu entdecken. Sprünge von Wölfen über Zäune von bis zu 1,4 Meter Höhe konnten schon gefilmt werden, noch höhere wurden erwiesenermassen überwunden. Trotz Anwesenheit von schreienden und steinewerfenden Hirten werden Schafe einfach weggetragen. Herdenschutzhunde werden ausgetrickst oder getötet. Esel werden gefressen. Wo das nächtliche Sicherheitsdispositiv massiv ausgebaut wurde, griffen die Wölfe am Tag an. Auf dem wölfischen Speiseplan stehen Schafe und Ziegen, aber auch Pferde, Rinder und wehrhafte Mutterkühe, selbst wenn sie sich in geschlossenen Gruppen befinden. Nicht jeder Wolf verhält sich so, aber in jedem steckt das Potenzial dazu. Herdenschutz ist ein Wettrüsten ohne Ende, beziehungsweise das Ende sieht man im Tierpark: vier Meter hohe, einbetonierte Zäune mit Überkletterschutz und Stromdrähten.

Aus naturschutzfachlicher Sicht ist etwas anderes bedeutsamer: Herdenschutzmassnahmen laufen den Zielen geschützter Lebensräume und Arten zuwider. Mit Millionenbeträgen werden Wildtierbrücken und Kleintierdurchlässe errichtet; teuer, aber sinn- und wirkungsvoll. Gleichzeitig soll im Namen des Naturschutzes die Landschaft mit Zäunen zugestellt werden. Tiere werden an der Ausbreitung gehindert, oder sie verfangen sich in den Stromzäunen; allen voran Hirsche, Rehe, Gämsen, Eulen, Hasen und Igel. Kleintiere wie Schlangen, Frösche und Singvögel, die durch die Zaunnetze schlüpfen könnten, werden durch Stromschläge getötet. Von April bis Juli, in Naturschutzgebieten oft ganzjährig, gilt üblicherweise eine Leinenpflicht für Hunde. Und nun geht man hin und bringt die wildesten Hunderassen während der sensibelsten Zeit in die wertvollsten Gebiete. Dort können sie Kleintiere direkt töten, oder aufgrund ihrer dauernden Präsenz werden die Flächen beispielsweise von Schneehasen und Birkhühnern nicht mehr genutzt. Die argumentative Gegenwehr ist indes schon aufgebaut: Für einen allfälligen Rückgang der sensiblen Tiere werden dann bestimmt Klimawandel und Landwirtschaft verantwortlich gemacht.

Die Abgeltung von Nutztierrissen kostet ein paar Hunderttausend Franken pro Jahr. Den grossen Batzen machen die Herdenschutzmassnahmen und Management-Aufwände der staatlichen Stellen aus. Komplette Werte sind schwierig zu ermitteln. Die Schätzungen belaufen sich auf fünfzehn bis zwanzig Millionen Steuerfranken pro Jahr. Die nicht gedeckten Kosten für den Mehraufwand der Landwirte dürften in ähnlicher Höhe liegen. Derzeit sind 37 Rudel bekannt, die in der Schweiz respektive landesgrenzenübergreifend leben. Jedes Wolfsrudel kostet also jährlich etwa eine Million Franken.

 

Paternalistischer Naturschutz

Schlechterdings stellen Wölfe genau das in Frage, was gut läuft: die Pflege der verbliebenen artenreichen Wiesen- und Weidelandschaften, die kleinbäuerlichen Strukturen, den Erhalt der artgerechten Haltungsformen von Nutztieren, die Bewirtschaftung von Grenzertragslagen gerade dort, wo sie für den Erhalt der Biodiversität am wichtigsten ist.

Naturschutz hat seine Wiege in liberal-konservativen Kreisen, wurde jedoch zum links-grünen Lifestyle und Geschäftsmodell. Mit einer Kanonade aus geschliffener Rhetorik, Emotionalisierung, Gutmenschentum und Selbstgerechtigkeit wurde eine sowohl schwärmerische als auch in Moralin getunkte Illusion erschaffen. Diese Chimäre zerschellt gerade an der Realität. Nirgends zeigt sich das deutlicher als beim Wolf, aber es betrifft den ganzen paternalistischen Naturschutz. Der Aufprall scheint heftig zu werden. Schmerzhaft und heilsam.

Die Vernunft kehrt ein, und ein europäisches Land nach dem anderen erhöht die Wolfsabschüsse. Die Schweiz nimmt dabei eine Vorreiterrolle ein. «Dank der direkten Demokratie», wie es reihum heisst. Selbstbestimmung, Eigenverantwortung. Wie auf der Alp. Wie vor 500 Jahren.

Marcel Züger, Biologe ETH, ist Inhaber und Geschäftsführer der Umweltdienstleistungsfirma Pro Valladas GmbH in Salouf sowie ehemaliger Grossrat im Kanton Aargau (SP). Im Mai 2025 erscheint sein Buch «Mensch, Wolf! Eine Begegnung mit Bauern, Hirten, Birkhuhn und Apollo» im Somedia-Verlag.