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Jeff Koons: Moon Phases.

Im 2004 schrieb der Kunstkritiker Robert Hughes, Jeff Koons sei «eine extreme und selbstgefällige Manifestation von Scheinheiligkeit, die dem grossen Geld anhaftet. Koons hält sich wirklich für Michelangelo und schämt sich auch nicht, das zu sagen. Es ist bezeichnend, dass es Sammler gibt, vor allem in den USA, die ihm das glauben.» Zwanzig Jahre später stellt der umstrittenste lebende Künstler auf dem Mond aus, die Meinungen sind wieder gespalten: letztes Aufgebot eines erschlaffenden Mannes oder Geniestreich des wahrscheinlich zu Recht reichsten Künstlers der Welt?

«Moon Phases» ist dreigeteilt: 125 den Mond imitierende Stahlkugeln mit einem Durchmesser von etwa zweieinhalb Zentimetern repräsentieren Persönlichkeiten der Weltgeschichte, Shakespeare, Leonardo da Vinci, Ramses II., Elvis Presley. Die «Mondphasen» wurden von einer unbemannten Rakete Elon Musks ins All geschossen, auf dem Mond installiert und sollen dort für immer bleiben. Zum Verkauf steht ausserdem eine etwa ballgrosse, den Mond repräsentierende Stahlkugelskulptur, darauf ein Edelstein, der den Ort anzeigt, an dem die «Mondphasen» auf dem Mond installiert werden. Der dritte Teil der «Mondphasen» ist ein Non-Fungible Token (NFT), das digitale Format eines Werkes, das nicht kopiert oder gefälscht werden kann. Es enthält sein Siegel der Einmaligkeit durch die Blockchain-Technologie: Datenbanken, die Daten (auch Kryptowährungen oder JPG-Dateien) chronologisch erfassen und algorithmisch verschlüsseln.

 

Krimskrams der Welt

Jeff Koons’ Werke aus Stahl oder Blumen, aus Knete imitierendem Aluminium, aus Pelz, Perlen und mehr, seit Jahrzehnten meistverkauft, höchstverkauft, mit mal grösseren, mal kleineren Fluktuationen, stehen an der Spitze der Liste der teuersten Kunst der Welt. Für manche, wie für seinen Hauptmäzen und Abnehmer, den griechisch-zypriotischen Industriellen Dakis Joannou, dessen Yacht «Guilty» Koons designte und für dessen Tochter er die Hochzeitstorte entwarf, ist Koons ein Visionär, für andere ist er ein grössenwahnsinniger Krämer, der sich ins Fäustchen lacht, wenn andere Schecks in Millionenhöhe für seinen Krempel hinlegen.

Nach «Klassikern» wie «Rabbit» (1986), «Puppy» (1992), diversen Ballonhunden – der orange «Balloon Dog» wurde 2013 für 58 Millionen Dollar als teuerstes Werk eines noch lebenden Künstlers im Auktionshaus Christie’s versteigert, «Rabbit» 2019 für 91,1 Millionen Dollar, seitdem sinken seine Preise – und nachdem Miniaturreplikas fast sämtlicher Werke auf Grabbeltischen in nahezu allen Museums-Shops gelandet sind, nach Installationen vor Museen, in Schlossgärten, in Parks nun also der Mond als neuer Ausstellungsort.

Koons macht die Besitzer seiner Kunst zu Hausfrauen der Mittelschicht.Jeff Koons, seit 2021 von der Pace Gallery vertreten, davor von Gagosian und Zwirner, sieht sich in der Nachfolge von Pablo Picasso und Marcel Duchamp. Einst bezeichnete ihn der Boston Globe zusammen mit Bruce Willis, Madonna, Spike Lee und Axl Rose als grösstes «Superego» seiner Zeit. Koons repliziert vordergründig den Krimskrams der Welt: Ballontiere auf Kindergeburtstagen, Blumenkitsch, Murmeln, Partyhüte, pedikürte Zehen, Figurinen, flimmrige Fetzen, Popeye, Hulk, verzierte Autos, designte Weinflaschenetiketten für Château Mouton Rothschild – alles ohne Ironie oder Zynismus.

Koons, so der Kunstkritiker Peter Schjeldahl, macht aus tschatschkes der unteren Mittelschicht, aus banalen Materialien wie Holz oder Stahl («das Platin armer Leute», sagt Koons) Edles für Reiche, ohne die soziale Ordnung zu durchbrechen, höchstens für den Moment des Betrachtens, der alle auf den kleinsten gemeinsamen Nenner wirft: auf das Begehren nach immer neuem Krempel. Koons’ erste Ausstellung «The New» 1980 im New Museum of Contemporary Art in New York zeigte Ready-mades in Plexiglasvitrinen: neue Staubsaugermodelle, ein Schamponiergerät für Teppiche, Werbeposter des neuen Toyota Camry und eine übergrosse Fotografie des Künstlers mit einer Schachtel Wachsmalstifte in der Hand, betitelt «The New Jeff Koons».

Cleanliness is next to godliness. Die neuesten Modelle bourgeoisen Lebens sind, wenn sie in Geschäften oder Katalogen begegnen, tröstlich, weil sie das Gefühl einer sauberen Form von Ewigkeit verleihen: Nichts kann schiefgehen. Dasselbe Trostgefühl entsteht beim Betrachten von Koons’ Hasen, Hunden, Partyhüten und Bällen. Dümmliches für dumme Leute, sagen manche. Nur wenige Kunstwerke erfordern so viel Instandhaltung, müssen permanent abgestaubt, poliert, in Schuss gebracht werden, um zu glänzen. Koons macht die Besitzer seiner Kunst zu Hausfrauen der Mittelschicht, der er selbst entstammt; seine Werke sind sauber und banal wie Porzellanfiguren hinter Spitzengardinen. «Koons verändert die Art, in der wir uns selbst und die Dinge der Welt betrachten», sagte Marc Glimcher, Präsident der Pace Gallery, der New York Times.

