Der Schweizer Physiker Serge Prêtre (1934–2019) hat in seinem Essay «Die Domestizierung des zweiten Feuers» eine Parallele zwischen der mühevollen Eroberung des Feuers durch die Urmenschen und den gegenwärtigen Schwierigkeiten bei der Akzeptanz der Kernenergie gezogen: «Vor ungefähr 700 000 Jahren stellte die allmähliche Entdeckung des Feuers den Beginn der Menschheitsgeschichte dar. Das Feuer war Hauptbestandteil von Fortschritt und Zivilisation. Wir gehen nun zu einem zweiten Zyklus über, und die Geschichte wiederholt sich auf einer viel höheren Ebene. Die Kernenergie (das zweite Feuer) kündet den Beginn von etwas Neuem und Grossartigem an, das zuerst die Ängste unserer Vorfahren wieder aufkeimen lässt, dann aber die Stelle des ersten Feuers übernehmen wird und die Menschheit in eine noch weniger vorstellbare Zukunft befördern wird.»

 

Hiroshima, GAU, ewiger Abfall etc.

Die grausamen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki mit geschätzten 130 000 direkten Opfern befeuerten die Atomangst. Der Super-GAU eines Reaktors wurde mit Atomschlägen gleichgesetzt und mit Horrorzahlen des Millionen Jahre tödlich strahlenden Abfalls ausgeschmückt. Tschernobyl und Fukushima schienen diese Befürchtungen zu bestätigen, und auch hier wurden unwahre Horrorzahlen an Opfern kolportiert. Atom-Angstverbreitung wurde zum wirksamen politischen Machtmittel. Die Alternative – russisches Erdgas – war reichlich und günstig vorhanden. So kam es zu den von Mehrheiten getragenen Kernkraftmoratorien und Ausstiegsbeschlüssen.

Doch der Energiewendewind dreht sich mit den zunehmend sichtbarer werdenden Konsequenzen des Ausbleibens des billigen Gases und den geschürten Ängsten vor dem Spurengas CO2. Energie wird knapp und teuer, und damit steigt die Akzeptanz der Kernenergie.

 

Der Stand der Kerntechnik

Die Kernenergie gehört zu den sichersten und umweltfreundlichsten Energiequellen der Menschheit. Kernkraftwerke erzeugen grundlastfähigen Strom und können die Volatilität der hochgepriesenen «Erneuerbaren» ausgleichen.

Weltweit sind 432 Kernkraftwerke in Betrieb und tragen mit etwa 10 Prozent zur Weltstromerzeugung bei. Die Mehrzahl, nämlich 304, der kommerziellen Reaktoren sind Druckwasserreaktoren. Es werden 63 Siedewasserreaktoren betrieben. Diese Anlagen mit grosser Leistung von tausend und mehr Megawatt (MW) sind die Arbeitspferde der heutigen Kernenergie.

Darüber hinaus gibt es noch gasgekühlte und schwerwassermoderierte Reaktoren. Die heutigen Reaktoren bremsen mittels Wasser oder Grafit die schnellen Neutronen auf ein sogenanntes thermisches Energieniveau ab. Die Neutronen im Reaktor stossen mit den Atomen des Moderators zusammen. Dieses Abbremsen kann man sich wie eine Billardkugel vorstellen, die bei jedem Zusammenstoss mit einer anderen Kugel langsamer wird, also Energie verliert. Ein so gebremstes Neutron kann das Isotop Uran 235 spalten, das etwa 5 Prozent des Natururans ausmacht. Solche «thermischen Reaktoren» werden als die «Generation drei» der Kernkraftwerke bezeichnet.

Es gibt schon heute ein paar «schnelle Brutreaktoren», zum Beispiel im russischen Bielojarsk mit je 600 und 800 Megawatt Leistung, die Natrium als Kühlmittel verwenden, welches die Neutronen im Gegensatz zu Wasser nicht abbremst. Diese energiereichen Neutronen können auch Uran 238 spalten, das 95 Prozent des Nartururans ausmacht, und haben demzufolge eine viel bessere Brennstoffausnutzung. Sie werden «Generation vier» genannt.

Weltweit sind über fünfzig neue Kernkraftwerke im Bau. Es ist eine realistische Vorstellung, dass in einigen Jahren die Kernenergie etwa 25 Prozent zur weltweiten Stromerzeugung beiträgt. Viele Länder entwickeln neue Reaktortechnologien der Generation vier. Wir befinden uns mitten in dem Jahrzehnt, in welchem die neuen Reaktortypen ihre Industriereife erlangen. Es sind Dutzende Technologien denkbar. Sie hier zu erläutern, würde den Rahmen sprengen. Welche der Reaktortypen sich durchsetzen, werden die Sicherheit und die Wirtschaftlichkeit entscheiden.

Da sind zum Beispiel die Salzbadreaktoren, die mit Thorium oder sogar Uranabfällen betrieben werden können. Da sind die gasgekühlten Kugelhaufenreaktoren, bei denen der Brennstoff in Keramikkugeln eingebettet ist. Es gibt ein vielversprechendes Projekt eines Dual-Fluid-Reaktors, bei dem der flüssige Brennstoffkreislauf durch Blei gekühlt wird und der aufgrund seiner Parameter ideal zur Wasserstoffsynthese geeignet wäre.

