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Über 200 besorgte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werben für das Klimaschutzgesetz, über das wir am 18. Juni abstimmen. Ihre zentrale Aussage: «Wir sind heute schon von den Klimaschäden betroffen, und diese werden sich verstärken.» Damit wiederholen sie das immer wieder vorgetragene Mantra klimabesorgter Menschen, dass wir gegenwärtig bereits unter den Folgen des menschengemachten Klimawandels leiden würden und dass es immer schlimmer werde.

Aber stimmt das eigentlich? Und vor allem: Wie misst man solche Schäden? Vielleicht geht Ihnen jetzt durch den Kopf: «Was sollen diese Fragen; es ist doch alles klar, die Wissenschaft ist fertig und eindeutig» – wenn dem so ist, zeigt es, wie sehr Sie bereits konditioniert sind, ohne Nachfrage davon auszugehen, dass die Klimafolgen für uns negativ und bereits spürbar sind.

Optimierte Schutzmassnahmen

Einer kritischen Nachfrage hält das Mantra aber nicht stand. Um das zu verstehen, müssen wir zuerst wissen, wie sich ein Schaden überhaupt manifestiert, der durch klimabeeinflusste Naturkatastrophen verursacht wird. Die Antwort: erstens und am schlimmsten durch den Tod. Und weil dieser unumkehrbar ist, bedeutet ein solcher Verlust eine der grösstmöglichen Tragödien, die uns zustossen können. Und zweitens durch materielle Verluste – zerstörte Häuser, zerstörte Infrastrukturen, zerstörte Wertsachen, Geldverluste et cetera.

Zu beiden Punkten gibt es Daten für die Schweiz in der sogenannten Unwetterschadens-Datenbank der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Die Aufzeichnungen dort gehen bis 1972 zurück. Noch weiter zurück führt eine WSL-Studie von 2017: «Todesfälle durch Naturgefahrenprozesse in der Schweiz von 1946 bis 2015». Unter Naturgefahrenprozessen verstehen die Forscher Hochwasser, Rutschungen, Murgänge, Felsstürze, Windstürme, Blitzschläge und Lawinen – ausser Hitzewellen also alles, was durch die Klimaerwärmung beeinflusst werden könnte.

Fazit der Forscher: Die Zahl der (nicht selbstverschuldeten) Todesfälle hat in dieser Zeit signifikant abgenommen. Das gilt ebenso, wenn man die Zahlen bis 2021 ergänzt. Interessant ist zudem, dass auch die Zahl der Naturkatastrophen um gut die Hälfte abgenommen hat. Die Studie zeigt also ein völlig anderes Bild als das, was uns immer wieder vorgesagt wird: In Wirklichkeit hat die Zahl der Naturkatastrophen in den letzten 75 Jahren in der Schweiz abgenommen, vor allem aber sind die dadurch verursachten Todesfälle signifikant zurückgegangen.

Offensichtlich gelingt es einem reichen Land wie der Schweiz, sich mit ständig optimierten Schutzmassnahmen immer besser gegen die Gefahr zu schützen, durch Naturereignisse zu Tode zu kommen. Was aber ist mit den grossen materiellen Schäden, die durch solche Schlechtwetter-Ereignisse hervorgerufen werden? Immer wieder liest man doch, dass solche Schäden immer grösser werden und unseren Wohlstand bedrohen.

Diese Meldungen berücksichtigen aber normalerweise nur kurze Zeiträume. Relevant ist aber eine Langzeitbetrachtung. Und eine solche präsentiert die Website der oben erwähnten Unwetterschadens-Datenbank des WSL. Dort findet man eine Grafik, die die jährlichen Schadenssummen von 1972 bis 2021 zeigt – einmal nominal und einmal teuerungsbereinigt normalisiert auf der Basis von 2021. Dabei fällt auf, dass die Jahresresultate extrem schwanken: Neben dem schlimmsten Katastrophenjahr 2005 mit einer Schadenssumme von über drei Milliarden Franken gibt es Jahre, in denen alle Schäden zusammen weniger als 100 000 Franken betragen.

Die Menschen passen sich an

Mit den normalisierten Zahlen ist aber kein Trend auszumachen, was vom WSL bestätigt wird. Über die letzten fünfzig Jahre sind die zusammengerechneten Schäden, die durch Hochwasser, Murgänge, Rutschungen und Felsstürze verursacht wurden, immer innerhalb des gleichen Schwankungsmusters geblieben. Das ist umso erstaunlicher, als in dieser Zeit die Schweizer Bevölkerung um knapp 40 Prozent gewachsen ist und sich das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf beinahe vervierfacht hat.

Bei einem derartigen Bevölkerungswachstum, verbunden mit einer massiven Zunahme des Reichtums jedes einzelnen Bewohners, mutet es wie ein Wunder an, dass die monetären Schäden wegen Naturkatastrophen nicht explodiert sind. Aber auch hier liegt die Erklärung bei der fantastischen Anpassungsfähigkeit der Menschen, die aber in einem solchen Ausmass nur spielen kann, wenn ein anhaltendes Wirtschaftswachstum vorhanden ist.

Dies alles scheinen die Klimabesorgten Wissenschaftler zu ignorieren, die für das Klimaschutzgesetz votieren. Ihre Grundthese, dass wir «heute schon von den Klimaschäden betroffen» sind – womit suggeriert wird, dass es bereits schlimmer geworden ist –, entpuppt sich im wissenschaftlichen Langzeitvergleich als falsch: In Wirklichkeit können wir uns immer besser vor negativen Klimafolgen schützen. Dies gilt ganz besonders bei den Todesfällen. Aber auch bei den wirtschaftlichen Schäden sind wir angesichts einer wachsenden Bevölkerung, die immer reicher wird, relativ betrachtet immer weniger betroffen.

Damit fällt das Fundament der Argumente der 200 Wissenschaftler in sich zusammen: ein guter Grund, das Klimaschutzgesetz abzulehnen.