Koons, 1955 geboren, ist hochgewachsen, schlank und nie wirklich gealtert, trägt meist Hemd und Jackett, äusserlich eher höflicher Bankangestellter als wild-verlottertes Künstlergenie. Neben Duchamp und Picasso verehrt er Salvador Dalí. Er traf ihn während seines Kunststudiums im «St. Regis»-Hotel in New York. Danach schien alles möglich.

Zu Hause bei den Eltern in York, Pennsylvania, der Vater erst Strassenbahnfahrer, dann Innendekorateur, die Mutter Näherin, lag ein Dalí-Bildband, erzählt Koons gern, das einzige Kunstbuch, das er als Junge sah. Er studierte Kunst, weil er nie etwas anderes gekonnt habe. Als Junge dekorierte er das Studio seines Vaters mit gefälschten Ölbildern, ging 1972 zum Studium nach Baltimore, schwängerte dort seine Freundin, die das Kind zur Adoption freigab, ging weiter nach Chicago, dann nach New York und arbeitete an der Kasse des Museum of Modern Art. Seine rotgefärbten Haare und lauten Klamotten waren dem Museumsdirektor peinlich, aber dem Publikum gefiel es. Koons begann, surrealistische Bilder zu malen, knüpfte Kontakte, bastelte Ready-mades – kleine verzierte Blumen, Küchengeräte, anderen Kram, den er verkaufte. Kurzzeitig wurde er Broker, um seine Werke zu finanzieren.

Kurzzeitig wurde er Broker, um seine Werke zu finanzieren.Nach der «neuen» Phase hatte Koons 1986 «Rabbit» (drei Stahlhasen) geschaffen, dann die «Luxury and Degradation»-Serie (Alkohol-Paraphernalien aus buntem Stahl) und «Banality», Keramik- oder Holzfiguren, unter anderen Michael Jackson mit Hausaffe, ein Mädchen, das Pink Panther umarmt. 1990 eröffnete die Biennale in Venedig mit Koons’ «Made in Heaven»: Fotografien zeigten Koons und seine erste Frau, die italienische Pornodarstellerin Cicciolina (Ilona Staller), nackt und in erotischen Posen; Staller trug einen Blumenkranz. In Italien waren die später in New York ausgestellten Werke beliebter als in den prüderen USA. Zeitweise verlor Koons den guten Ruf. Nicht lange nach der Ausstellung verliess Ilona Staller New York und nahm ihren gemeinsamen Sohn entgegen Koons’ Willen mit nach Rom.

 

Sechs Jahre für einen Ballonhund

Koons’ Studio lag früher im New Yorker Stadtteil Chelsea, heute ist es – etwas kleiner – in den schicken Hudson Yards. Hier wie dort ist es eher eine emsige Weihnachtsmannwerkstatt voller buntem Zeug, um das sich nicht Elfen, sondern Assistenten kümmern: Koons’ Werke werden nicht in Alleinarbeit hergestellt, sondern mit Hilfe von Experten für Materialien oder Techniken (sogenannte art fabrication). Die Fertigung mancher Werke braucht eine bestimmte Technologie, die digitale Dateien vor der eigentlichen Produktion erstellt, die Ballonhunde brauchen sechs Jahre, bis sie fertig sind; die Knoten der Ballons sind, wenn auch aus Stahl, genau so geknotet wie ein richtiger Ballon. Koons ist Perfektionist.

Ein weiteres Studio, eigentlich eine Steinmanufaktur für grössere Arbeiten aus Marmor, liegt in einem Industriegebiet in Pennsylvania. In der Nähe ist das Farmhaus der Grosseltern, das Koons vor zwanzig Jahren kaufte und renovierte, wie es früher war, gelb gestrichen, mit roten Fensterläden. Er nehme seine zweite Frau Justine und die schnell hintereinander geborenen drei Kinder gern dorthin mit, sagt Koons – weg von Manhattan.

Iwan Schmeljow: Der Toten Sonne. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Christiane Pöhlmann. Die Andere Bibliothek. 320 S., Fr. 61.90

Wie eine Flaschenpost aus unheilvoller Vergangenheit erreicht uns dieses Buch mitten im Kampf um die Halbinsel Krim. Dabei gleichen die Schreckensbilder vom Wüten der russischen Revolutionsgarden vor mehr als hundert Jahren fatal dem gegenwärtigen Kriegsgrauen in der Ukraine: Eine mordende und brandschatzende Soldateska fällt über das Land her und hinterlässt bei den Bewohnern Hunger, Tod und Zerstörung.

Der russische Schriftsteller Iwan Schmeljow hat das Geschehen damals in einer albtraumhaften Nahsicht auf Täter und Opfer beschrieben, die dem Leser heute in ihrer sprachlichen Vehemenz und Klarheit schier den Atem nimmt. Nach wahllosem Wüten vor allem unter der Bauernschaft, nach Raub und Vergewaltigung hinterliessen die revolutionären Terrortruppen eine zerstörte Landschaft. Die sengende Sonne verdunkelte sich nicht, sondern leuchtete gleissend das Leichenfeld voller niedergestreckter Opfer aus.

Indes, beginnen lässt der Erzähler sein Buch mit einer panegyrisch beschworenen Idylle. Gezeigt wird ein buntscheckiges Landleben mit Amselgezwitscher, Apfelbäumen, Weinstöcken, Pappeln und Zypressen. Und mit einem veilchenblau in der Sonne leuchtenden Pfau. Die Krim erscheint als ein bukolisches Paradies mit subtropischer Vegetation. Doch die Idylle wird zerstört durch das barbarisch enthemmte Kriegswüten der Menschen. Die Bolschewiken hatten die Halbinsel zu einem Höllenort gemacht. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte Bürgerkrieg auf der Krim. 1921 brachen die Roten Garden den Widerstand der antikommunistischen «Weissen Armee» des Generals Wrangel. Daraufhin überzog die Rote Armee das Land mit blutiger, hemmungsloser Willkür.

