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Lausanne

Neulich kam ich im Zug zwischen -Zermatt und St. Moritz mit einem reizenden jungen Paar aus Japan ins Gespräch. Nachdem meine Lebensgefährtin nichtsahnend erwähnt hatte, dass ich mich seit Jahren mit der mehrsprachigen Schweiz abgebe, -packte freudige Erregung unser Vis-à-vis. Ob er mir eine Frage stellen könne, die ihn seit Tagen beschäftige, fragte mich der Mann.

Er wolle nämlich wissen, ob die Schweiz -zuerst deutsch gewesen sei und danach die Franzosen eingebrochen seien, oder ob die Schweiz zuerst zu Frankreich gehört habe und dann die Deutschen einmarschiert seien. Und wie es komme, dass auf den Schweizer Banknoten neben Deutsch und Französisch noch zwei weitere Sprachen prangten – jedoch kein Englisch. Und ob sich die Schweizer mit ihren vielen Landessprachen dennoch verstünden? Ob es bei uns keine Bürgerkriege gebe? Und so weiter.

 

So toll, so erstaunlich

Gute Fragen! Obwohl vor dem Zugfenster gerade der berückende Canyon des Oberrheins vorbeizog und ich eigentlich am liebsten geschwiegen und nur hinausgeschaut hätte, bemühte ich mich, so gut wie möglich auf diese VFAQs (very frequently asked questions) zu antworten. Ich legte dar, dass die Schweiz gar nie zu Frankreich oder zu Deutschland gehörte (es sei denn, man bezeichne das frühere «Heilige Römische Reich deutscher Nation», dem die Schweiz einst angehörte, als «Deutschland» – was man nicht tun sollte); dass sich die Schweiz schon früh aus einem deutschsprachigen Teil und drei romanischsprachigen Territorien zusammensetzte; dass sich die Schweizer, obwohl sie seit 1938 vier offizielle Landessprachen besässen (vor der Anerkennung des Rätoromanischen als -quarta lingua waren es drei), in der Regel ganz gut verstünden; dass es aber immer wieder zu Reibereien und politischen Spannungen komme; dass man hierzulande von einem «Rösti-graben» zwischen deutscher und französischer Schweiz spreche; dass die italienische und die rätoromanische Sprachregion nicht immer das Gehör fänden, das sie eigentlich verdienten, weshalb man gelegentlich von einer 2,5-sprachigen statt der viersprachigen Schweiz sprechen müsse.

Meine japanischen Gesprächspartner hörten aufmerksam zu und stellten viele Zusatzfragen, unterbrochen von freudigen «Oh» und «Hm». Die Zeit verging wie im Flug, und schon hatten wir das Engadin erreicht. Kurz vor der Ankunft sagte ich dem höflichen Paar noch in einer tadelswerten Anwandlung von Narzissmus, wenn sie mehr zum Thema wissen wollten, könnten sie mein Buch über den «Röstigraben» lesen, das vor einigen Jahren auch auf Japanisch erschienen sei. Die -Freude der sympathischen Japaner war jetzt übergross. Sie schüttelten uns die Hand, verneigten sich und sagten: «Switzerland is soo amazing!» Die Schweiz sei so toll, so erstaunlich! Sie wollten unbedingt wiederkommen und amazing Switzerland wiedersehen. 

 

Verdienste unserer Ahnen

Wenn ich diese schöne Geschichte -erzähle, dann nicht nur deshalb, weil sie schön ist (deswegen natürlich auch), sondern ebenfalls darum, weil sie etwas Wichtiges über unser Land aussagt. Man stellt nämlich immer wieder fest, dass die Mehrsprachigkeit der Schweiz in den Augen vieler Ausländer eines der inter-essantesten und erfreulichsten -Merkmale unseres Gemeinwesens darstellt. Weit entfernt davon, nur ein folkloristisches Überbleibsel der Vergangenheit zu bilden, ist diese Vielsprachigkeit vielmehr ein moderner und – angesichts der weltweiten Globalisierung – ausgesprochen zukunftsweisender Aspekt.

In einer Zeit, da die Welt zu einem «-globalen Dorf» zusammenwächst, in dem Kontakte wie auch Konflikte zwischen den Kulturen immer zahlreicher werden, könnte die Schweiz ihr Savoir-faire und Savoir-vivre in Sachen Mehrsprachigkeit durchaus etwas anpreisen. Doch staune ich immer wieder dar-über, wie wenig unser Land unternimmt, um diesen seinen vielleicht stärksten Trumpf auszuspielen und – warum nicht? – auch als USP (Alleinstellungsmerkmal) im internationalen Landesmarketing einzusetzen.