Martin Schlumpf: Atomkraft – Das Tabu. Edition Königstuhl. 170 S., Fr. 24.–

Über 200 besorgte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werben für das Klimaschutzgesetz, über das wir am 18. Juni abstimmen. Ihre zentrale Aussage: «Wir sind heute schon von den Klimaschäden betroffen, und diese werden sich verstärken.» Damit wiederholen sie das immer wieder vorgetragene Mantra klimabesorgter Menschen, dass wir gegenwärtig bereits unter den Folgen des menschengemachten Klimawandels leiden würden und dass es immer schlimmer werde.

Aber stimmt das eigentlich? Und vor allem: Wie misst man solche Schäden? Vielleicht geht Ihnen jetzt durch den Kopf: «Was sollen diese Fragen; es ist doch alles klar, die Wissenschaft ist fertig und eindeutig» – wenn dem so ist, zeigt es, wie sehr Sie bereits konditioniert sind, ohne Nachfrage davon auszugehen, dass die Klimafolgen für uns negativ und bereits spürbar sind.

Optimierte Schutzmassnahmen

Einer kritischen Nachfrage hält das Mantra aber nicht stand. Um das zu verstehen, müssen wir zuerst wissen, wie sich ein Schaden überhaupt manifestiert, der durch klimabeeinflusste Naturkatastrophen verursacht wird. Die Antwort: erstens und am schlimmsten durch den Tod. Und weil dieser unumkehrbar ist, bedeutet ein solcher Verlust eine der grösstmöglichen Tragödien, die uns zustossen können. Und zweitens durch materielle Verluste – zerstörte Häuser, zerstörte Infrastrukturen, zerstörte Wertsachen, Geldverluste et cetera.

Zu beiden Punkten gibt es Daten für die Schweiz in der sogenannten Unwetterschadens-Datenbank der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Die Aufzeichnungen dort gehen bis 1972 zurück. Noch weiter zurück führt eine WSL-Studie von 2017: «Todesfälle durch Naturgefahrenprozesse in der Schweiz von 1946 bis 2015». Unter Naturgefahrenprozessen verstehen die Forscher Hochwasser, Rutschungen, Murgänge, Felsstürze, Windstürme, Blitzschläge und Lawinen – ausser Hitzewellen also alles, was durch die Klimaerwärmung beeinflusst werden könnte.

Fazit der Forscher: Die Zahl der (nicht selbstverschuldeten) Todesfälle hat in dieser Zeit signifikant abgenommen. Das gilt ebenso, wenn man die Zahlen bis 2021 ergänzt. Interessant ist zu- dem, dass auch die Zahl der Naturkatastrophen um gut die Hälfte abgenommen hat. Die Studie zeigt also ein völlig anderes Bild als das, was uns immer wieder vorgesagt wird: In Wirklichkeit hat die Zahl der Naturkatastrophen in den letzten 75 Jahren in der Schweiz abgenommen, vor allem aber sind die dadurch verursachten Todesfälle signifikant zurückgegangen.

Offensichtlich gelingt es einem reichen Land wie der Schweiz, sich mit ständig optimierten Schutzmassnahmen immer besser gegen die Gefahr zu schützen, durch Naturereignisse zu Tode zu kommen. Was aber ist mit den grossen materiellen Schäden, die durch solche Schlechtwetter-Ereignisse hervorgerufen werden? Immer wieder liest man doch, dass solche Schäden immer grösser werden und unseren Wohlstand bedrohen.

Diese Meldungen berücksichtigen aber normalerweise nur kurze Zeiträume. Relevant ist aber eine Langzeitbetrachtung. Und eine solche präsentiert die Website der oben erwähnten Unwetterschadens-Datenbank des WSL. Dort findet man eine Grafik, die die jährlichen Schadenssummen von 1972 bis 2021 zeigt – einmal nominal und einmal teuerungs- bereinigt normalisiert auf der Basis von 2021. Dabei fällt auf, dass die Jahresresultate extrem schwanken: Neben dem schlimmsten Katastrophenjahr 2005 mit einer Schadenssumme von über drei Milliarden Franken gibt es Jahre, in denen alle Schäden zusammen weniger als 100 000 Franken betragen.

Die Menschen passen sich an

Mit den normalisierten Zahlen ist aber kein Trend auszumachen, was vom WSL bestätigt wird. Über die letzten fünfzig Jahre sind die zusammengerechneten Schäden, die durch Hochwasser, Murgänge, Rutschungen und Felsstürze verursacht wurden, immer innerhalb des gleichen Schwankungsmusters geblieben. Das ist umso erstaunlicher, als in dieser Zeit die Schweizer Bevölkerung um knapp 40 Prozent gewachsen ist und sich das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf beinahe vervierfacht hat.

Bei einem derartigen Bevölkerungswachstum, verbunden mit einer massiven Zunahme des Reichtums jedes einzelnen Bewohners, mutet es wie ein Wunder an, dass die monetären Schäden wegen Naturkatastrophen nicht explodiert sind. Aber auch hier liegt die Erklärung bei der fantastischen Anpassungsfähigkeit der Menschen, die aber in einem solchen Ausmass nur spielen kann, wenn ein anhaltendes Wirtschaftswachstum vorhanden ist.

Dies alles scheinen die Klimabesorgten Wissenschaftler zu ignorieren, die für das Klimaschutzgesetz votieren. Ihre Grundthese, dass wir «heute schon von den Klimaschäden betroffen» sind – womit suggeriert wird, dass es bereits schlimmer geworden ist –, entpuppt sich im wissenschaftlichen Langzeitvergleich als falsch: In Wirklichkeit können wir uns immer besser vor negativen Klimafolgen schützen. Dies gilt ganz besonders bei den Todesfällen. Aber auch bei den wirtschaftlichen Schäden sind wir angesichts einer wachsenden Bevölkerung, die immer reicher wird, relativ betrachtet immer weniger betroffen.

Damit fällt das Fundament der Argumente der 200 Wissenschaftler in sich zusammen: ein guter Grund, das Klimaschutzgesetz abzulehnen.