Gnadenlose Bolschewiken

Der 1873 in Moskau geborene Iwan Schmeljow, der mit dem burlesk sozialkritischen Roman «Der Mensch aus dem Restaurant» bekannt geworden war, lebte mit seiner Frau seit 1918 auf der Krim. Ihr einziger Sohn Sergej fiel 1921 den Rotarmisten zum Opfer. 1922 entwich das Paar fluchtartig in die Emigration nach Frankreich. Im folgenden Jahr veröffentlichte Schmeljow in Form einer Romanchronik seinen Augenzeugenbericht, der in der ersten deutschen Übersetzung, schlichter als in der neuen, «Die Sonne der Toten» hiess.

Der Autor lässt einen alleinstehenden Ich-Erzähler von einem Bergdorf der Krim aus die Schrecknisse von Verwüstung, Hunger und Vertreibung erleben. Die Bolschewiken kennen keine Gnade, sie morden wahllos. Ihr Terror soll jeden Besitzenden liquidieren. Die Häuser sind devastiert, die meisten Gärten gleichen Schlachtfeldern. Plünderer tragen fort, was nicht niet- und nagelfest ist. «Alles gehört in den Besitz des Volkes.»

Der Sadismus, der sich in diesen Übergriffen manifestiert, ist so atemberaubend, wie es unmöglich ist, die Abgründe der Grausamkeit zu bemessen, die sich in der viehischen Triebentfesselung, im Blutrausch der Menschenschlächter zeigt. Die Eingesessenen werden, sofern sie überlebt haben, vom Hunger getrieben. Der verstörte Zeuge muss erleben, wie die Nachbarn Hühner stehlen, Kühe entführen und seinen Pfau schlachten, um die Tiere zu essen. «Mit einer gewissen Würde an Hunger zu sterben, war fast keinem möglich», schrieb der Historiker Timothy Snyder über den späteren Holodomor in der Ukraine, dessen Vorboten Schmeljow auf der Krim erlebte.

«Lesen Sie dieses Buch, wenn Sie Mut dazu haben», schrieb Thomas Mann 1926 und empfahl den Autor für den Literaturnobelpreis. Wer sich vom geschichtlichen Hintergrund des ukrainischen Freiheitskampfs ein nachhaltiges Bild machen möchte, findet hier ein grosses literarisches Zeugnis.

Wieder mal bin ich in Israel. Diesmal ist der Grund kein Krieg, sondern die Öffnung der Grenze nach Ägypten. Ich will die 450 Kilometer lange Wüstenpiste Taba-Rafah von Israel nach Ägypten fahren. Von Eilat nach Kairo.

An der Grenze werde ich schroff empfangen, mein israelischer Taxifahrer wünscht mir Glück. Ich bin einer der ersten Grenzgänger.

Die Formalitäten dauern ewig, dann folgt der achtzig Meter lange Fussmarsch durch den glühenden Sinai-Sand über die Grenze. Meine umgehängte Nikon F3 und die schwere Reisetasche mit hundert Rollen Kodachrome-Film und Stativ erscheinen mir noch schwerer. Ein verbeulter Mercedes mit 780 000 Kilometern auf dem Tacho und einem ebenso gezeichneten Taxifahrer warten beim Stacheldrahtzaun.

Wanderdünen haben sich der Strasse bemächtigt. Nach 299 Kilometern Kamikazefahrt glaube ich zu halluzinieren: Ein grosser rauchender Kamin schiebt sich durch die Wüstenlandschaft. Fata Morgana? Nein! Ich bin am Suezkanal. Und diesmal ist nicht Timothy Leary schuld.

Die restlichen 150 Kilometer nach Kairo vergehen im Flug. Ich lese im Tagebuch von Francis Frith, der 1856 mit einer riesigen Glasplattenkamera und mobiler Dunkelkammer Alexandrien bereiste. «Die Araber dachten, ich ziehe mit einem Harem englischer Schönheiten herum, und das trug mir die allerhöchste Hochachtung ein!» Tempi passati. Ich reise allein.

Beim Anblick der Pyramiden hat es Frith umgehauen.

Um vier Uhr in der Früh stehe ich fröstelnd am Fuss der grossen Cheops-Pyramide. Alles ist ruhig. Hundegekläff klingt mit einem Windstoss von weit her zu mir. Ich gebe dem Wächter die vereinbarten zehn Dollar und beginne im Dunkeln den Aufstieg. Ich höre noch, wie er mir nachruft:

«Inschallah! Be fucking careful!»

Unterwegs stosse ich auf wilde Ziegen, die sich mir anschliessen. Ich bin jung und fit. Ein Glücksgefühl spaltet mein Hirn, zwei Millionen Steinblöcke unter mir, 138 Meter hoch aufgeschichtet!

Ich sehe von oben auf die kleinere Chephren-Pyramide und denke an Frith, der vor 130 Jahren auch hier oben stand. Er notierte in sein Reisejournal: «An dem Tag im Leben eines Mannes, da er zum ersten Mal die Pyramiden erblickt, bricht eine neue Zeitrechnung in seinem Leben an.»

Europas missbrauchte Kinder: Dokfilm von Karin Bauer. 3sat Mediathek/SRF

Sein Werdegang vom Heimzögling, Hilfsschüler und Tankstellenwart bis zum 400-fachen Millionär böte Stoff für eine mehrteilige Serie. Doch die spektakuläre Karriere des Zuger Unternehmers Guido Fluri wird nur am Rande gestreift. Im Mittelpunkt von Karin Bauers Dokfilm steht Fluris Engagement für Menschen in ganz Europa, die als Kind schweres Leid erlitten haben.

Bereits 2017 hatte Fluri mit einer landesweiten Kampagne dem Bundesrat eine Entschuldigung gegenüber ehemaligen Verdingkindern samt finanzieller Entschädigung abgerungen. Dieses Schweizer Modell hat er nun auf Europa übertragen. Mit Erfolg. Erst kürzlich hat der Europarat seiner Wiedergutmachungsinitiative zugestimmt.

