Am 6. Dezember, im Vorfeld der Bundesratswahlen, riefen die Zeitungen von CH Media Gerhard Pfister zum «Mann der Stunde» aus. Noch nie seit 2003 sei die Mitte, vormals CVP, «so nah an einem zweiten Sitz wie heute» gewesen. Pfister müsse «nur ja sagen», um selbst Bundesrat zu werden. Die Anekdote steht für die fiebrige Erregung der «Gerhard-Pfister-Festspiele» (Weltwoche), die seit den Parlamentswahlen im Oktober andauern und rund um die Bundesratskür, an der Pfister allen herbeifantasierten «Geheimplänen» zum Trotz nicht als Kronprinz, sondern bloss als Teil des 246-köpfigen Wahlkörpers teilnahm, ihren Höhepunkt erreichten.

Auch Medien wie der Nebelspalter, die den sich inzwischen «sozialliberal-urban schminkenden» Parteilenker eher kritisch sehen, stellten fest, er wirke «derzeit geradezu berauscht». Es verging kein Tag, an dem er nicht im Fokus einer sich erstaunlich anschmiegsam gebenden, ihn raunend umringenden, zum grossen Wahlsieger hochschreibenden Journalistenschar stand. Sogar die linke Wochenzeitung, die Pfister früher mied wie der Teufel das Weihwasser, wollte ihn in die Regierung schreiben («Der Kandidat heisst Pfister») und widmete ihm im Oktober ausserdem ein vierteiliges Wohlfühlinterview («Sind Sie sozialpolitisch sensibler geworden?»).

Die Debatte wurde noch zusätzlich befeuert, als Breitling-Chef und GLP-Sponsor Georges Kern eine Fusion der Grünliberalen mit der Mitte anregte. Ein Steilpass für Pfister, den er gar nicht zu versenken brauchte, um erneut mit Pokerface als Sieger vom Platz zu gehen.

 

Triumph im Promillebereich

Bei allem teils politisch motivierten Überschiessen, Überdrehen dieser Pfister-Mania – auch seine eingefleischtesten politischen Gegner müssen eingestehen, dass es zweifellos eine Leistung ist, sich derart ins Gespräch zu bringen. Sie wird umso verblüffender, wenn man die nüchternen Zahlen anschaut. Bei den Wahlen im Herbst hat Pfisters Mitte den Wähleranteil um ganze 0,3 Prozentpunkte gesteigert. «Wenn es einer schafft, im Promillebereich zuzulegen und gleichzeitig als Wahlsieger dazustehen, dann verdient das schon einen gewissen Respekt», heisst es aus dem Lager der Konkurrenz. FDP-Präsident Thierry Burkart, der sich mit Pfister ein enges Rennen darum lieferte, wer hinter SVP und SP die drittstärkste Kraft im Lande ist, anerkennt: «Pfister hatte Erfolg – und der spricht für ihn.»

Vergessen ist auch, wie er anfangs versuchte, die CVP auf den Pfad alter Tugenden zurückzuführen.Dabei muss man auch den Ständerat einbeziehen, wo die Mitte nach wie vor eine Macht ist. Im Kanton Aargau schaffte mit Marianne Binder-Keller eine Kandidatin den Sprung ins Stöckli, die auf Wahlkampfpodien wiederholt das Kunststück fertigbrachte, in einem einzigen Satz zwei sich widersprechende Meinungen zu vertreten. Damit avanciert sie – und das ist nicht so maliziös, wie es klingen mag – zur kongenialen Mitstreiterin von Pfisters neuer Mitte. Die Partei verzichtete im Wahlkampf konsequent auf Positionsbezüge und pries sich dafür als «konstruktiv» und «lösungsorientiert» an.