Martin Schlumpf: Atomkraft – Das Tabu. Edition Königstuhl. 170 S., Fr. 24.–

Everything But the Girl: Fuse. Virgin Records

Die Ansage der Gattin kam plötzlich: «Actually, babe, do you know what? I think I want to stop now.» Es war irgendwann gegen Ende des Jahrtausends, als Tracey Thorn ihrem Gemahl mitteilte, dass nun Schluss sei mit dem Leben als Popstars. Nach langen Jahren als Geheimtipp hatte das Paar einen Riesenhit eingespielt, der sich weltweit monatelang in den oberen Chart-Positionen festgekrallt hatte – nun waren sie hip und hatten ausgesorgt. Jetzt, so eröffnete Thorn dem perplexen Ben Watt, wolle sie endlich Familie, Kinder, Privatleben.

1983 hatten die beiden das Projekt «Everything But the Girl» ins Leben gerufen und ein Jahr später geheiratet. Über zehn zähe Jahre wurde das Duo von der Fachpresse beständig als Geheimtipp getätschelt, das verlässlich Songwriter-Handwerk vom Feinsten präsentierte. Die Musik der beiden liess sich all die Zeit über nur schwer einhegen. Irgendwo zwischen Elektropop, Squeeze und Christine McVie hatten EBTG ihr eigenes unverwechselbares Terrain gefunden, immer abwechslungsreich, immer britisch – und übrigens auch 2023 keineswegs Schnee von gestern. Mitte der Neunziger entdeckte der New Yorker Produzent und DJ Todd Terry schliesslich das eher gemächliche «Missing» mit dem eingängigen Chorus («like the deserts miss the rain»), mischte den Track neu als treibende House-Nummer ab, und raketengleich schoss das Ding samt der LP «Amplified Heart» weltweit durch die Decke. Hello Superstars – goodbye Geheimtipp.

Ohne emotionales Gedönswerden da die Alltagstraurigkeiten des Lebens verhandelt.

Must für Musikfans

Doch 1999 war unwiderruflich Schluss. Fast ein Vierteljahrhundert lang zogen Thorn und Watt ihre Kinder gross, schrieben – jeder für sich – mehrere (immer lesenswerte!) Bücher, produzierten andere Künstler und spielten dann und wann (immer hörenswerte!) Soloplatten ein. Das Thema «Everything But the Girl» war Popgeschichte.

Gegen Ende der Corona-Zeit meldete sich ausgerechnet bei Tracey Thorn die reizvolle Erinnerung an die längst abgeschlossene EBTG-Periode wieder heftiger. «Jünger werden wir nicht mehr, du kannst so was einfach nicht ewig aufschieben», erklärte die inzwischen 61-Jährige kürzlich dem Guardian. Und so begaben sich die Eheleute Thorn & Watts vor einem Jahr zunächst zögernd ins heimische Studio und nahmen das Unternehmen «TREN» (aus Tracey und Ben zusammengesetzt) in Angriff, um die möglicherweise zu hohen Erwartungen an EBTG zu dämpfen. Eine Sorge, die sich als unbegründet herausstellte. Irgendwann stieg Rauch auf – nach 24 Jahren meldete sich «Everything But the Girl» mit einem neuen Album zurück.

«Fuse» katapultiert den reiferen Fan zunächst einmal zurück in den Synthiepop der neunziger Jahre. Deutlich sind die Echos von Spandau Ballet, Eurythmics und New Order zu vernehmen, doch Vorsicht: Dies ist kein graumeliertes Retroprojekt für die Familienkasse betagter Hipster. Die EBTG-Wiedergeburt sauste zwar genauso flugs in die Charts wie die Vorgänger, doch die Songs sind auch lange nach der einstigen Auflösung wieder von herausragender Qualität. Vor allem ist da nach wie vor die Stimme von Tracey Thorn, deren warme, anrührende Direktheit immer noch diese relaxte Wahrhaftigkeit verströmt, so dass tatsächlich wieder Suchtgefahr besteht.

Wer in hundert Jahren Näheres über die Befindlichkeit dieser Tage in Mitteleuropa erfahren will, sollte (das sei in die Zukunft geraten) unbedingt die Musik von EBTG hören: Ohne emotionales Gedöns und never ever treuherzig (etwa wie Ed Sheeran auf seinem neuen Album) werden da die Alltagstraurigkeiten des Lebens verhandelt – wie nebenbei und wunderbar beiläufig. Dazu noch eine frische Brise Elektro-Space (man könnte meinen, Brian Eno hätte mal reingeschaut), mit einem gewissen Glücksgefühl und zartem Weltschmerz versetzt, macht das Album zum Must für Musikfans.

Kulturplatz: Künstliche Intelligenz. 3. Mai, SRF

Allgemeinplätze sind unvermeidbar, wenn man über das Thema der Stunde spricht: künstliche Intelligenz. In dieser Spezialsendung von «Kulturplatz» etwa war zu hören: «KI ist eine Herausforderung für die Demokratie.» – «Die Büchse der Pandora ist geöffnet.» – «Der Default-Zustand wird sein: Alles wird falsch sein.» Ansonsten wurde es erfrischend konkret. Dafür sorgte ein interessanter Plot-Twist: Moderatorin Nina Mavis Brunner bat auf Geheiss einer (gefakten) SRF-KI Satiriker Patrick Karpiczenko, an ihrer Stelle durch die Sendung zu führen: «Du übernimmst – aber auch die Verantwortung.»

Logisch, sprang Karpi auf den Auftrag wie ein Cockerspaniel auf einen Gummiknochen: «Meine Arbeit oszilliert seit Jahren zwischen Kultur und Technologie.» Es folgte ein Streifzug durch Kultur, Politik und Nachrichten. Karpi unterhält sich mit Schlagzeuger-Legende Jojo Mayer («Meine Idee, Musik mit einer Maschine zu machen, ist [. . .], mein Denken zu erweitern») und Moritz Zumbühl von der Agentur Feinheit («2023 ist vielleicht das Jahr, in dem die Realität kollabiert»); er konfrontiert Balthasar Glättli mit Bildern, die ihn als Demonstranten im brennenden Paris zeigen («Es ist mächtig gefährlich»), ermöglicht es der Autorin Simone Meier, mit der Protagonistin einer ihrer Romane zu parlieren («Es ist wahnsinnig durchschaubar»), und er demonstriert, dass eine dreiminütige Stimmprobe genügt, um eine Software mit Mavis Brunners Stimme auf Englisch sprechen zu lassen.