Sinnvoll wäre dies gerade zu einer Zeit, da andere nationale Alleinstellungsmerkmale – etwa die Exzellenz unserer Banken – einiges von ihrer Strahlkraft verloren haben. -Sicher, die Schönheit unserer Landschaften bleibt gross, auch wenn wir einiges tun, um sie zu verschandeln und zu zersiedeln. Sicher, die Schweiz gilt im internationalen Vergleich immer noch als sauber und sicher, auch wenn es eine heile Heidi-Welt auch hier nicht gibt. Die Schweiz hält also nach wie vor viele gute Karten in der Hand. Aber doch nicht so viele, dass sie einen ihrer besten -Trümpfe – eben: ihre Mehrsprachigkeit und Multikulturalität – nicht ausspielen sollte.

Dies bedeutet allerdings nicht, die Schweizer sollten sich aufplustern und ihr Land als die beste aller möglichen mehrsprachigen Welten darstellen und verkaufen. Auch in der Schweiz gleicht das Zusammenleben der Sprachgruppen, zu denen neben den einheimischen notabene auch die English speaking community sowie die Sprecher der Immigrationssprachen (Portugiesisch, Serbokroatisch, Türkisch, Albanisch usw.) gehören, oft mehr einem Nebeneinander als einem Miteinander.

Erstaunt stellt man zudem immer wieder fest, wie wenig manche Deutschschweizer und -Romands über die anderen Landesgegenden wissen. Wobei die italienischsprachigen Schweizer und die Rätoromanen von diesem Befund ausgenommen werden müssen: Sie stellen die besten -Ambassadeure der idée Suisse-Mehrsprachigkeit dar.

Es ist auch nicht so, wie dies manchmal a -posteriori postuliert wurde, dass die Eidgenossenschaft gegründet wurde, um -deutsche Kultur und romanische Zivilisation in einer friedlichen Synthese zu verschmelzen und eine Stätte der Begegnung zwischen den europä-ischen Kulturen zu bilden. Was zutrifft: Die Mehrsprachigkeit der Schweiz ist erst nach und nach entstanden und stellt mehr das Produkt historischer Zufälle als das Werk eines hellseherischen politischen Willens dar. Unseren Ahnen kommt aber das Verdienst zu, aus dieser Mehrsprachigkeit das Beste gemacht – oder, um es weniger emphatisch zu sagen, sie in friedliche Bahnen gelenkt zu haben.

 

Anfänge auf Deutsch

Am Anfang war die Eidgenossenschaft eine deutschschweizerische Erfindung. Zwar findet man es berührend, wenn man zuhört, wie -1.-August-Redner in der französischen Schweiz – bestrebt, einige Worte über den 1. August 1291 zu sagen, bevor sie auf aktuellere Themen überwechseln – von «unseren Vorfahren» in Uri, Schwyz und Unterwalden reden. In Wirklichkeit aber haben die Eidgenossen in der «Suisse primitive» (so wird hierzulande der Begriff «Urschweiz» übersetzt) wohl durchwegs alemannische Mundarten gesprochen. Anders gesagt: Die ersten Kapitel der Schweizer Geschichte wurden auf Deutsch geschrieben – wenn man davon absieht, dass der Bundesbrief von 1291 in lateinischer Sprache abgefasst ist.

Das heisst nun aber nicht, dass die roma-nischen Sprachgebiete erst spät zur Schweiz gestossen wären. Bereits im späten Mittelalter dehnte sich die Eidgenossenschaft in den -Tessin und in den romanischen Westen aus, und bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sie ihre Fühler in den rätoromanischen Raum ausgestreckt und war mit Graubünden ein Bündnis eingegangen. Die Schweiz ist somit seit einem halben Jahrtausend viersprachig. Die Mehrsprachigkeit der Eidgenossenschaft gehört also zu ihr fast von Geburt an.

Allerdings setzte sich die «alte Eidgenossenschaft», wie der Bund bis 1798 genannt wurde, aus dreizehn Kleinstaaten oder «Orten» zusammen, von denen ausser dem zweisprachigen Freiburg alle durch und durch alemannisch waren. Die romanischsprachigen Gebiete dagegen bildeten teils Untertanenländer der Kantone (wie die Waadt oder das Tessin) oder aber zugewandte Orte oder Verbündete mit beschränkten Mitspracherechten (Graubünden, Wallis, Genf usw.).

 

Insgesamt eine Erfolgsgeschichte

Erst die 1798 gegründete Helvetische Repu-blik machte die Schweiz zu einem Vielsprachenland, in dem Bürger unterschiedlicher Sprache gleichberechtigt zusammenlebten. Und erst der 1848 gegründete Bundesstaat vollzog mit der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Deutschen, Französischen und Italienischen als Nationalsprachen den entscheidenden Schritt zum Mehrsprachenstaat (das Rätoromanische wurde, wie erwähnt, erst in den 1930er Jahren als Landessprache anerkannt). Dennoch verfügt die deutschsprachige Schweiz, weil sie mehr als zwei Drittel der Bevölkerung ausmacht, bis heute über ein Übergewicht, unter dem die anderen Landesteile gelegentlich ächzen. Die Schweiz hat also keineswegs alle Sprachprobleme aus der Welt geschafft.