Inkohärenz als Programm, eine fast schon genialisch anmutende Inhaltsleere als strategische Erfolgsgarantie am Nullpunkt (denn was anderes ist «Die Mitte»?) der Schweizer Politik – dass dies ausgerechnet einem Gerhard Pfister gelingen würde, hätte noch vor wenigen Jahren niemand zu träumen gewagt, am wenigsten Pfisters Parteigenossen. In den Parlamentarier-Rankings war der in bildungsbürgerlichem Haushalt aufgewachsene Katholisch-Konservative aus dem Kirsch-Kanton Zug immer mit Abstand der Rechtsausleger seiner Partei. Er war intern ein Aussenseiter und litt so sehr darunter, dass er ernsthaft erwog, mit wehenden Fahnen zur SVP überzulaufen, die er heute so inbrünstig abstösst.

Vergessen ist auch, wie er in den Anfangsjahren seiner Präsidentschaft versuchte, die CVP mittels einer «Wertedebatte» auf den Pfad alter Tugenden zurückzuführen. Beredt beschwor er die Tradition des christlichen Abendlandes herauf, als doppeltes Bollwerk gegen den Islamismus und den linken Zeitgeist (wobei, wie man heute sieht, beides gar nicht so weit auseinanderliegt). Diese von ihm selbst angestossene Wertedebatte hat der Wendige nicht nur still und heimlich begraben, sondern er war es auch, der die Partei einem Namenswechsel unterzog und das christliche C der CVP im Zuge eines dem Machterhalt geschuldeten radikalen Rebranding mitleidlos entfernte. Wo Werte waren, ist heute Marketing.

 

Intellektuelle Brillanz, literarische Passion

Man kann das verurteilen, man kann Pfister, wie es nicht wenige im Bundeshaus hinter vorgehaltener Hand tun, als «Opportunisten» und windigen «Fähnliverkäufer» abkanzeln, aber hört man sich bei seinen Parteifreunden um, dann sagen selbst jene, die dem Namenswechsel ursprünglich kritisch gegenüberstanden – etwa die Walliser und die Jurassier –, dieser habe sich bewährt. Philipp Matthias Bregy, Fraktionspräsident im Bundeshaus, erzählt, wie sich seine Oberwalliser Sektion zuerst gewehrt habe, aber dann von Pfisters konsequenter Überzeugungsarbeit habe umstimmen lassen – in der Abstimmung am Schluss mit beinahe sozialistisch anmutender Einhelligkeit.

Es spreche für Pfister, dass er den Neustart trotz viel Gegenwind «relativ gelassen» durchgezogen habe, meint Valérie Dittli, Mitte-Staatsrätin in der Waadt. Gerade dort habe das geholfen, neue Wählerschichten zu erschliessen. Dabei kämen Pfister seine «überlegte Art», seine «grosse Erfahrung» und seine «Geduld» zustatten. Allerdings – wenn wir kurz bei seinen Eigenschaften als Parteichef bleiben – darf man diese gewisse Coolness nicht mit einem führungstechnischen Hallodri verwechseln, im Gegenteil. Es sei «immer eine Herausforderung», mit ihm zusammenzuarbeiten, sagt Fraktionschef Bregy über den Schnelldenker: «Er verlangt viel von sich und den anderen.»

Fast schon zum Gemeinplatz geworden sind Pfisters intellektuelle Brillanz und seine literarischen Passionen, wobei sich andere Politiker bisweilen aufregen, dass Pfister von Journalisten ständig danach gefragt werde, welches Buch er zuletzt gelesen habe – und sie nicht. Auch dies sind natürlich keine politischen Inhalte, aber man muss es Pfister lassen, dass er es geschafft hat, sich dieses Image eines belesenen Intellektuellen aufzubauen, das ihm insbesondere bei den Journalisten weitere Pluspunkte bringt.

Parteikollege und Bauernverbandspräsident Markus Ritter vergleicht Pfisters rhetorisches Talent gar mit jenem des legendären St. Galler CVP-Bundesrats Kurt Furgler, der gewissermassen noch Politik mit der Hornbrille gemacht hatte und als glänzender Debattierer Furore machte. Als ein Beispiel nennt Ritter die «tiefgründige» Laudatio, die Pfister auf den abtretenden Mitte-Bundeskanzler Walter Thurnherr hielt. «Für die Partei ist Pfister ein Glücksfall», urteilt Ritter.