Menschen, so Brunner, würden künftig nicht durch KI ersetzt, sondern durch Menschen, die damit umgehen können. Insbesondere dann, ist man versucht anzufügen, wenn man ihnen den eigenen Job auf dem Silbertablett reicht.

Mathias Rüegg: The Blue Piano. Lotus Records LR22063/64CD

Zeit seines Lebens war er ein Tänzer auf dem Grat zwischen den musikalischen Gattungen, ja zwischen den Künsten. Im Zentrum der Arbeit von Mathias Rüegg stand das Vienna Art Orchestra (VAO), das er 1977 gründete und bis 2010 leitete, ein vielfarbiger Verband von solistischen Potenzen, auf deren Stimmen hin er seine mitreisenden, intelligenten und tiefgründigen Arrangements schrieb. Seine «klassische Bildung» war dabei immer mit die Basis für das, was er als «zeitgenössisch» verstand. So suchte er auch immer wieder die Zusammenarbeit mit klassischen Musikern und «Formaten». Nach dem Ende des VAO war ein Zentrum seiner Arbeit die mit der Sängerin Lia Pale (der 1985 geborenen Julia Pallanch), mit der er auf vier Alben das Kunstlied («Le Lied») aus dem Geist des Jazzsongs neu interpretierte: Schubert, Schumann, Brahms, Händel.

Nun hat er sich und uns zu seinem siebzigsten Geburtstag gewissermassen «The Rüegg Songbook» geschenkt, das allerdings nicht so heisst und zum kleineren Teil Lia Pale und diese Verbindung von Kunstlied und Jazz präsentiert. Das Doppelalbum heisst «The Blue Piano». Was nichts mit Blues zu tun hat, sondern mit einem Gedicht von Else Lasker-Schüler. Es ist eine der achtzehn mit grossem Gespür ausgewählten literarischen Vorlagen, die Rüegg für seine Vertonungen in an almost classical mode und die Präsentation durch ein junges Duo, die Pianistin Soley Blümel (*2008!) und den Bariton Benjamin Harasko (*1995), auswählte. Teils gewichtige, teils originell entlegene Trouvaillen, musikalisch in einem nur selten und behutsam modern angeschärften Neo-Romantizismus umgesetzt. Eine Auswahl davon wird in der Folge für Pale, Rüegg selbst am Piano und die bekannte Band plus Solisten arrangiert. Die zweite CD («The Advantage of Writing Music») enthält Mozart-, Liszt- und Satie-Bearbeitungen respektive Variationen und ein Stück für die Pianistin Sabina Hasanova umgeschriebene Theatermusik. Plus, als jüngste Eigenkompositionen, «Five Figures out of My Dream», dem erstaunlichen Jungtalent Soley Blümel zugewidmet.

«The Blue Piano» ist, wenn wir ihm denn glauben wollen, Rüeggs Abschied von dem von ihm zunehmend als feindlich erfahrenen Musik-Business. Nicht sein Abschied von der Musik, hoffen wir. Über «The Blue Piano» hat er ein Zitat seines Schutzheiligen Duke Ellington gesetzt: «Music is music, that’s it.»

«Im Bad der Farben – Renoir und Monet an der Grenouillère». Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz», Winterthur. Bis 17. September

Zwei junge Männer sitzen an der Seine und malen en plein air – mit Staffelei, Pinseln und Farbe unter offenem Himmel. Die beiden beobachten das muntere Treiben der Damen und Herren aus dem nahen Paris am Badeort «La Grenouillère», die sich hier verlustieren. Die Künstler sind noch keine dreissig Jahre alt und heissen Pierre-Auguste Renoir und Claude Monet. Sie suchen neue Ausdrucksformen der Malerei, um ihre Eindrücke möglichst unverfälscht wiederzugeben. Entstanden sind zwei Ölgemälde, die gleich und doch anders sind.

Das Bildpaar «La Grenouillère» von Renoir und «Am Badeplatz von Grenouillère» von Monet ist nun erstmals im direkten Vergleich zu sehen. «Im Bad der Farben» heisst eine neue Ausstellung in der Sammlung Oskar Reinhart am Winterthurer Römerholz. Die Schau zeigt neben den beiden zentralen Werken das damalige künstlerische Umfeld, in dem diese entstanden sind: die mit dem Aufkommen der Fotografie neue Suche nach der Darstellung einer subjektiv empfundenen Wirklichkeit. Renoir und Monet erkannten, wie individuell sich die Wahrnehmung künstlerisch umsetzen liess. Es war die Suche nach einer eigenen, persönlichen Wahrhaftigkeit.

Wir schreiben das Jahre 1869. Die Freunde Monet und Renoir sehen sich in einer materiell prekären Lebenslage. Monet hatte Schulden, konnte für seine Frau Camille und den gemeinsamen Sohn nicht aufkommen. Er fand für seine Kunst keinen Markt, der Salon de Paris lehnte seine Werke immer wieder ab. Noch schlimmer waren damals die Verhältnisse von Auguste Renoir, der später behauptete, in jener Periode gehungert zu haben. Das hinderte die beiden nicht daran, an ihren Überzeugungen festzuhalten und auf Kompromisse zu verzichten – Monet noch radikaler als Renoir. Beide waren ihrer Zeit voraus, hatten aber noch keinen Markt gefunden.

Gleichzeitig hatte sich das französische Bürgertum nach der Revolution und den Napoleonischen Kriegen als bestimmende gesellschaftliche Schicht etabliert. Wer etwas sein wollte, musste sich auf dem Parkett der Bourgeoisie zeigen, und dazu war ein Badeort wie die Grenouillère am Unterlauf der Seine ideal. Sie liess sich mit der eben gebauten Eisenbahn von Paris aus leicht erreichen. Sie war weit genug entfernt, um sich der Hemmungen zu entledigen. Ein findiger Kleinunternehmer hatte zudem ein Café, einen Bootsbetrieb und Badehäuschen für Vergnügungen aller Art eingerichtet. Ein Bonmot besagte damals, dass viele «Pariser Damen die Grenouillère alleine aufsuchten und zu zweit zurückkehrten». Gesellschaftliche Barrieren zwischen den Geschlechtern und sozialer Stellung waren niedrig. Davon zeugt ein munterer Kupferstich in der Ausstellung unter dem Titel der «Donnerstagabend-Ball», der das frivole Allotria dokumentiert.