Es gibt einen Trend zu kleineren Einheiten von zirka 300 Megawatt, die in Serie gefertigt werden können. Diese werden Small Modular Reactors (SMR) genannt. Aber auch Mikroreaktoren mit nur einigen Megawatt beziehungsweise Kilowatt sind denkbar, deren Anwendungsmöglichkeiten die Grenzen jeder Fantasie sprengen.

Die Reaktoren der Generation vier haben eines gemeinsam: Sie sind inhärent sicher. Der GAU fällt aus, da diese Reaktoren Eigenschaften aufweisen, die sie von Natur aus nicht anfällig für Radioaktivitätsfreisetzung machen. Sie arbeiten meist drucklos, was Kühlmittel-Leckagen unwahrscheinlich macht. Ihre Physik funktioniert so, dass sie im Störfall von alleine «ausgehen», also nicht mit Steuerstäben abgeschaltet werden müssen. Ihre Nachzerfallswärme kann ohne Fremdkühlung abgeführt werden. Dies sind nur einige Beispiele.

Und noch eine gute Nachricht: Viele dieser neuartigen Reaktoren können die Abfälle der herkömmlichen Kernkraftwerke «verbrennen» und das Endlagerproblem entschärfen, da nur noch Abfälle mit Strahlungsgefahr von 300 Jahren entstehen.

 

Energieversorgung revolutionieren

Es gibt Bedarfe für diverse Reaktortypen. Wenn die Akzeptanz steigt, entwickelt sich die Technologie weiter. So sind nukleare Schiffsantriebe denkbar. Es gibt sie ja schon – für U-Boote, Flugzeugträger und Eisbrecher. Warum sollten dann nicht Container- oder Kreuzfahrtschiffe mit inhärent sicheren Reaktoren angetrieben werden? Und vielleicht kommt er ja eines Tages, der LKW-Road-Train, der niemals tanken muss.

In Sibirien arbeitet seit vier Jahren ein schwimmendes Kernkraftwerk mit zwei Schiffsreaktoren und versorgt das Tschukotische Inselnetz mit Strom. Und nicht nur bei der Stromerzeugung wird die Kernenergie eine wichtige Rolle spielen. In Finnland wird der LDR 50 entwickelt, ein spezieller Reaktor für Fernwärmeversorgung. Er ist so konzipiert, dass er in unmittelbarer Nähe einer Stadt steht und diese mit günstiger und umweltfreundlicher Fernwärme versorgt. Fernwärme aus Kernkraftwerken ist keine Zukunftsmusik. Die Stadt Budweis mit der weltberühmten Budweiser Brauerei wird über eine 26 Kilometer lange Leitung mit Fernwärme aus dem KKW Temelin versorgt. Mikroreaktoren mit zehn bis hundert Kilowatt für abgelegene Forschungsstationen oder Weltraumstationen werden seit 2017 entwickelt. Auch das Militär sieht viel Potenzial in kleinen Reaktoren.

 

Geht uns der Brennstoff aus?

Uran ist auf der Erde reichlich vorhanden und reicht für jeden denkbaren Zeithorizont aus. Dazu kommen andere Elemente wie Thorium, dass es noch viel reichlicher gibt.

Entscheidend ist die ausserordentliche Energiedichte der Kernspaltung. Bei der Spaltung von Uran ergibt ein Gramm eine Energie von 22 800 Kilowattstunden (kWh). Das entspricht etwa drei Tonnen Kohle oder dreizehn Fass Rohöl. Mit einem Gramm Uran kann man ein durchschnittliches Einfamilienhaus ein Jahr lang heizen. Und wo wenig Brennstoff benötigt wird, bleibt auch die Abfallmenge klein. Wenn eine grosse Familie ihr ganzes Leben lang ausschliesslich Strom aus Kernenergie bezieht, entsteht gerade mal ein Teelöffel hochradioaktiver Abfall, der zudem auch noch ein Wertstoff ist. Mit den radioaktiven Abfällen, die in den deutschen Zwischenlagern stehen, kann man mit den Reaktoren der Generation vier Deutschland 300 Jahre lang mit Strom versorgen.

Die deutschen Vorreiter haben gezeigt, wie man es nicht machen soll. Hätten sie ihre Kernkraftwerke nicht verschrottet und dafür Unmengen von Wind- und Solarkraftwerken gebaut, hätten sie keine 697 Milliarden Euro für Subventionen ausgeben müssen und hätten ihre Emissionen um weitere 73 Prozent senken können. Die australische Wissenschaftsbloggerin Joanne Nova verweist auf eine Untersuchung von Jan Emblemsvåg im Interational Journal of Sustainable Energy, der genau mit diesen Zahlen unter dem Titel «Renewable Fiasco» darlegt, welch teuren Weg Deutschland eingeschlagen hat.

Die Kernenergie steht weltweit nicht vor ihrem Ende, sondern sie steht an ihrem Anfang. Das zweite Feuer wird mit Sicherheit von der Menschheit gezähmt.

 

Manfred Haferburg ist Kernenergetiker und Publizist. Er ist Berater in Sicherheitsfragen und hat in mehr als 120 Kernkraftwerken weltweit gearbeitet.