Aber das Erstaunliche an diesem Gemeinwesen besteht nicht so sehr darin, dass auch hier gelegentlich Spannungen zwischen den Sprachgruppen auftreten, sondern vielmehr, dass diese nicht häufiger und nicht heftiger sind. Eine Vielzahl von Faktoren kann dafür verantwortlich gemacht werden.

Zuerst einmal sorgt die föderale Struktur des Staates dazu, dass viele Probleme, die zu Spannungen zwischen den Sprachgruppen Anlass geben könnten, auf die kantonale Ebene verlagert werden. Die meisten Romands und die Tessiner gehören in ihren Kantonen zur Sprachmehrheit, was ihre Minderheitsposition auf nationaler Ebene abfedert (eine Ausnahme bilden allerdings die französischsprachigen Bernjurassier, die sowohl auf kantonaler als auch eidgenössischer Ebene eine Minderheit darstellen). Dann spielt die Tatsache, dass die Sprachminderheiten in der Landesregierung wie in den meisten staatlichen Institutionen einigermassen angemessen vertreten sind, ebenfalls eine besänftigende Rolle.

Auch die polyzentrische Struktur des Landes trägt zum Gleichgewicht bei. Die wirtschaftlich starken Agglomerationen Zürich, Basel und Genf sind zwar bedeutend, aber nicht hegemonial. Die Schweizer Hochschulen sind über das ganze Land verteilt. Auch bei der Einkommensstruktur stellt man kein krasses Gefälle zwischen den Sprachregionen fest, selbst wenn die Deutschschweizer auch pro Kopf über etwas mehr wirtschaftliche Ressourcen verfügen dürften.

Ohne Frage: Die Schweiz stellt auch bezüglich Mehrsprachigkeit gesamthaft eine Erfolgsgeschichte dar. Und sie hätte deshalb allen Grund und das Recht, diese Leistung etwas mehr ins Schaufenster und etwas weniger unter den Scheffel zu stellen. Die Mehrsprachigkeit unseres Landes ist aber nicht nur ein schönes Verkaufsargument und eine gute Karte für das Tourismusmarketing, sie hat auch handfeste Vorteile, nicht zuletzt wirtschaftlicher Art.

Drei Beispiele nur: Nicht wenige internationale Unternehmen lassen sich in der Schweiz nieder, weil sie hier eine multikulturelle Ambiance und mehrsprachiges Personal finden. Französische Gruppen kommen in die Schweiz, um hier den Einstieg in den nordeuropäisch-germanischen Markt zu versuchen. Und Unternehmen aus Nordeuropa sind in der Schweiz, um den Sprung nach Südeuropa und in den lateinischen Raum vorzubereiten. Die Mehrsprachigkeit gehört also durchaus auch zu den Vorteilen des Wirtschaftsstandorts Schweiz. Es schiene grobfahrlässig, diesen Aspekt zu vernachlässigen.

 

Schule der Demut

Schliesslich sollte die Mehrsprachigkeit auch in der Aussenpolitik vermehrt «vermarktet» werden. Die Schweiz verfügt hier über ein Know-how, das auch andere europäische Länder interessieren und inspirieren könnte. Viele Staaten im ehemaligen Ostblock und im Balkan, von der Ukraine nicht zu sprechen, sind mit komplizierten Minderheitsfragen konfrontiert. Die Schweiz könnte da vermehrt Hilfe bieten, ohne sich penetrant als Modell anbieten zu wollen. Unser Land zeigt, wie Respekt vor sprachlichen Minderheiten geht. Wobei dies natürlich nicht bedeutet, dass die Schweizer Lösungsansätze tel quel auf andere Länder übertragen werden können. 

Gelebte Mehrsprachigkeit ist aber auch für den einzelnen Menschen eine gute Sache. Erstens verbessert sie die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt und erleichtert die Kontakte auf Reisen und selbst im Alltag. Zweitens fördert sie die geistige Öffnung für andere Kulturen, was in der heutigen globalisierten Welt immer wichtiger wird. Drittens ist sie eine Schule der Demut: Selbst der intelligenteste Nobelpreisträger ist ein kleines Kind, wenn er die Sprache seines Gärtners lernen will. All dies ist gut für den Einzelnen und für das Zusammenleben in der Gesellschaft.

 

Gut für den Kopf

Übrigens haben Hirnforscher festgestellt, dass Menschen, die regelmässig mit mehreren Sprachen jonglieren müssen, geistig angeregt werden (nachzulesen etwa in: Albert Costa, «The Bilingual Brain», Penguin Books 2021). Dies bedeutet natürlich nicht, dass zwei- und mehrsprachige Menschen intelligenter sind als andere. Die geistige Flexibilität, die durch den Gebrauch mehrerer Sprachen trainiert wird, kann natürlich auch mit anderen intellektuellen und künstlerischen Betätigungen geübt werden: mit Musik, dem Rubik-Würfel, lateinischer Grammatik und vielem anderem mehr. Aber Mehrsprachigkeit ist gut für den Kopf, kein Zweifel.

