Kann man fröhlich traurig sein? Gibt es den zuversichtlich Verzweifelten? In der Literatur schon. Dort wimmelt es von Protagonisten, die sich an Trauer und Verzweiflung laben, als tauge nichts anderes als Lebenselixier.
Simon Nardis ist einer dieser zufrieden wehmütigen Antihelden. Ein Tagträumer, der die Hälfte des Lebens hinter sich hat und den ein Hauch von Melancholie umweht: Er, der Ingenieur, muss von Paris in einen Badeort an der Atlantikküste fahren, um einem jungen Berufskollegen zu helfen, eine industrielle Heizungsanlage zu reparieren. Da Probleme auftreten, verpasst er den Zug am frühen Abend, den er eigentlich nehmen wollte, weil in Paris seine Frau Suzanne auf ihn wartet. Der junge Ingenieur, dem er aus der Klemme geholfen hat, lädt ihn zum Abendessen ein und stellt ihm dann jene verhängnisvolle Frage, die eine Lawine lostritt und Simon Nardis an das frühere Leben erinnert, an das er sich für viele Jahre jede Erinnerung verboten hat: Was er denn für Musik höre, will der junge Mann wissen, ohne zu ahnen, was er damit anrichtet. «Simon zögerte einen Augenblick, und dann mit unvermeidlicher Grimasse, der eines schwarzen Clowns, antwortete er: Jazz.»
Zwei verwandte Seelen
Damit ist das Zauberwort gefallen, die Losung, die das Tor zu Nardis’ Vergangenheit aufstösst. Dass er lügt, dass er dem Jazz seit zehn Jahren aus dem Weg geht, um sein Leben zu retten, verschweigt er. Der junge Ingenieur, der noch immer das Gefühl hat, Nardis etwas schuldig zu sein, und da ausserdem Zeit totzuschlagen ist, bis der Nachtzug fährt, macht den Vorschlag, einen Jazzklub zu besuchen. Der Klub ist, wie sollte es anders sein, ein verrauchter Keller, ein Verlies. Simon Nardis sitzt in der Falle. Spätestens als das Trio – Schlagzeug, Bass, Klavier – anfängt, hat ihn sein früheres Leben, das er abgelegt hat wie ein Kostüm, unweigerlich an der Angel: Nardis ist ein Jazzer gewesen, ein Pianist, dessen Stil die Rolle des Klaviers im Jazz verändert hat, ob er dies nun wahrhaben will oder nicht. Ein Stil, der Spuren hinterlassen und eine ganze Generation junger Pianisten beeinflusst hat.
Nardis kann nicht anders, er muss sich ans Klavier setzen, muss spielen, die Tasten berühren und Töne in den Raum setzen, die sich, vorsichtig tastend vorerst, zur Melodie fügen. Den jungen Ingenieur schickt er nach Hause, er will ihn nicht zum Zeugen seiner Rückverwandlung machen. Kaum hat er das Klavier berührt, ist er für das Leben, das er die letzten zehn Jahre geführt hat, verloren. Der Jazz hat ihn wieder. Hört sich das kitschig an? «Ein Abend im Club» ist ein kitschiges, ein sentimentales Buch. Denn Gailly führt Simon Nardis an jenem Abend im Klub nicht nur mit seiner alten Leidenschaft zusammen, dem Jazz, sondern auch mit einer neuen Liebe. Gailly gibt ihr die Rolle der Klubbesitzerin und Sängerin Debbie Parker, die den früheren Star Nardis erkennt und zu ihm auf die Bühne steigt. Deutlicher kann ein Autor die Weichen nicht stellen: Zwei verwandte Seelen haben sich gefunden, und eine Liebesgeschichte nimmt ihren Anfang. Dass das Nardis’ Ehefrau Suzanne kein Glück bringt, liegt auf der Hand; aber die Entscheidung des Autors, sie auf dem Weg, den verlorenen Gatten zurückzuholen, durch einen Autounfall sterben zu lassen, macht das Buch vollends zum Rührstück.
Die Ahnung des Saxofonisten
Der dünne Roman «Ein Abend im Club» ist nicht so leicht, wie er gerne wäre. Christian Gailly versucht die Worte in den Raum zu tupfen wie ein Jazzpianist einzelne Töne, doch seine Sätze sind zu sehr mit Bedeutung belastet, als dass sie schweben könnten. Der Märchenton, den er mit aller Macht anstrebt, gelingt ihm nicht. Gaillys Sätze mögen knapp und kurz sein, leicht und fragil sind sie nicht; man spürt ihnen die Anstrengung an, die Anstrengung, flüchtig und zugleich leidenschaftlich zu sein – wie Jazz eben.
Christian Gailly war Jazzsaxofonist, hat also durchaus eine Ahnung von Jazz. Christian Gailly war aber auch Psychoanalytiker, und das ist seiner Prosa leider nur allzu deutlich abzulesen. Damit er etwa die vielen philosophierenden und psychologisierenden Bemerkungen loswerden kann, macht er einen namenlosen Freund Simon Nardis’ zum Erzähler, der sich unablässig selbst kommentiert und sich, da er Maler ist, über das Wesen der Kunst und der Künstler auslässt. Über Musik zu schreiben, ist nicht einfach. Wie Musik zu schreiben, schon gar nicht. Dem Autor Christian Gailly ist weder das eine noch das andere gelungen.
Christian Gailly: Ein Abend im Club. Roman.
Berlin-Verlag. 141 S., Fr. 27.50