Die Schweiz, neutral, mehrsprachig, französisch
beeinflusst, von westlicher Luft durchweht,
ist tatsächlich, ihres winziger Formates ungeachtet,
weit mehr «Welt», weit mehr europäisches Parkett als
der politische Koloss im Norden.

Thomas Mann, Dr. Faustus

 

Medien und Politiker schwelgen seit einem Jahr in einer «Zeitenwende». Anlass bildet der Krieg in der Ukraine. «Zeitenwende», das klingt erhebend, grossartig, schicksalsschwer. Der Begriff ist hilfreich. Mit ihm kann dann alles Mögliche behauptet und begründet werden.

«Zeitenwende» – das suggeriert vielerlei: Epochenumbruch, neue Umstände, neue Gepflogenheiten, Revolution, weg mit dem Hergebrachten. Wer «Zeitenwende» sagt, will den Hebel, die Brechstange ansetzen, wegräumen, was dem Neuen im Weg steht.

Anstatt den Wortgebrauch zu hinterfragen, plappern ihn die Journalisten nach. Erfüllt vom Hochgefühl, Zeuge, ja Mitwisser und Mitgestalter fundamentaler Wandlungen zu sein, ergeben sie sich, erliegen sie der «Zeitenwende», um dem Neuerungsrausch zu frönen.

«Zeitenwende»: Das Wort wirkt wie eine Droge, Alkohol fürs Gemüt, der, das Hirn benebelnd, dem Geist einen geschärften, höheren Sinn vorgaukelt, in Wahrheit aber die Sinne betäubt, das Hirn narkotisiert und nur die Gefühle und das unscharfe Denken enthemmt.

Im Namen der «Zeitenwende» soll zum Beispiel die Schweiz einseitig Waffen liefern an eine kriegführende Macht, Eigentumsrechte für in der Schweiz lebende Ausländer ausser Kraft setzen, den Amerikanern in ihrem Krieg gegen Russland beistehen, ihre Neutralität preisgeben.

Im Zeichen der «Zeitenwende» wollen ausländische Regierungen der Schweiz ihren Willen aufzwingen. Ukraine-Präsident Selenskyj darf im Bundeshaus mehr Waffen für seine Offensiven fordern. Ein amerikanischer Botschafter beschimpft die Schweiz als «Loch» in einem Süssgebäck.

Unsere Politik begegnet all dem mit erstaunlichem Wohlwollen. Auch unsere Medien erachten die auswärtigen Behelligungen als moralisch gerechtfertigt. Wieder mal grassieren die Schweizmüdigkeit, das «Unbehagen im Kleinstaat», das schlechte Gewissen, der Minderwertigkeitskomplex.

Erleben wir eine «Zeitenwende»? Das Gegenteil! Nichts hat sich geändert. Irgendwo herrscht Krieg. Aufregung macht sich breit. Das Ausland macht Druck auf die neutrale Schweiz. Unsere Politiker sind überfordert, einige geben nach, Wirrwarr, Verunsicherung, Eindruck eines Hühnerhaufens.

Von wegen «Zeitenwende». Der Krieg in der Ukraine ist erschreckend konventionell. Zwei Armeen gehen aufeinander los, schlachten sich mit zum Teil uralten, verrosteten Waffen ab. Experten ziehen Vergleiche zur Zeit vor hundert Jahren. Alle werfen sich die fürchterlichsten Verbrechen vor.

Die Propaganda von der «Zeitenwende» soll Diskussionen über die Vorgeschichte und die Ursachen dieses Kriegs verhindern. Man zieht eine Grenze des Denkens. Die «Zeitenwende» dient als moralisches Alibi. Die eigenen Fehler, die Mitschuld am Debakel sollen dahinter verschwinden.

Es gibt keine «Zeitenwende» in der Ukraine. Auf dem Gebiet dieses jungen Staats prallen seit Jahrhunderten geopolitische Interessen aufeinander. Früher waren es Mongolen, Habsburger, Litauer und andere. Heute sind es Russen und Amerikaner, die sich ins Gehege kommen.