Die erfahrene Filmemacherin Bauer begleitet den rastlosen Zuger Multimillionär auf einem Streifzug durch Europa. Bukarest, Venedig, Rom, Strassburg – Fluri ist stets im Privatjet unterwegs, in seiner Entourage ehemalige Opfer von systematischen Kindsmisshandlungen. Und wie es sich für einen Mann seines Schlages gehört, steigt die Gesellschaft in den nobelsten Unterkünften ab. Fluri konferiert vornehmlich direkt mit dem Papst und den zuständigen Ministern.

Das Horror-Kinderheim in Rumänien oder das Pädophilen-Kollegium in Deutschland stehen in einem eigentümlichen Kontrast zum Universum eines Superreichen. Und es wäre wohl zu viel des Guten, wenn da nicht der Guido Fluri aus Fleisch und Blut wäre: ein vom Erfolg verwöhnter Mann, der nie recht weiss, ob er mit seinem Schicksal hadern oder sich darüber freuen soll.

Karin Bojs: Mütter Europas. Die letzten 43 000 Jahre. C. H. Beck. 252 S., Fr. 39.90

Lluís Quintana-Murci: Die grosse Odyssee. Wie sich die Menschheit über die Erde verbreitet hat. C. H. Beck. 288 S., Fr. 41.90.

Stellen wir uns vor, eine reine Männergruppe unternimmt eine lange Wanderschaft durch verschiedene geografische Regionen und trifft auf ihrem Migrationszug auf sesshafte Völker, in denen Frauen das Sagen haben. Die Variante, dass die Männerhorden die ansässigen Männer ermorden, den Nachwuchs töten, die Frauen vergewaltigen, unterwerfen und selber sesshaft werden, liegt ziemlich nahe. Willkommen in der neueren Steinzeitforschung!

Es beginnt – wie immer – bei einer Frau. Die «Venus von Willendorf» ist ein Rätsel, eine umwerfend schön geformte Figur, angenehm fett und für ihre über 30 000 Jahre sehr gut erhalten. Sie war lange die Ikone der Kunstgeschichte und der Archäologie. Sie wurde mal als pornografisches Objekt, mal als Muttergöttin, mal als Meisterin des Textilhandwerks gedeutet. Gefertigt ist sie aus Sandstein vom Gardasee, entdeckt wurde sie 1908 von einem Bauarbeiter in der Wachau. Sie ist Ausgangspunkt der Geschichtsschreibung, die von Karin Bojs und Lluís Quintana-Murci in ihren Büchern neu verhandelt wird.

 

Göttinnen- und Phallus-Kult

Beide erzählen davon, wie sich die Migration der Urzeit bei Männern und Frauen völlig anders manifestierte und auswirkte. Ein Befund, den die Sprachwissenschaftlerin und Archäologin Marija Gimbutas schon in den 1940er Jahren festhielt. Sie belegte mit den Artefakten und Sprachentwicklungen der Urzeit ein «Alteuropa» mit matrilinearer Kultur und indogermanischen Migrationswellen, die eine patriarchale Kultur mit sich trugen. 2018 entschuldigte sich der legendäre Colin Renfrew, Archäologe aus Cambridge, bei seinen Kollegen und leistete Marija Gimbutas Abbitte. «Certainly I was wrong», meinte er bedauernd, aber mit einer Grösse, die den meisten Wissenschaftlern heutzutage leider abgeht.

Die Biologie spricht nun ein Machtwort gegen diese Ideologien von links bis rechts.Dass frühe Migration, matrifokale Kulturen und das daraus resultierende menschliche Mischmasch in der Archäologie ausgeblendet wurden, hatte ideologische Gründe. Zunächst mochten die Nationalisten die Idee, dass ihre Kultur auf Migranten zurückgehe, überhaupt nicht. Dann verabscheuten postkoloniale Historiker die These der vergewaltigenden Männerhorden aus dem Osten. Weiter fanden «diverse» Historikerinnen, dass es in Europa nie matriarchale Kulturen gegeben haben könne, diese seien «indigenen» Stämmen vorbehalten.

Die Biologie spricht nun ein Machtwort gegen diese Ideologien von links bis rechts. Gene pflegen nämlich nicht zu lügen, und DNA-Analysen zeigen: Steinzeitfrauen haben andere Gene als Steinzeitmänner. Und die gefundenen Artefakte passen in diese unterschiedlichen Frau-Mann-Schemata, die sich ausserdem als rituelle Unterschiede von Göttinnen-Kult und Phallus-Kult unterscheiden lassen.

Womit wir wieder bei der Venus von Willendorf wären. Nach neuerer Forschung ist sie alles andere als eine Pornovorlage für Steinzeitmänner. Sie passt zum Fruchtbarkeitskult in matrilinearen Gemeinschaften, die von den Migrationsströmen unterworfen wurden. «Ein Teil der neuen Forschungsergebnisse deutet darauf hin, dass die indoeuropäische Einwanderungswelle tatsächlich eine Kultur mit sich brachte, die stark auf Väter und väterliche Linien ausgerichtet ist.» Klassisch Gebildete wussten dies schon längst: Der Mythos vom «Raub der Sabinerinnen» scheint viel von den urzeitlichen Gesellschaftsformen zu erklären.