Die Schweiz und die Schweizer hätten also allen Grund, nicht nur am 1. August auf ihre Mehrsprachigkeit zu pochen, sondern deren Pflege und Förderung zu einer vorrangigen politischen Aufgabe zu machen. Davon sind wir allerdings weit entfernt. Nicht dass nichts getan würde. Allein der Unterricht der Landessprachen in den öffentlichen Schulen kostet die Kantone und die Eidgenossenschaft jährlich Millionen – wobei nicht immer sicher ist, ob diese Investitionen immer bestmöglich angelegt sind. Auch die Stiftung Pro Helvetia, der unter anderem ebenfalls die Förderung der kulturellen Kontakte und der Verständigung zwischen den Sprachregionen obliegt, macht in diesem Bereich einiges, obwohl sich die aufgebrachten Mittel für ein wohlhabendes Land wie die Schweiz eher bescheiden ausnehmen. Vor allem steckt der Bund viel Geld in die Übersetzungstätigkeit der öffentlichen Institutionen und Verwaltungen. Dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass die Schweiz für die Förderung der Mehrsprachigkeit wesentlich mehr machen könnte und sollte, etwa in der Berufsbildung.

Es ist an der Zeit, die falsche Bescheidenheit abzulegen und aus der Mehrsprachigkeit der Schweiz einen wirklichen Trumpf zu machen. Es geht hier nicht um Folklore, sondern um die Zukunft des Landes und um die Stärkung eines Standortvorteils. Hopp Schwiiz! Courage, les Suisses ! Avanti popolo! Packen wir es an. Wir könnten so «amazing» sein.

Die Strassen, die sich hier kreuzen, erzählen alle mehr oder weniger einleuchtende Geschichten. Die Kannenfeldstrasse berichtet von einem Feld voller Kannen, die Entenweidstrasse von einer Herde watschelnder Enten. Die Flughafenstrasse führt zum Flughafen und von dort in die Luft. Die Mittlere Strasse, die mich auf meinem Morgenspaziergang hierhergeführt hat, heisst so, weil sie zwischen der Hebelstrasse und der Missionsstrasse eingeklemmt ist. Mühlhauserstrasse und Strassburgerallee zeigen an, wo wir uns befinden: in Basels Nordwesten nämlich, unweit der Grenze zum Elsass. Der Platz selber heisst Kannenfeldplatz. Er kommt in keinem Fremdenführer vor, weil er so unaufgeregt alltäglich ist.

 

Die Stadt tickt eben doch anders

Auch der Park, der daneben liegt, heisst so: Kannenfeldpark. Bis vor einigen Jahrzehnten war dies der offizielle Friedhof Basels, oder wie man hier sagt: «Gottsacker». Bis er zu klein wurde für die wachsende Zahl der Gebeine, die hier zur Ruhe gebettet wurden. Der alte Gottsacker wurde aufgehoben und Richtung Riehen aufs Hörnli verlegt. Aber ich vermute, dass noch immer etliche Teile von Basler Skeletten in der Erde liegen. Was sich als segensreich für die Lebenden erweist. Denn ein alter Friedhof darf nicht überbaut werden. So sorgen die Toten für die Lebenden.

Basel, die seltsame Schweizer Stadt ennet dem Jura. Durchaus sympathisch weit herum, aber irgendwie geheimnisvoll unbekannt. Es gab hier nie einen grossen Erzähler wie Keller oder Gotthelf, der den Leuten die eigene Geschichte erzählt hätte. Dafür Geistesgrössen wie Jacob Burckhardt und Friedrich -Nietzsche, beide waren Professoren an der hiesigen Universität. Oder nennen Sie mir bitte einmal ein halbes Dutzend zeitgenössischer Erzählerinnen und Erzähler aus Basel. Es wird Ihnen, auch wenn Sie sich auskennen, kaum gelingen. Ganz im Gegensatz etwa zu Zürich. Oder zur Kleinstadt Olten, die erstaunlicherweise ein richtiges Poetennest darstellt.

Die SVP, welche die grösste Schweizer Partei ist, führt in Basel ein Aussenseiterdasein. Stattdessen gibt es hier, und nur hier, die liberal-demokratische Partei. Basel tickt eben doch anders.

Ich vermute, die Baslerinnen und Basler sind durchaus einverstanden mit dieser Geheimniskrämerei. Man lebt hier gern in den eigenen Mauern. Man gibt nichts preis, am wenigsten die eigenen Gefühle.