Auch der Zürcher Nationalrat Philipp Kutter lobt Pfister als den «derzeit stärksten Parteipräsidenten». Von dem von ihm angestossenen Namenswechsel habe bei den eidgenössischen Wahlen die Kantonalpartei im «säkularen» Zürich profitiert, wo vermehrt Junge angesprochen worden seien. Wenn sich Pfisters eigene Leute leise kritisch über ihn äussern, dann geht es meist um seinen etwas distanzierten Habitus, er sei halt «nicht so der gesellige Typ», heisst es, kein «Festbruder», auch kein Motivationskünstler, der den Teamspirit ankurble, schon gar kein Toni Brunner (SVP), der mit dem breitesten Lächeln ultrajovial auf die Leute zuging, wie das eher noch dem Naturell von Pfisters Vorgänger Christophe Darbellay entsprach.

Keiner im Bundeshaus ist so hemmungslos in seinen Kapriolen wie Pfister.Was also steckt hinter dem Phänomen Pfister und den spektakulären Spitzkehren in seinem politischen Leben? Fraktionschef Bregy meint, Pfister sei «aus tiefster Überzeugung immer ein Sozialkonservativer» gewesen. Er habe realisiert, dass es in diesem Land neben wirtschaftlichem Erfolg auch gewisse Elemente des sozialen Ausgleichs brauche, auch in bürgerlichen Vorlagen. Dieser wohlwollend-kollegialen Auslegung gemäss wäre Pfisters Linksdrall also gar keiner, vielmehr hätte sich seine immer schon soziale Ader akzentuiert.

Andere sind durchaus nicht blind für seine Schwenker, rechtfertigen sie aber mit dem Argument, dass Pfister nun als Parteipräsident halt eine neue Rolle zu spielen habe. Da die Mitte keine programmatische Partei ist, kann sie grundsätzlich nach links und nach rechts für Mehrheiten sorgen. Einen gewissen Anteil an seiner staunenswerten Flexibilität und Wandelbarkeit könnte auch sein strategisches Kalkül haben, in der Mitte zwischen den Polen einen neuen «Block» zu bilden, dessen unbestrittener Anführer er dann wäre – darum auch die zunehmenden Spitzen gegen rechts.

FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen, der nach eigenen Angaben seit vielen Jahren ein «sehr gutes Verhältnis» zu Pfister pflegt, sagt jedenfalls über ihn: «Er macht nichts zufällig.» Auch die manche Beobachter etwas ratlos hinterlassenden X-Bomben (ehemals Twitter), die Pfister im Stil eines Wutbürgers platzen lässt und die so gar nicht zu seinem ansonsten so überlegten Wesen passen, könnten dem Ziel dienen, das inhaltlich defizitäre Profil durch rhetorische Abgrenzung nachzuschärfen.

 

Wie eine Messe, nur umgekehrt

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Keiner im Bundeshaus ist so hemmungslos in seinen politischen Kapriolen wie Gerhard Pfister. Sei es bei der Neutralität, bei der EU-Politik, beim Klima, beim Asyl oder beim Sozialen – bei allen wichtigen Fragen hat er linksumkehrt gemacht. Das mag man aus bürgerlicher Sicht bedauern, aber es hat seine Logik, da die Schweiz insgesamt nach links gerutscht ist – und damit auch die Mitte, die sich immer nur relativ zum Rest bewegt.

SVP-Generalsekretär Peter Keller aus Nidwalden, ein Kenner der Szene und der katholischen Seele, sagt: «Als katholischer Intellektueller, der er im Grunde seines Herzens noch immer ist, war seine persönliche Tragödie, dass er die CVP nur retten konnte, indem er sie in dieser Form sterben lassen musste.» Keller beschreibt die Pfisters Machtopportunismus geschuldete Wandlung als umgekehrten Vorgang einer katholischen Messe: «Aus dem Fleisch und Blut der CVP wird Brot und Wein der Mitte. Die CVP hat ihre Seele verloren und dafür als Mitte Macht gewonnen.»

Wie er damit zurechtkommt, vor sich und seinem Schöpfer, muss Gerhard Pfister mit sich selbst ausmachen.