 

Postmoderne Märchenerzählerinnen

Genomik und Populationsgenetik beweisen nun die alten Fabeln von Migration, Vergewaltigung und Unterwerfung in der Urzeit. Die Frage «Woher kommen wir?» wird im Hinblick auf «Wohin gehen wir?» aber immer noch ideologisch verhandelt – Technik, Gene und Geschichtsschreibung hin oder her. Die Diversität der Genome erklärt uns nicht nur, welche Gene sich durchsetzen, sondern stellt uns auch vor die Frage, welche Diversität und Artefakte wir als Menschen auch wollen. Gerade uns als Frauen, die in der Archäologie erstaunlicherweise noch so genannt werden dürfen, kann es nicht egal sein, wer uns welche Artefakte zerstört, die Liebsten inklusive Nachwuchs ermordet und eine neue patriarchale Linie beginnt. Bisher haben Nazis, Ultranationalisten, Sowjetkommunisten, Maoisten, Islamisten, Hinduisten die Geschichte lange auf ihre Art und Weise zurechtgebogen, um ihre Männerbünde, Todesmystik und Klassenideologie für ewig gültig zu erklären. Jetzt sind es postmoderne Märchenerzählerinnen, die uns weismachen wollen, dass Kulturen mit Frauenfokus die Rechte von steinzeitlichen Transmenschen diskriminieren.

Karin Bojs räumt, flankiert vom Biologen Lluís Quintana-Murci, mit all diesen Lügengebäuden auf. Beide erzählen von einer menschlichen Vielfalt, die sich entlang der bestehenden Geschlechter – und viel zu oft durch männliche Gewalt – durchmischt hat. Die Geschichte der Männer unterscheidet sich biologisch und kulturell massiv von der Geschichte der Frauen. Zumindest was die Urzeit der Menschheit betrifft.

C’è ancora domani (Italien 2023) von und mit Paola Cortellesi. Ab 4. April im Kino

In Italien kennt jeder ihren Namen. Seit den neunziger Jahren ist die Frau mit den riesigen Augen und der scharfen Zunge als Moderatorin, Komödiantin und Sängerin aus italienischen TV-Sendern nicht wegzudenken. Paola Cortellesis Talent, Superstars wie Britney Spears oder Jennifer Lopez zu imitieren, ist legendär. Als Schauspielerin gewann sie ziemlich alle Filmpreise, die Italien zu vergeben hat.

Leider gelangten die wenigsten Filme mit ihr in Schweizer Kinos. Wer sich hierzulande an sie erinnert, hat sie vermutlich in einigen Episoden der Krimiserie «Mord in Genua – Ein Fall für Petra Delicato» gesehen, in der sie die politisch völlig unkorrekte TV-Kommissarin spielt.

 

Weder Opfer noch Sonderfall

Als Regisseurin und Hauptdarstellerin von «C’è ancora domani» («Morgen ist auch noch ein Tag») ist sie ungewohnt ernst. Thema ihres Schwarzweissfilms, der ungeniert Anleihen beim italienischen Neorealismus macht, ist die Unterdrückung und Gewalt, der Frauen in den Nachkriegsjahren ausgesetzt waren. Delia (Cortellesi) ist Ehefrau und Mutter zweier kleiner Buben und einer permanent zornigen Teenagertochter. Die Familie kommt im römischen Armenviertel Testaccio finanziell grad eben durch. Delia verdient mit unterbezahlten Gelegenheitsarbeiten dazu und legt heimlich ein paar Lire zur Seite.

Ihr Ehemann Ivano schlägt sie regelmässig, fast reflexartig. Er braucht keine Gründe. In der schockierenden ersten Szene des Films verpasst er ihr eine Ohrfeige, weil sie «guten Morgen» gesagt hat. Die restlichen Prügeleien finden hinter verschlossenen Türen statt. Aber hörbare Gewalt setzt nicht weniger zu.

Bevor Sie abwinken, weil man ungern Eintritt zahlt, um sich vorsätzlich deprimieren zu lassen: Paola Cortellesis Film ist manchmal hart, aber genauso oft komisch und fast zärtlich. Der Grund, warum er Erfolgstitel wie «Barbie» und «Oppenheimer» in Italien hinter sich liess, ist, dass sich Delia nicht kleinkriegen lässt. Sie fühlt sich weder als Opfer noch als Sonderfall. In den vierziger Jahren konnten Männer Frauen ohrfeigen, würgen, treten – nicht nur in Italien. Sie wussten, dass die Frauen nicht gehen würden, meist wegen der Kinder, oft weil sie kaum eigenes Geld hatten.

Paola Cortellesis Film ist manchmal hart, aber genauso oft komisch und fast zärtlich.Delias Freundinnen kennen die blauen Flecken am Hals und die aufgeschwollenen Augen aus eigener Erfahrung. Sie reden nicht einmal darüber. Delias Mann ist kein brutaler Macho. «Er ist ein Verlierer und ein Idiot», sagt Paola Cortellesi, auch Co-Autorin des Drehbuchs, «wir haben sehr darauf geachtet, dass er keinen Appeal ausstrahlt, der irgendeinem jungen Mann im Kino imponieren könnte.» Die Tochter schämt sich für die Duldsamkeit der Mutter. «Lieber bring’ ich mich um, als so zu enden wie du», schreit sie Delia an, der nichts wichtiger ist, als ihrer Tochter ein Leben wie das eigene zu ersparen. Dafür hat sie einen Plan, den sie bis zum überraschend heiteren Schluss des Films durchhält.

«C’è ancora domani» hatte in Italien weit über fünf Millionen Zuschauer. 45 Prozent von ihnen waren Männer. Er wurde im italienischen Senat gezeigt. Premierministerin Giorgia Meloni pries den Mut der Regisseurin. Cortellesi erklärt den Erfolg ihres Films vor allem damit, «dass es in fast jeder Familie eine Mutter oder Grossmutter gibt, die ihren Töchtern und Enkelinnen Ähnliches erzählt. Jetzt tun sie es endlich auch öffentlich. Zum Glück. Denn es ist Teil unserer Geschichte.»