Die höchsten Gebäude der Schweiz sind die Basler Roche-Türme. Das ist nur logisch, denn Bauland ist hier sehr knapp. Nur oben ist noch Raum, also baut man hinauf. Mit Chemie wird hier das Geld für die Basler Kultur verdient. Die Produktion brummt, täglich strömen Tausende Grenzgänger aus der EU herbei, um hier zu arbeiten und Geld zu verdienen.

Doch zurück zum Kannenfeldplatz. Als er gebaut wurde, gab es in Basel offenbar Bauland genug. Der Platz ist so grosszügig angelegt, dass er ohne Verkehrsampel auskommt. In der Mitte unter Bäumen ein geheimnisvolles Gebäude mit einem Türmlein auf dem Dach. Es erinnert mich immer an eine Täuferkapelle im Emmental, obschon ich weiss, dass es ein Transformatorenhäuschen ist. Es enthält neben Toiletten einen Kiosk, über dem in grossen Lettern «Basler-Strassenbahn» zu lesen ist. Eine erstaunliche Bezeichnung für das Trämli, das hier schon längst zur heiligen Kuh erklärt wurde. Rechts um die Ecke führt ein Weglein zu einem Brunnen, der die Jahreszahl 1926 trägt. -Darüber zeigt ein Kunstwerk einen nackten Knaben, der auf einem Delphin reitet. Sehr erstaunlich an diesem Ort.

 

Flair einer Grossstadt

Auf der östlichen Seite des Platzes befindet sich eine Tankstelle mit einem Shop, der 365 Tage im Jahr offen hat. Geführt wird er von einem Zweimetermann aus dem Kosovo. Er ist Schwergewichtsboxer, der seine Gegner offenbar reihenweise umhaut. Sonst aber ist er ein freundlicher Mann, der gerne mit Kunden redet.

Draussen auf dem Platz stehen ein paar Kaffeetischchen. Man kann hier in aller Ruhe Kaffee trinken und dem Treiben auf dem Platz zuschauen. Dieser Ort hat für mich tatsächlich das Flair einer Grossstadt. Es hängt hier etwas erstaunlich Altmodisches in der Luft. Etwas wunderbar Proletarisches. Die Art, wie die Leute miteinander reden, oft in einer fremden Sprache. Die Art, wie sie leben, entschlossen. Hinzu kommt, dass hier der Himmel gegen Westen sehr gross wird. Er zieht dich hin, auch wenn du nicht hingehst, sondern sitzen bleibst und das Leben schön findest.

 

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, ist ein Schweizer Schriftsteller aus Basel, bekannt für seine Hunkeler-Krimis. Neben seiner literarischen Arbeit verfasste er auch Theaterstücke.

Ich bin am Jurasüdfuss aufgewachsen. Un-sere Hausberge sind der Weissenstein, der Balmberg, die Hasenmatt und der Grenchenberg. Meine Eltern waren ihrer Arbeit wegen sehr oft abwesend, aber ich schätzte mich glücklich, einen präsenten, aktiven und lustigen Grossvater zu haben. Da er einen akuten Bergtick hatte, versuchte er mich für die Wanderziele der Region zu begeistern. Mir aber ging’s ähnlich wie vielen youngsters, deren Vorfahren versuchten, aus ihnen Vize-Luis-Trenkers zu machen: Ich war, gelinde gesagt, überhaupt nicht begeistert.

Aber ich riss mich am Riemen: Tapfer -machte ich die anstrengenden Hügelablatschereien mit. Dabei gelang es ihm oft, mich mit spielerischen Quizfragen zu Baum-, Tier- und Pflanzenarten geschickt bei der Stange zu halten. Immer wenn ich wieder ins Jammertal zu fallen drohte, zog er ein neues Kaninchen aus dem Hut: Wir sammelten Pilze und Tannzapfen, machten Steinwurf-Wettbewerbe, im Sommer grosse Lagerfeuer und im Winter noch grössere Schneemänner. So überbrückte er meine Langeweile und die hie und da vorgetäuschten Wadenkrämpfe.

Ohne es bewusst wahrzunehmen, erlebte ich bei unseren Mini-Bergtouren die heilende Wirkung der Natur. Am Abend eines solchen Trips schlief ich nicht nur besser, sondern fühlte mich tags darauf auch genährter als sonst. Natürlich konnte ich das damals noch nicht sehen, geschweige denn zugeben. Heute weiss ich, dass diese Wanderungen ein wichtiger Teil meiner Erziehung waren. Sinnvolle Erziehung ist ja nichts anderes als Beispiel und Liebe!