Nahezu identische Perspektive

Dieses wird den beiden Compagnons Renoir und Monet aus finanziellen Gründen verwehrt geblieben sein. Genau das prädestinierte sie indes zu scharfen Beobachtern: Sie malten die Demoiselles und Messieurs auf einem kleinen Laufsteg, der vom Flussufer zu einer Art Lustinsel mit einem einzigen Baum führte. Hier konnte man sich finden, hier kam man sich nahe. Renoir und Monet wählten eine nahezu identische Perspektive, wie eine geometrische Skizze in der Schau dokumentiert. Prima vista sind die beiden Bilder deckungsgleich. Bei näherem Hinschauen zeigen sich indes Unterschiede, zumal Monet die Landschaftsmalerei besser beherrschte als Renoir, der dem figürlichen Malen näherstand. So setzte er auf eine kühnere Farbgebung, während Monets Pinselstrich bestimmender war, wie sich vor allem bei der Wiedergabe des Flusswassers zeigt.

. . . und in der Version von Renoir (beide 1869).

Schon 1869 stand ein zumindest vorläufiges Ende der Frivolitäten an. Zwar verlieh der damalige Kaiser Napoleon III. der Örtlichkeit mit einem Besuch höhere Weihen. Just dieser Kaiser zettelte ein Jahr später den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 an, der mit einer krachenden französischen Niederlage endete. Monet flüchtete nach London, um nicht eingezogen zu werden. Renoir meldete sich freiwillig zum Dienst und erkrankte schwer an der Ruhr. Da war die Romantik der «Grenouillère» längst vergessen.

Shrinking: 1. Staffel, mit Jason Segel, Harrison Ford und Jessica Williams auf Apple TV+

Es geht hoch zu und her im Swimmingpool von Jimmy. Drogen, Alkohol und Prostituierte. Seit dem Tod seiner Frau vor einem Jahr steckt der Witwer in einem Sumpf aus Selbstmitleid und Schuldgefühlen. Auch die Beziehung zu seiner Teenager-Tochter ist ihm entglitten. Sie orientiert sich vielmehr an der neugierigen Nachbarin Liz, die sich als Ersatzmutter anbiedert.

Man könnte erwarten, dass Jimmy sein Leben schneller in den Griff bekommen würde, arbeitet er doch als Psychologe zusammen mit der quirligen Gaby und Obermuffel Paul, dem die Gemeinschaftspraxis gehört. Doch wie so oft ist Selbsterkenntnis nicht gerade um die Ecke. Vollends verkatert schleppt sich Jimmy in die Praxis, wo eine gestresste Patientin auf ihn wartet. In seinem Delirium rät er ihr, ihren – sie nicht wertschätzenden – Mann zu verlassen. Falls sie das nicht tue, könne sie nicht länger zu ihm in die Therapie kommen.

Menschgewordener Pudding

Von seinem erpresserischen Ansatz beflügelt, stilisiert sich Jimmy zu einer Art Psycho-Revoluzzer empor und bietet als Nächstes seinem neuen Patienten Sean eine Bleibe bei sich zu Hause an. Der junge Kriegsveteran fühlt sich schnell provoziert und prügelt Leute zu Brei. Wer möchte ihn nicht bei sich einquartieren?

Dem Treiben seines Schützlings schaut Paul mit Sorge zu, doch auch er hat seine Baustellen. Er ist an Parkinson erkrankt, was zusehends seine motorischen, gelegentlich aber auch geistigen Fähigkeiten beeinflusst. Doch während Jimmy in seiner Verzweiflung Vollgas gibt, hat Paul sich eine harte Schale mit einigen Dornen zugelegt, mit der er seinen zunehmend fragileren Kern beschützen will. Unter dieser Taktik leidet seine erwachsene Tochter, die nichts von seiner Krankheit weiss.

Zwischen diesen schrägen Kerlen flattert Gaby wie ein bunter Vogel. Sie umgibt eine positive Aura aus Empathie und Fröhlichkeit, doch der Schein trügt. Sie hat sich kürzlich von ihrem Mann scheiden lassen und hat noch ziemlich daran zu nagen. Doch während die Herren der Schöpfung eine eher selbstzerstörerische und bisweilen schrullige Verhaltensweise an den Tag legen, wählt Gaby einen konstruktiveren Weg.

Nachdem Harrison Ford, der den grummeligen Paul spielt, das Drehbuch zu «Shrinking» gelesen hatte, soll er zu dessen Autor Brett Goldstein gesagt haben: «Das beste Skript, das ich je gelesen habe. Beste Dialoge überhaupt.» Dass Goldstein, bekannt als bärbeissiger Coach Roy Kent in der Feel-good-TV-Serie «Ted Lasso», nicht einfach eine nette Geschichte in der «Late Show with Stephen Colbert» erzählt hat, beweist das Engagement Fords. Noch nie zuvor hat der Mann, der als Indiana Jones Nazis vermöbelte und in «Star Wars» dem Imperium den Krieg erklärte, eine Rolle im Fernsehen angenommen. Und: Seine Spielfreude trägt massgeblich zum Genuss von «Shrinking» bei.

Doch die Comedy-Serie lebt vom Ensemble und von den «Oh, shit»-Momenten, die nach einem freudigen Lacher diesen nicht selten zum Verstummen bringen. Jason Segels Jimmy ist ein Mensch gewordener Pudding, ein glibberiger Haufen Selbstmitleid, der verzweifelt versucht, die Beziehung zu seiner Tochter zu kitten, und dabei stets zu dick aufträgt. Facettenreich ist die Darbietung von Jessica Williams als flamboyante Gaby. Sie schillert zwischen nerviger Tusse, kumpelhafter Mutterfigur und sexy Freundin mit gewissen Vorzügen. Harrison Ford wirkt bei all dem Psycho-Chaos wie ein Fels in der Brandung und verpasst keinen Moment, um nicht einen knochentrockenen Kommentar dazu abzugeben. «Shrinking» – ein wahre Freude!