Lea Singer: Die Heilige des Trinkers. Joseph Roths vergessene Liebe. Kampa. 304 S., Fr. 33.90

Erdbeeren – nicht ganz unerotische Früchte – tauchen als farbige Einsprengsel auf in einer sonst oft tristen Liebesgeschichte: der zwischen Joseph Roth und Andrea Manga Bell. Lea Singer hat über diese Liaison ein ungeheuer dichtes und zugleich flott zu lesendes Buch geschrieben: «Die Heilige des Trinkers». Ein Merkmal hat Andrea – im Roman meist nur «A.» genannt – mit der in jenen Jahren berühmten Schauspielerin und Sängerin Josephine Baker gemeinsam: Sie ist schwarz. Halbschwarz jedenfalls, ihr Vater war der afrokubanische, klassische Pianist José Manuel Jiménez Berroa, ihre Mutter die Hamburgerin Emma Mina Filter.

Verheiratet aber war Andrea, Journalistin und Grafikerin, mit dem Kameruner Prinzen Alexandre Manga Bell. Dass sie die Geliebte Joseph Roths wurde, Starjournalist und – nach eigenem Dafürhalten – einer der bedeutendsten Schriftsteller seiner Zeit, taucht in der Sekundärliteratur nur ansatzweise auf. Lea Singer füllt also eine Lücke. Wie mag sie auf das Thema gekommen sein? Spätestens seit der Restitutionsdebatte und der Aufarbeitung der deutschen kolonialen Vergangenheit ist der wohlklingende Name Manga Bell en vogue.

 

Stilisiert zur Pop-Ikone

König Rudolf Manga Bell vom Volk der Duala in Kamerun hatte sich gegen die widerrechtliche Vertreibung seiner Untertanen durch die deutschen Kolonialherren zur Wehr gesetzt und war 1914 wegen angeblichen Hochverrats erhängt worden. Ein Kolonialverbrechen. 2023 benannte nach Ulm auch die Stadt Aalen, wo Rudolf zur Schule gegangen war, einen Platz nach dem Kameruner. Prinzessin Marilyn Duala Manga Bell, die Schwester des amtierenden Duala-Königs, sagte mir anlässlich der Feierlichkeiten, dass es weitergehe mit der Stilisierung Rudolfs zur Pop-Ikone. Nach einer Ausstellung 2022 in Hamburg, «Hey Hamburg, kennst Du Duala Manga Bell?», sind Präsentationen in Kamerun geplant.

Rudolf war Andrea Manga Bells Schwiegervater. Sein Sohn, Prinz Alexandre, hatte Andrea verlassen. Sie lebte mit den beiden gemeinsamen Kindern, Manga und Tüke, in Berlin. Dort lernen sich 1929 Joseph Roth und Andrea Manga Bell kennen. Was folgt, scheint eine komplizierte Beziehung gewesen zu sein: Roth trinkt, er sieht viel älter aus, als er ist, und betreibt einen aufwendigen Lebensstil, den er sich eigentlich gar nicht leisten kann. Andrea tippt seine Manuskripte, einen Teil des «Hiob» und den «Radetzkymarsch». Zunehmend sind der jüdische Schriftsteller und die schwarze Frau – und deren Kinder – den Anfeindungen Hitlerdeutschlands ausgesetzt.

Singer bringt ziemlich viele schwarze Themen der 1920er und 1930er Jahre unter.1933 emigriert Joseph Roth nach Frankreich. Andrea reist ihm nach und folgt ihm auch in die Schweiz. In Zürich treffen sie Klaus Mann, der in seinem Tagebuch vermerkt: «Joseph Roth (sehr besoffen, monarchistisch und spinnig) mit der lieben Negerin.» Es ist ein ungelöstes Rätsel der Literaturgeschichte, ob Andrea Manga Bell Vorbild für Prinzessin Tebab war, das «Halbblut» in Klaus Manns «Mephisto». Lea Singer stellt es so dar und schreibt das N-Wort mit Sternchen.

 

Groteskes Spielzeug

Sie bringt ziemlich viele schwarze Themen der 1920er und 1930er Jahre unter: groteskes Spielzeug in Form von Schwarzen, Menschenzoos bei Hagenbeck in Deutschland und Kunsthandwerk im Pavillon der Kolonialausstellung in Frankreich, René Marans Roman «Batouala» und «Le négre» von Philippe Soupault, Afrikana und sogar Benin-Bronzen. Dass Kongo eine deutsche Kolonie gewesen sein soll, ist allerdings ein arger Schnitzer.

Sattelfest ist Lea Singer in der Beschreibung des Trüppchens deutscher Exilliteraten um Joseph Roth und Heinrich Mann, Stefan Zweig, den Roth ständig anpumpt, und den bereits zu Weltruhm gelangten Erich Maria Remarque. Roth deliriert und beschuldigt Andrea der Untreue. Es kommt zum Bruch, zur endgültigen Trennung.

Rührend bleibt, dass Roth sich um seine schwarzen «Stiefkinder» kümmerte, die Tochter Tüke in einer Klosterschule unterbrachte und Unterstützung für den Sohn und Thronfolger Manga einwarb. Ob allerdings die Erdbeeren, für Lea Singer «Fetisch des Verlorenen», die Kindheit, den Beginn einer Liebe, einen unvollendeten Roman und die Beerdigung Roths 1939 in Paris zusammenhalten, mag der geneigte Leser oder die geneigte Leserin entscheiden.

 

Daniela Roth ist Kunsthistorikerin und Soziologin.Sie forscht und publiziert zu Gesellschaft, Kunst und Literatur in Ländern Afrikas südlich der Sahara.

Roger Nicholas Balsiger: Der Uhrmacher des Zaren. Der Lebensroman des Industriepioniers Heinrich Moser und seiner Kinder Henri und Mentona. Limmat. 576 S., Fr. 45.90

Ende 1827 in St. Petersburg: Zar Nikolaus I. ist schlechtgelaunt. Seine Reiseuhr, ein flandrisches Kleinod aus dem 17. Jahrhundert, läuft nicht mehr! Fünf Uhrmacher hatten es schon vergeblich versucht, da hört einer der Hofschranzen von einem Heinrich Moser aus der Schweiz und befiehlt ihn ins Winterpalais. Wie selbstverständlich verlangt der Kammerdiener, ein Baron, der Uhrmacher habe den Auftrag als Ehrenamt zu betrachten und unentgeltlich auszuführen. Moser, gerade mal 23 Jahre alt, kehrt auf dem Absatz um und will gehen. Sie halten ihn zurück. Dann feilscht er mit der Hoheit und willigt in einen reduzierten Ansatz ein.