 

Jeder Käfer ein Universum

Diese Liebe zu den kleinen Dingen der Natur wusste mein Grossvater aufs vorzüglichste zu zelebrieren. Jeder Käfer, jede Bergdistel und jeder Ameisenhügel war für ihn ein eigenes Universum, eine weitere Sensation auf dem Weg zum nächsten Ziel. Und er liess mich mit Leib und Seele daran teilhaben. Erst heute, wo es Kinder gibt, die nur noch an ihren -Handys hängen, nicht einmal mehr wissen, wo Milch und Honig herkommen, und in den Supermärkten mit leblosen Augen zwischen den Regalen stehen, weiss ich voll zu -schätzen, was für ein grosses Glück ich mit meinem granddad hatte. Er öffnete mir den Weg zur Natur und gleichzeitig zu mir selbst.

Der Überflieger war für mich die unvergleichliche, leidenschaftliche Schilderung seiner Besteigung des Matterhorns. Er erzählte von den Vorbereitungen und der damals sehr einfachen Bergsteigerausrüstung, vom Aufstieg am Vorabend von Zermatt zur am Fusse des Horu liegenden Hörnlihütte, von der Tagwache um vier Uhr, dem letzten Gebet vor dem Einstieg in die gefahrvolle, tücken-reiche, zu dieser Tageszeit noch im Dunkeln liegende Wand.

Seit der Erstbesteigung 1865 haben knapp 700 Menschen am Matterhorn ihr Leben verloren, was den Berg, in absoluten Zahlen, zum tödlichsten der Welt macht. Ein Gang durch den Zermatter Friedhof lohnt sich. Auch heute sterben durchschnittlich acht Menschen pro Jahr am Klassiker der Schweizer Alpen, weil sie seine Schwierigkeit unter- oder ihr Können überschätzen. Für in Bergnot geratene Alpinisten gibt’s auf 4003 Metern Höhe die Solvayhütte am Hörnligrat. Dann folgt die Steilstrecke zur Spitze.

Die Belohnung ist das einmalige und doch wohl irgendwie banale Gefühl des Auf-dem-Gipfel-Stehens. Es dauert nach dem langen Aufstieg nur kurz – im Bewusstsein, dass der schwierigste Teil erst noch kommt: der Abstieg. Dabei passieren die meisten Unfälle aufgrund von Übermüdung, Unachtsamkeit oder steifen und flatternden Knien. Wer die letzten Gefahren überwunden hat, kommt, so Gott will, nach acht bis zwölf Stunden wieder in Zermatt an. Grossvaters Erzählungen beeindruckten mich unendlich, und ich wollte sie immer wieder hören. Seither habe ich eine besondere Verbindung zum Matterhorn und zu seiner Umgebung.

Das letzte Mal, als es mich zur Hörnlihütte zog, wurden die zweieinhalb Stunden Aufstieg zur Qual, erst recht, weil ich den lieben Selfie-Jägern gerecht werden wollte. Oben angekommen, realisierte ich, dass Arbeiten im Gange waren und hie und da ein Heli mit -Material hoch- und leer wieder runterflog. Ihr könnt euch vorstellen, was da durch meinen Rock-’n’-Roller-Kopf ging, und so kam es auch. Mein Nicht-in-Form-Sein verhalf mir mit Unterstützung des Hüttenwarts Kurt und des legendären Piloten Gerold Biner von Air Zermatt zu einem atemberaubenden Heli-Flug zurück ins Tal.

Nein, ein schlechtes Gewissen hatte ich nicht. Man muss die Gelegenheiten beim Schopf packen und den Spott der harten Wandersocken geniessen. Und grad nochmals nein: Die Idee, es meinem Grossvater eines Tages gleichzutun und in die Wand einzusteigen, die hatte ich auch in meiner Bestform nie. Respekt, wem Respekt gebührt! Aber die Liebe zum Berg der Berge blieb bis heute. Sie inspirierte mich sogar zu einem Albumcover (Gotthard: «Defrosted»).

 

Stille Meister, schweigsame Schüler

Die Geschichten und der Wirbel um dieses Schweizer Wahrzeichen bleiben überwältigend, und ich hätte noch manche Stunde den Worten des leider verstorbenen Pioniers August Julen lauschen können, der mehr als hundert Mal auf dem Zermatter Hausberg stand und als Erster auch Filme darüber drehte. Sein Sohn Heinz Julen, ein Bergkünstler im wahrsten Sinne des Wortes, zieht sein Erbe würdig weiter.

Ja, dort oben, ganz nahe am Himmel, lautet das Mantra: «Unser aller Leben ist wie eine Bergbesteigung.» Manche wählen grössere Berge, andere eher kleinere, die einen schwierigere Routen, die anderen leichtere. Viele fallen, stehen aber wieder auf, andere bleiben liegen. Und noch eines ist klar: Nach jedem Hoch geht’s meist wieder abwärts, und nach jeder Party folgt der Alltag. Man ist gut beraten, dies tapfer anzunehmen. Goethe trifft’s: «Berge sind stille -Meister und machen schweigsame Schüler.»