Guardians of the Galaxy Vol. 3 (USA, 2023). Regie: James Gunn. Mit Chris Pratt, Zoe Saldana, Vin Diesel, Bradley Cooper u. a.

Im «Land des Lächelns» mit dem «Vetter von Dingsda», den Mitzis und Gspusis und Schlawinern und Belamis im «Weissen Rössl» zu sitzen und moussierenden Schampus zu schlürfen, ist herrlich. Da hängt der Himmel voller Geigen. Wird der Schampus mit LSD versetzt, hängen nicht die Geigen am Himmel, sondern die Grisetten und Bonvivants, die ganze Operetten-Lustbarkeit, und entfleucht weit in die Galaxie. Aus dem «Weissen Rössl» wird ein Schrott-Planet namens Knowhere, Kopfgeburt eines toten Überwesens, und in seinem Inneren sieht’s dementsprechend aus: Rumpelkammer-mässig, und die Dingsdas sind ausgefreakte Alien-Vagabunden, durch magellanische Speed-Wolken schwebend. Eine andere Erklärung ist, angesichts eines Baum-Mannes, der aus einer humanoiden Baumrinde mit Rindenkopf besteht, aus dem die Borkenkäfer geflohen sind, beim besten Willen nicht möglich. Auch Kugelkopf Groot, Irokesenschnitt-Maschine-Mensch Kraglin, Hund Cosmo, Mantis, Drax, Nebula, Waschbär Rocket, allesamt Glam-Punkrock-Trödeleien, wie aus verratztem Stuck gehauen, können nur die Ausgeburten eines wilden Trips sein.

Das All ist nicht leer

Keine Frage: Wir befinden uns in der Space-Operette «Guardians of the Galaxy», dem hanswurstiadischen Ableger der Superhelden-Riege aus dem Hause Marvel. Sie erwies sich vom Start weg als so erfolgreich, dass ein zweites Sequel folgte (es soll das letzte sein, mal abwarten). Das All ist nicht leer, sondern eine bengalisch-ockerkegelige Mixtur aus Bumerang-verdrehter Niki-de-Saint-Phalle-Ästhetik, «Wizard of Oz»-Zugedröhntheit und Jeff-Koons-Glitzer-Kitsch. Ein Tummelplatz für Primadonnen wie Iron Man, Thor, Captain America et cetera ist es jedenfalls nicht. Marvel hat sich mit seinen Superhelden in eine Bildungsstätte für Erhabenes gemendelt, was – ausser bei Hardcore-Fans – nicht unbedingt auf Gegenliebe stösst. Der neue Super-Ernst, mit dem sie wie himmlische Heerscharen den Weltuntergang verhindern, wirkte zusehends nur noch (unfreiwillig) albern. Vor allem, wenn sie mit Güte im Blick der Menschen mögliches Unglück bedenken. Dann sind sie gefährlich nahe am Schwanenritter Lohengrin auf seinem Schwimmvogel. Abhilfe war also nötig. Um die Marvel-Fans aber nicht zu vergraulen, griff man auf die Reservebank, nach bisher nicht verwendeten, eingepökelten Figuren. Die Comic-Autoren Dan Abnett und Andy Lanning entwickelten und erweiterten das Kabinett der Figuren, um sie vom Pathos der Heroen und vom Weihrauch, der sie zunehmend umgab, abzugrenzen. Marvel war ja nicht der einzige Superhelden-Klub, der seine Mitglieder zur Ernsthaftigkeit verdonnert hatte.

«Eine leise Schwermut», so Egon Friedell, «ist die Lasur aller Kunst.»Den Anfang machte die Konkurrenz DC-Comics mit ihren «Superman» und «Batman»-Filmen. Christopher Nolan hob mit seiner «Batman»-Trilogie den Himmels-Rambo in hamletsche Höhen, wo die Luft für den gemeinen Superhelden-Fan dünn wird. Der Erfolg gab ihm recht, was sofort Konkurrent Marvel mobilisierte. «Eine leise Schwermut», so Egon Friedell, «ist die Lasur aller Kunst.» Die Produzenten der Kerle in Ganzkörper-Trikots wollten Kunst, auch wenn die «Lasur» eine Neigung zum Kitsch bekam. Und weil das Hamletsche, das Problem-Edle der Superkerle überhandnahm, musste ein Gegengewicht her, eine vorsichtige Rückkehr zu den Wurzeln, dem komischen Trash.

Mit dem Sidekick-Figuren-Umfeld à la Dan Abnett und Andy Lanning war das tragbar. Im Zentrum musste natürlich ein Held bleiben, Chris Pratt. Das Konzept mit den «Guardians of the Galaxy» erwies sich als verblüffend geistreich. Auch wenn in der Galaxie nicht gesungen und getanzt wird, die operettentypische Tändelei funktionierte. Der Kultur-Zuchtmeister Theodor Adorno sprach einst über die Operette das Machtwort vom «kalkulierten Schwachsinn», worauf die Gesangs-Klamotte zum tingelnden Tourneetheater verkam. Das Kinogewerbe rettete sich ins Musical. Klamotten wie «Blues Brothers» oder «Ghostbusters» fehlte das Tandaradei der «Dingsda»-Vettern, das die Guardians in beschwingte Fantasy überführt haben. Und so wie sich einst das Operetten-Personal im Walzertakt in den Himmel voller Geigen drehte, bewegen sich die Grunge-Aussenseiter am Rande des Nichts, als seien sie durch eine Gravitations-Kollision aus der Halterung gebollert.