 

Kurzweilig und lesbar

Als Moser die Uhr mitnehmen will, stellen sich ihm zwei Wachen in den Weg. Die Arbeit soll im Palais ausgeführt werden. Aber der selbstbewusste Handwerker besteht auf seiner Werkstatt, einer kleinen, aber mit mitgebrachten Werkzeugen gut ausgestatteten Klitsche am nahen Zagorodny Prospekt. Fortan wachen zwei Bewaffnete rund um die Uhr vor seiner Tür.

Alle wissen: Der als jähzornig bekannte Zar Nikolaus I. liebt die Uhr über alles. Moser löst das Problem, der Zar lässt gnädig danken – und damit wird Mosers kleines Geschäft in die höchsten Höhen der Gesellschaft katapultiert. Wenige Monate später kann er am Nevsky Prospekt, der Parademeile der Zarenstadt, ein Lokal eröffnen, wenige Jahre später ein zweites in Moskau. Moser wird als Uhrmacher und vor allem als Uhrenhändler reich, sehr reich.

Dies ist eine Auswanderergeschichte der besonderen Art: ein «biografischer Roman», wie der Autor Roger Nicholas Balsiger schreibt, der eigentlich kein Literat ist, sondern lebenslang im internationalen Finanzwesen tätig war – und fünfzig Jahre lang nebenher als Chronist einer Familie mit ver-rückten Wertvorstellungen.

Alle wissen: Der als jähzornig bekannte Zar Nikolaus I. liebt die Uhr über alles.Kaum hatte sich Heinrich in Petersburg etabliert, starb sein Vater, und die Familie zu Hause drohte in Armut zu versinken. Da bewarb sich der Jungunternehmer als Stadtuhrmacher von Schaffhausen, wurde aber zugunsten eines junkerlichen Beziehungskünstlers abgewiesen.

Heinrich Moser tobte öffentlich und schwor, seiner Vaterstadt zu beweisen, dass er der Bessere gewesen wäre. 1848 kehrte er als reicher Mann zurück und investierte in Energieunternehmen, Schifffahrt, Fabriken, Eisenbahnen und Tourismus. 1851 eröffnete er das erste Kraftwerk am Rhein. Er gründete die Schweizerische Waggon-Fabrik, aus der die SIG hervorging.

Die Form des «biografischen Romans» – verfasst von einem engen Familienmitglied, Balsiger ist der Urenkel Heinrich Mosers – ist eigenartig. Der Autor gibt im Nachwort freimütig Auskunft über das Making-of des Werks, das ihn fünfzig Jahre, also sein ganzes Arbeitsleben lang, beschäftigt, begleitet, besessen hat. «Die Fakten leben vom Erzählen», sagt Balsiger und verrät damit, dass er durchaus ein literarischer Profi ist. Er hat szenisch geschrieben und aus drögen Briefen Dialoge entwickelt. Auch deshalb ist das Buch kurzweilig und lesbar geworden.

Mosers Nachkommen sind mit dem gleichen Eigensinn zu Werke gegangen. Sein Sohn Henri zerstritt sich mit dem Vater. Die Tochter, Mentona Moser, wählte den Weg der Revolution und stellte ihr Vermögen in den Dienst der linken Wohltätigkeit.

Wicked Little Letters (GB 2023) von Thea Sharrock. Mit Olivia Colman, Jessie Buckley, Timothy Spall, Anjana Vasan

Es gibt Dinge, heisst es sinngemäss im Vorspann der britischen Komödie «Wicked Little Letters», die sind wahrer als die Wahrheit. Das trifft, nur wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, mit Sicherheit auf den unglaublichen Fall zu, den der Film erzählt. Heute, im Zeitalter von Instagram, Tiktok und Co., ist das anonyme Beleidigen und Niedermachen öffentlicher Personen nichts Besonderes. Damals aber, obendrein in der putzigen Kleinstadt Littlehampton, war es noch etwas anderes. Denunziatorische Schweinereien mussten per Briefpost verschickt werden. Das geschah in einem Ausmass, dass sogar die Londoner Presse fassungslos darüber berichtete.

 

Saumässige Briefpandemie

In den 1920er Jahren war das bürgerliche Leben nach Littlehampton zurückgekehrt, und die Menschen waren wieder in Arbeit. Da freundet sich Edith (Olivia Colman), eine moralisch schwer gefestigte, jüngferliche Lady reifen Alters, mit der neuen, jungen Nachbarin an, der lebensfrohen, temperamentvollen und reichlich tabufreien Rose (Jessie Buckley).

Es war der Täterin völlig schnuppe, ob sie mittels ihrer Handschrift überführt werden könnte.

Edith ist unverheiratet und wohnt bei ihren Eltern in einem dieser leicht schummrigen, eng aneinandergeschmiegten Reihenhäuser. Herr in diesem Puppenhaus ist ihr geierhafter Vater Edward Swan (Timothy Spall), der seine Tochter in den Krallen der Moral hält. Seine Gattin weniger, die hat resigniert. Während sich der Vater über die neue, freche Nachbarin Rose echauffiert, findet Edith sie eigentlich amüsant; allerdings nicht lange, es kommt zum Streit.

Und auf einmal erreichen die Swans üble Briefe, in denen Edith beschimpft wird, als habe der leibhaftige Teufel die Feder geführt. Dabei bleibt es nicht; bald erhalten auch andere Damen Littlehamptons Briefe mit den wildesten Obszönitäten. Eine saumässige Briefpandemie überzieht die Einwohner, bis Edward Swan die verschnarchte Ortspolizei aufrüttelt, endlich aktiv zu werden. Was natürlich bei anonymen Briefen nicht einfach ist. Aber für die von Edward auf Trab gebrachte Polizei und später auch für die Gerichte gibt es keinen Zweifel, wer die Urheberin dieses postalischen Schweinkrams ist: die Neue, diese Freidenkerin! Auch wenn Rose ihre Unschuld beteuert und es überhaupt keine Beweise für ihre Täterschaft gibt, kommt sie in Haft und wird in einem grotesken Prozess verurteilt. Nur hören auch danach die Unflätigkeiten nicht auf.