 

Chris von Rohr, 72, ist Musiker, -Produzent (Krokus, Gotthard, Patent Ochsner, Polo Hofer) und Buchautor.

Schwingen:Weissenstein-Schwinget Männer. SRF. 20. Juli

Es war der Selbstversuch eines blutigen Laien, aber er hat sich gelohnt. Nach rund vier Stunden auf dem Sofa fragt man sich: Warum löst eine Fussball-EM eine solche Begeisterung aus? Schwingen hat mehr von allem. Spannung, Drama, Urgewalt, gelebte Sportlichkeit und vor allem: echte Männer im Kampf. Einer gegen einen.

Als im Schlussgang Patrick Räbmatter schon nach wenigen Sekunden im Sägemehl landet, bleibt er nicht etwa weinend liegen, er rennt auch nicht zu den Schiedsrichtern oder verflucht das Schicksal. Stattdessen dieses Bild: Er steht auf und wuchtet den Sieger Orlik Armon (110 Kilogramm) auf die Schultern, um dem Publikum seinen eigenen Bezwinger in dessen Jubelpose zu präsentieren. Grösse in der Niederlage: Das ist es wohl, was die Erfinder des Sports im Sinn hatten. Hier hat die Idee überlebt.

Während in Fussballstadien Bierbecher aufs Feld fliegen und Sicherheitskräfte mit dem Rücken zum Spiel für Ordnung sorgen müssen, könnte man hier zeitweise eine Stecknadel fallen hören. Selbst ohne viel Ahnung vom Schwingen zu haben, spürt man, wie eine Mischung aus Kraft, Technik, Strategie, mentaler Stärke und Instinkt zur Entscheidung führt. Sekundenbruchteile der Unsicherheit werden gnadenlos ausgenutzt, immer wieder schlägt Finesse die rohe Masse. Dazwischen lässt das Finale im Steinstossen die Olympischen Spiele der Leichtathletik schon jetzt verblassen.

Mann gegen Mann: Der Weissenstein hoch über Solothurn wird zur Arena der Gladiatoren. Das gibt es so nur in der Schweiz.

Enrico Palandri:Lichter auf der Piazza Maggiore. Schöffling & Co. 224 S., Fr. 36.90

Studentenjahre sind umwerfend und rätselhaft. Allem Anschein nach gibt es ein Ziel, aber man steuert es voll ungebärdiger Ziellosigkeit an. Alles Lebendige drängt sich vor, die Flucht vor den Massgaben des Studienplans stellt eine dauerhafte Verlockung dar. Es geht um die freibeuterischen 1970er Jahre im Studentenmilieu. Wer sie erlebt hat, blickt heute wehmütig erstaunt zurück. Damit ist er ein idealer Leser für Enrico Palandris Roman. Denn ein wenig nostalgisch und aus der Zeit gefallen ist sie, die Geschichte von Enrico und Anna inmitten der von Liebesgeplänkel und politischen Parolen erfüllten studentischen Gärung in vielen Universitätsstädten damals.

Hier ist es Bologna, «die Fette», Domäne des Polyhistors Umberto Eco, der auch Palandris Lehrer war. Gemeinhin steht der Name Bologna für eine eher zweifelhafte gesamteuropäische Hochschulreform. Davon sind die angehenden Akademiker hier freilich noch weit entfernt. Es ist vielmehr die Zeit der heftigen Studentenproteste in Italien, ein Jahr vor der Ermordung Aldo Moros im Mai 1978. Das Misstrauen gegenüber der Polizei und eine konspirative Gewaltbereitschaft grassieren. Aber Politik interessiert die meisten der Clique um den eher tollpatschigen, doch umso zungenfertigeren Venezianer Enrico nur am Rande. Obwohl sie ihn im Milieu Grossmaul («Boccalone») nennen, erweist er sich als schüchtern und introvertiert, sobald ihn die Liebessehnsucht erfasst.

Das geschieht, als er auf der Piazza Maggiore, dem Treffpunkt der Freunde, die langbeinige Anna erblickt. Lange wagt er nicht, die «blauäugige Schönheit in Latzhose und roter Jacke» anzusprechen. Im Selbstgespräch versichert er sich: «Enrico, Lachen und Lieben, mehr Mut zur Latzhose, ich werde mit ihr reden.» Immerhin entspinnt sich zwischen den beiden dann doch eine aus heutiger Sicht rührend zeitentrückte Liebesgeschichte, mit allen Aufschwüngen und Abstürzen. Wobei die Abstürze nahezu ausschliesslich von Enricos männlicher Unsicherheit herrühren, von Argwohn und verborgener Eifersucht. Die junge Frau bleibt -hingegen bewundernswert cool.