Super-Gummibärchen

Regisseur und Co-Autor der «Guardians» ist James Gunn, der sein Handwerk in der aberwitzigen Independent-Bude Troma lernte. In der entstanden Machwerke wie «Surf Nazis Must Die» oder «Frog Monster From Hell». Wer noch nie einen Troma-Film gesehen hat, dem dürfte einiges vom Kino-Spektakulum entgangen sein. Gunn habe, heisst es, im Revier von «Star Wars» und «Star Trek» gewildert. Mag sein; gross aber bleibt der Einfluss von Troma, von den spitzen und qualmenden Termitenhügel-Vulkanen und Milchstrassen-grellen Sterne-Verwirbelungen der ersten «Guardian»-Filme bis zum giftfarbenen Pudding, durch den die Tapferen im neuen Sequel müssen wie durch ein Super-Gummibärchen. Chaos bricht natürlich mit Adam Warlock aus, einem Superheini aus dem Marvel-Helden-Zirkus, der wie eine Flipperkugel raketenschnell, Kopf voran, sich durch Knowhere fräst, den Rückzugsort der Guardians. Die Hohepriesterin Ayesha, die von den Guardians übers Ohr gehauen wurde, hat ihn beauftragt. Sie will Rocket, den putzigen Waschbär. Hinter dieser grässlichen Machenschaft steckt der evil scientist High Evolutionary; er hält sich für Gott.

Es ist das Highlight des Films: Alles ist fast spiegelgleich, nur die Menschen nicht ganz.Das ist natürlich eine Anmassung. Quill, also Chris Pratt, der versoffen seiner Verflossenen nachgreint, muss mit den Lumpazivagabundi sich sofort auf den Weg machen, um Rocket, ihren genmanipulierten Kopfgeldjäger-Waschbären, wieder zurück in ihre «Familie» zu holen. Was auf dem Weg zu Evolutionary über den Syndikatschef Stakar Ogord, den mit sichtbarem Vergnügen Sylvester Stallone verkörpert, folgt, ist Trick-und-Requisiten-Völlerei vom Irrsten. Wie ein ausgerasteter Pfannkuchen gaukeln und gurgeln, sprotzen und brutzeln die Guardians in ihrem Raumschiff durch einen Planeten – oder was immer das ist – wie durch einen giftfarbenen Wackelpudding und landen schliesslich, nach allerlei butterklecksartigen Orten, beim bösen Wissenschaftler, auf dessen Schultern ein Kopf wie mit Nagellack lasiert sitzt. Der Lasierte, der sich für einen Gott hält, hat als Beweis seiner Fähigkeiten ein Gegenstück zur Erde geschaffen. Es ist das Highlight des Films: Alles ist fast spiegelgleich, nur die Menschen nicht ganz – sie sind humanoide Schweine oder Ziegen. Keine allzu schlechte genetische Umgestaltung.

Eine einzige grelle Revue

Allerdings salzt Gunn seine Acid-Odyssee eine Spur zu stark mit einer Parallelhandlung: der Vita des Waschbären, der vom evil scientist von klein auf für Tierversuche missbraucht und so zur Genmanipulation hergerichtet wurde. Für jeden Superhelden-Schlemmer ist das ganz grosses Tragik-Kino mit Ansage und Tierwohl-Engagiertheit. Und die Hardcore-Fans kriegen sich kaum ein vor Mitgefühl («Herzzerreissende Szenen, die besonders an die Nieren gehen») und verweisen dann auf «Avengers: Endgame», wo ja auch die Tränen flossen. Sich radikal kunterbuntem Firlefanz hinzugeben, wagt Marvel dann eben doch nicht. Was schade ist, denn das dritte Abenteuer der Galaxien-Wächter ist genau aus diesem Grund zu lang. Eines teilt der «Guardians»-Hype mit einem anderen, der ebenfalls seine Fans in Euphorie versetzt: mit «Fast & Furious»; auch im 10. Film um die Family von Dominic Toretto (Vin Diesel) geht’s um Emotionen, Vater-Sohn-Gefühle, eingekocht mit einer Hymne auf den fossilen Brennstoff, die sich ins Surreale geschraubt hat. Aber bei allem Irrsinn wird eine Haftung, eine Erdung, betont. Der Wahnsinn soll nicht durch die Decke und das Publikum vergrätzen. Der Rückgriff auf die Familie, aufs Emotionale, gibt Halt.

Morbider Glamour, choreografierter Taumel, eine einzige grelle Revue, verwirbelt mit Wokeness, Diversität, Multikulturalität; alles ist heterogen. Es geht bei den «Guardians of the Galaxy» drunter und drüber. Der wilde Tanz (oder gar Ritt) auf dem (galaktischen) Vulkan vor dem Hintergrund von Krieg, Zukunftsängsten und Klima macht den Erfolg aus, wie einst die leichte Muse ein Stück Lebensqualität in unsicheren Zeiten suchte. Deshalb bleiben, wie eh und je, auch bei den Guardians Gefühle so wichtig.

Free to Run: En route pour le marathon de Paris 2024. Musée Olympique, Lausanne. Bis 3. März 2024

Der Gepard ist das schnellste Tier auf Erden. Nur Fliegen ist schneller – ein Falke im Sturzflug erreicht eine Geschwindigkeit von 300 km/h. Im freien Fall übertraf der Extremsportler Felix Baumgartner beim Sprung aus der Stratosphäre die Schallgeschwindigkeit.

Schneller, höher, stärker: Auch im Zweikampf und beim Springen sind uns die Vierbeiner überlegen. Selbst gegen einen Elefanten müsste sich Usain Bolt im Wettlauf sehr anstrengen – der Ausgang ist ungewiss.

Citius, altius, fortius: Kein Tier strebt nach mehr oder weniger sinnlosen Rekorden und rennt zehn Kilometer. Von ihm unterscheidet sich der Homo sapiens durch seine Ausdauer und seine Hartnäckigkeit. Die Langstrecke ist menschlich – aber erst der Marathon macht den zivilisierten und freien Menschen aus. Den Beweis führt das Olympische Museum in Lausanne mit seiner Ausstellung «Free to Run».

Erst der Marathon macht den zivilisierten und freien Menschen aus.