Grossmächte sind Raubtiere. Sie verteidigen ihre Territorien. Fühlen sie sich bedroht, schlagen sie zu. Die Amerikaner erklären den globalen Westen und Teile Asiens zu ihrem Revier. Die schwächeren Russen wollen Brocken ihres alten Imperiums verteidigen.

Nichts daran ist neu oder ungewöhnlich. Die Amerikaner haben den Sowjets mit Weltkrieg gedroht, als sie 1962 Atomraketen auf Kuba stationieren wollten. Die Russen haben ihre jahrelange Drohung wahr gemacht, ein Ausgreifen der Nato auf die Ukraine mit militärischen Mitteln zu verhindern.

Der Krieg in der Ukraine ist das Gegenteil einer «Zeitenwende». Er ist eine angekündigte Katastrophe. US-Diplomaten warnen seit dreissig Jahren, dass der Vormarsch der Nato an die russischen Grenzen Krieg bedeute. Hätten die Russen warten sollen, bis US-Raketen vor dem Kreml stehen?

Es heisst, Putin wolle die Sowjetunion zurückerobern. Dafür fehlt jeder Beweis. Die Behauptung, Russland habe sich die Ukraine einverleiben wollen, ist militärisch gewagt. Man kann kein Land dieser Grösse mit 190 000 Soldaten unterwerfen. Die Wehrmacht fiel mit 1,5 Millionen Soldaten in Polen ein.

Vermutlich wollte Putin mit seinem Einmarsch die Ukraine zu Verhandlungen und zu einer Beendigung der Donbass-Bombardierungen zwingen. Im April 2022 waren sich Selenskyj und der Russenpräsident in Istanbul fast einig. Dann sabotierten angeblich die Amerikaner die Vereinbarung.

Wir haben keine «Zeitenwende». Wir beobachten das uralte «Game of Thrones», das blutige Spiel um die Macht. Russland, China und Amerika teilen die Welt unter sich auf, es ergeben sich Konfrontationen, Krieg bleibt eine konstante Möglichkeit.

Für die Schweiz gibt es keinen Grund, vom Bewährten abzurücken. Die Neutralität mag nicht perfekt sein, sie ist auch kein Grund, sich als Held zu fühlen. Aber sie hat sich als taugliches Instrument des Überlebens bewährt. Wer sind wir, sie neu zu erfinden, einfach über Bord zu werfen?

Unsere heutigen Politiker sind, wie wir alle im Westen, wohlstandsverwahrlost. Viele sind mit Farbfernsehen, Handy, PC und zwei Autos in der elterlichen Garage aufgewachsen. Wohlstand stumpft ab, macht übermütig. Man vergisst, warum es einem eigentlich so gut geht.

Ohne die Neutralität wäre die Schweiz vermutlich schon mehrmals zerrissen, zerfetzt, in Kriegen zermalmt worden. Ohne den Mut unserer Vorfahren, die Neutralität auch gegen ausländische Drohungen zu verteidigen, sich dafür buchstäblich aufzuopfern, gäbe es die Schweiz nicht mehr.

Wir sollten uns nicht wie verwöhnte Teenager aufführen, die ihr überfülltes Spielzimmer mit der Welt verwechseln. Wir könnten etwas demütiger und dankbarer auf die Geschichte blicken. «Zeitenwende» ist die Zeitgeistparole einer Generation, die glaubt, nichts mehr aus der Geschichte lernen zu können.

Dabei ist die Neutralität die wirkungsvollste Schweizer Lebensversicherung. Sie hindert unsere Politiker daran, die Schweiz in Kriege zu stürzen. Sie begrenzt die Macht der Politik. Darum leiden die Politiker chronisch an der Neutralität, fordern sie eine «flexible» Neutralität, die sie weniger fesselt.

Darauf kann es nur eine Antwort geben: Nein!

Aber auch dies ist alles andere als neu. Das Gejammer über die Neutralität hat in der Schweiz eine lange Geschichte – wie auch die Klage des Auslands über die neutrale Schweiz. Das Wort der «Zeitenwende» macht deutlich, dass sich eigentlich überhaupt nichts geändert hat.