Die neue Polizeibeamtin Gladys (Anjana Vasan), von den männlichen Kollegen herablassend behandelt, ist die Einzige, die der schnellen Schuldzuweisung misstraut. Sie hat so ihren Verdacht (das Publikum bald auch) und schart ein paar Gleichgesinnte um sich, die von Anfang an skeptisch blieben und eine andere Lady im Visier hatten. Gemeinsam machen sie sich auf, die wahre Täterin in flagranti zu ertappen – sonst kann der Prozess nicht wiederverhandelt werden, diesmal mit einer grafologischen Untersuchung.

Zu den kuriosesten Prozessszenen gehören, wie die «Fachleute» «nachweisen», dass es sich bei der Handschrift der Briefe, die eine klare Identität erkennen lässt, um eine Fälschung handeln muss. Dabei war es der Täterin völlig schnuppe, ob sie mittels ihrer Handschrift überführt werden könnte. Ihre tiefsitzende Wut, ihre Kompensation mangelnder Wertschätzung galt nur der Suche nach neuen Verbalinjurien. Grimmig hirnt sie in ihrer Kammer beim Verfassen eines Briefs wie eine Lyrikerin über besonders hundsgemeine Dreckwörter, «schmeckt» sie geradezu ab im Hinblick auf die erhoffte Schockwirkung.

 

Performance zum Niederknien

Der Comedian und Schauspieler Jonny Sweet grub die wahre Story aus und verfertigte daraus sein erstes Drehbuch, ganz bewusst mit Bezug auf die heutigen Unsitten in den sozialen Medien. Natürlich ist es eine Komödie, mit dem Fokus auf besonders hinterfotzige Kleinstadtgehässigkeiten. Thea Sharrock, britische Theaterregisseurin, die 2016 mit «Me Before You» ihren ersten Film drehte, hat bei «Wicked Little Letters» auf die alterslose Skurril-Exzentrik des Komödienregisseurs Alexander Mackendrick zurückgegriffen («Ladykillers», 1955).

Und so lebt die Provinzposse von der Besetzung, allen voran von Olivia Colman (Elizabeth II. in «The Crown»). Als sich stolz gebende, aber durch und durch falsche Schreckensfregatte liefert sie eine Performance zum Niederknien. Eingezwängt ins moralische Diktat des Vaters, sprengt sie sich mittels anonymer Beleidigungen aus dem Sittlichkeitskorsett, dabei die Fassade glatt wie Zellophan haltend. Timothy Spall («The Party»), schneidend und spitz wie ein Stacheldrahtverhau, sorgt als Moralinmonster gleichfalls für grossen Spass. Sweet und Sharrock gelang eine sehr britische Drolerie über ein sehr aktuelles Thema.

Divr (Philipp Eden, Raphael Walser, Jonas Ruther): Is This Water? We Jazz Records WJCD 60

Die Gruppe mit dem Namen divr ist ein Piano-Trio wie keines. Wie kein mir bekanntes. Zwar erinnert mich der magische Sog ihres ritual grooves gelegentlich an den «Zen-Funk» von Nik Bärtsch. Allein, mit dessen «akustisch» transparentem Sound hat der mit Elektronik angereicherte von divr eher weniger zu tun. Von den «indie electronic and post-rock aesthetics from the turn of the millenium», die ein Kritiker als Ausgangspunkt hören will, verstehe ich zu wenig. Von Post-Bop-Elementen aber, die ein anderer ausmachen will, kann ich im faszinierend organisch atmenden und wechselnden polyrhythmischen Geflecht von Philipp Eden (Piano), Raphael Walser (Kontrabass) und Jonas Ruther (Drums) wenig ausmachen, so dass ich dieses Album mit dem schönen Titel «Is This Water?» einfach als das höre, was es ist: eine neue Art, mit dem alten Format Piano-Trio umzugehen; das Trio von der Dominanz des Pianos zu emanzipieren und in einem Vorgang der kollektiven real-time composition Bass und Schlagzeug als gleichwertige Partner zu verstehen.

So sahen das, auf ihre Weise, schon Ahmad Jamal in den fünfziger und Bill Evans in den sechziger Jahren. Dennoch ist die Musik von divr in der Art eigen, wie sie in der Kombination von bewegter Statik, repetitiven Loops und daraus oft überraschend ausbrechenden Weiterungen – im rhythmischen Kontinuum und in jeder Menge Brechungen durch den kreativ widerspenstigen tollen Bass und das mal ornamentale, mal herausfordernde Schlagzeug – in der stets evidenten Spannung zwischen Wiederholung und Überraschung eine Musik macht, wie sie der Titel nahelegt: bewegte Wasseroberfläche mit plötzlichen, unerwarteten Wirbeln.

Drüber, wie die Elektronik eingesetzt wird, etwa für anhaltende Drohnen, wüssten wir gerne mehr. Weiter ist an diesem Album unter dem Titel «Post-Production» Dan Nichols aufgeführt. Auch dazu wären ein paar Informationen hilfreich. Sechs Stücke sind spontan improvisierte Eigenkompositionen des Trios, eines die spannende Dekonstruktion eines Standards («Sweet and Lovely»), zwei sind sehr freie Auseinandersetzungen mit Rock-Klassikern (z. B. «All I Need» von Radiohead). Da summieren sich im Finish die Loops und Drohnen zu einem Obertongetöse wie beim Anhören mehrerer Glockengeläute gleichzeitig. Überwältigend viele Töne. Liegt deren Sinn in der Stille danach?

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