Weltweites Ritual

Der Erste, der ihn rannte, war der Grieche Pheidippides. Er lief 490 vor unserer Zeitrechnung die 42,195 Kilometer nach Athen, überbrachte die Kunde vom Sieg gegen die Perser in Marathon und brach tot zusammen. Als sportliche Disziplin wurde der Marathon vom französischen Linguisten Michel Bréal für die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen erfunden. Die Ausstellung «Free to Run» hat der Sporthistoriker und Dokumentarfilmer Pierre Morath kuratiert, den eine Verletzung der Achillessehne an der Olympiateilnahme in Atlanta gehindert hatte. Sie ist multimedial, immersiv, auch pädagogisch. Den Marathon definiert Morath mit Churchills Kriegsverheissung «Blut, Schweiss und Tränen». Einen Schwerpunkt setzt er beim Kampf der Frauen gegen das «patriarchalische System». Morath zeigt, wie das Laufen zum gesellschaftlichen Phänomen wurde und der Marathon die Städte eroberte. Heute werden die populären Langstreckenrennen oftmals für einen guten Zweck gelaufen.

Wer die gelungene Inszenierung besucht, deren Eintritt gratis ist, sollte sich die permanente Ausstellung nicht entgehen lassen. Sie zeigt die völkerverbindende Dimension des olympischen Dorfs und erschliesst die Faszination, die von den Zeremonien ausgeht. Olympische Spiele sind das weltweite Ritual par excellence. Über die Bildschirme flimmern mitreissende Sequenzen vom Einmarsch der Athleten mit den Flaggen ihrer Nationen. Charles de Gaulle, 1968 in Grenoble, Leonid Breschnew, 1980 in Moskau – seine Spiele wurden wegen des Einmarschs in Afghanistan von den USA boykottiert –, und Ronald Reagan, vier Jahre später in Los Angeles, hielten Reden, die nie in die Geschichte eingingen. Hitlers Olympia in Berlin und Leni Riefenstahls Film über das «Fest der Völker» bleiben in Lausanne ausgeklammert.

Anfang Februar letzten Jahres eröffnete Xi Jinping die Winterspiele von Peking. Das olympische Feuer entzündete eine Uigurin. Der chinesische Staatschef benutzte den Anlass zum Gipfeltreffen mit Putin, der sich an das antike Ideal hielt: Die Griechen unterbrachen für die Spiele ihre Kriege, Putin lancierte seinen Angriff, als sie vorbei waren. Die Scheinheiligkeit gehört zu ihnen, seit sie der französische Aristokrat Pierre de Coubertin wiederaufleben liess. Ihm ging es um die Ertüchtigung der französischen Jugend als Vorbereitung auf die Revanche nach der Niederlage von 1871 gegen Bismarck, der das Deutsche Reich im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles begründet hatte. Paris war als Gastgeber 1900 und 1924 schon wieder an der Reihe.

Seither mussten die Franzosen hundert Jahre auf Sommerspiele warten. Den Marathon können sie nicht noch einmal erfinden. Aber sie haben sich einiges einfallen lassen. Vom Rathaus aus geht es zum Schloss von Versailles. Der historische Aufhänger des Abstechers ist der Marsch der Frauen im Oktober 1789. Zum Ziel wurde der Invalidendom mit Napoleons Grab auserkoren. 42 Kilometer als Resümee der Französischen Revolution.

Auf der gleichen Strecke findet zuvor am 3. März ein «Marathon für alle» statt. Die Lausanner Ausstellung wurde als Prolog konzipiert: «Free to Run, auf dem Weg zum Paris-Marathon 2024». Zu den Veranstaltungen, die sie begleiten, gehören zwei jeweils über acht Wochen laufende Trainings für Anfänger. Der Geschichte und dem Zeitgeist huldigt auch die olympische Dramaturgie: Um die Medaillen laufen die Männer einen Tag vor den Frauen, deren Marathon den grandiosen Abschluss und Höhepunkt der Olympischen Sommerspiele 2024 bilden wird.

Edvard Munch, Regen, 1902 – Ein Tropfen ist so leicht, er hat bloss ein Gewicht von 0,005 bis 0,03 Gramm. Schwer wird Regen erst, wenn er in unsere Seelen flutet. Wer weiss, wie viel Wasser in dem bald zu Ende gehenden Mai vom Himmel auf die Erde und in uns selbst fiel und kleinere und grössere Fluten von Trübsal fliessen liess.

Nur eine kleine Gruppe von Menschen konnte dem Regen einen kleinen Sonnenschein abgewinnen. Edvard Munch (1863–1944) wäre unter ihnen gewesen, unter all jenen Depressiven, die nicht gänzlich in sich selbst verloren sind, deren Seelenschmerz sich wie Wasserdampf in einer Wolke durch die Kälte kondensiert, die so in sie dringt, dass sie unablässig auf sich selbst niederregnen.

Wenn auch die vermeintlich Nicht-Verwundeten ihre Flügel hängen lassen, fühlt sich der Entfremdete ein klein wenig und auch trügerisch eingebunden in ein ihm verlorengegangenes Gemeinschaftsgefühl. So gesehen hatte der verregnete Mai wenigstens etwas Gutes, und wahrscheinlich wird es so sein, dass, wenn der Mai statistisch ausgewertet ist, die Selbstmordrate im Vergleich zu einem von der Sonne beschienenen Wonnemonat wenig lebendig ausfallen wird.

Bald kommt der Juni, mit ihm der längste Tag des Jahres, und bald werden die meisten von uns nicht mehr im Regen stehen, klamm und feucht unter einem schweren Himmel mit Wolken, die die Erde berühren und sie zudecken mit einer viel zu schweren Decke.

Dann wird das Sein zwar nicht so leicht wie ein Regentropfen, dafür ist es viel zu schwer, aber doch durchflutet von einer Unbeschwertheit, die nur die Depressiven als unerträgliche Last empfinden. Dann, im Juni, stehen wir da unter einem lichten Himmel voller Sonne, die den Trübsal austrocknet, so schnell, dass wir kaum mehr wissen, wie das war, die zusätzliche Schwere des Seins in der regenbogenlosen Lichtlosigkeit des Regens.

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