Das Glück ist den beiden einen Sommer lang hold. Sie bleiben ausgelassen, fahren mit wenig Geld nach Avignon und weiter nach Spanien, wo sichtbar noch Francos Herrschaft weiterlebt. Zurück in Bologna, geht das leichte Leben weiter. «Die Zeit vergeht unter Gelächter.» Keine Kollegien werden erwähnt, auch keine Vorlesungen besucht. Enrico sollte sich auf eine Prüfung vorbereiten, aber das kümmert ihn wenig. Alles dreht sich um Anna.

 

Erinnerung an Zeiten des Aufbruchs

Doch die Liebe vermag Enrico nicht das erwünschte Gleichgewicht im Alltagsleben zu verschaffen. Die Kommilitonen auf der -Piazza Maggiore frönen dem Ideal des Kollektivs, er indes betreibt Selbsterforschung im verpönten Subjektivismus: Er beginnt zu schreiben (das Buch, das wir lesen). Und das bedeutet Absonderung. Im Fall des Studenten Enrico heisst es: Unsicherheit und Resignation. Der Vielredner muss erkennen: «Die eigentliche Krux am alleine Schreiben liegt darin, dass man auf eine Stimme beschränkt ist.» Enrico, offenkundig ein Selbstporträt des jungen Autors, ist nach Massstäben von heute ein Spätentwickler.

Das Eigentümliche an Enrico Palandris Roman ist, dass er bereits 1977 geschrieben und damals in Italien ein grosser Erfolg wurde. Nun, nach 45 Jahren, wird er erstmals der deutschsprachigen Leserschaft vorgestellt. Der Übersetzerin Esther Hansen gelingt es, sich die Studentensprache von damals einigermassen anzuverwandeln. Manches wirkt freilich etwas zu forciert schnoddrig und dem Heute angepasst («keinen Bock haben»). Der Roman entführt in eine Erinnerung an Zeiten des Aufbruchs und einer kaum begreiflichen Freiheit, die noch ohne Normierungs- und Regulierungszwänge auskamen. Eine leichte Sommerlektüre. Amüsant.

Frühling 1992. Seit sechs Jahren reise ich zweimal pro Jahr nach Ouidah, der Wiege des Voodoo-Kultes. Mein Dokumentarfilm nimmt langsam Gestalt an.

Ich fliege an die Elfenbeinküste, um auf dem Landweg über Togo nach Benin zu kommen. Populär und am billigsten sind die Peugeots 505, Sammeltaxis. Zwölf schweisstriefende Leiber zwängen sich in das rostige Gefährt. Zwei Schweine haben neben den Körben Platz auf dem Dach gefunden, fünf Hühner und eine grosse Wasserschale mit vier lebendigen Fischen verteilen sich -zwischen, über und unter den Passagieren.

Ich bin der einzige Weisse, eingeklemmt zwischen einer schwitzenden grossbusigen Beninerin und einer grossgewachsenen Mama aus Ghana. Sie sprechen Französisch. Beide stammen von den gefürchteten Amazonen ab, die auf ihren Pferden ohne Sattel reitend den Männern im Kampf die Köpfe abschlugen und sie als Trophäen zu Hause aufreihten. Die Stimmung ist -aufgekratzt.

«Hei Jowo», rufen sie mir zu. Alles lacht. Knatternd und pfeifend dringt Musik aus dem Autoradio. Der Fahrer fährt, als sei der Teufel hinter ihm her.

Es ist heiss, staubig und stickig. Zu viele überladene Lastwagen haben die Strasse so ruiniert, dass sie nicht mehr befahrbar ist. Wir fahren auf der Sandpiste daneben. Zu meiner Rechten ist das Meer, Goldküste nennen sie den Abschnitt. Das Gold waren die schwarzen Sklaven, die von hier in die USA verschleppt wurden. Am Strassenrand verkaufen Kinder tote Agutis, Buschratten – ein Leckerbissen –, die mitsamt den Knochen verspeist werden.

An der Grenze wartet eine Kolonne Buntbekleideter in der brütend heissen Mittagssonne. Es gibt nur einen Zollbeamten. Ich beobachte, wie vor mir eine Frau eine Ratte mit ihren zusammengefalteten Papieren abgibt. Der Zollbeamte schaut nur auf das tote Tier und winkt sie durch. Sie steckt sich die -Papiere wieder in ihren BH.

Am Marktstand kaufe ich eine Portion frittierten Yams und ein Stück Fleisch und lege es in meinen Schweizer Pass. Der Zollbeamte zögert kurz. Ich habe kein Visum und keinen Einladungsbrief. Er riecht am Fleisch und winkt mich durch.

«Bienvenu!» Er lächelt mich an. «C’est gratuit!»

Autos mit Benzin und Diesel sind schlecht. Donald Trump und Wladimir Putin sind böse. Biologische Geschlechter gibt es nicht. Solche Botschaften sind in Klassenzimmern weit verbreitet. An der Tafel stehen mehrheitlich links-grüne Missionare. Komplexe Probleme werden auf einfache Botschaften heruntergebrochen. Es gilt, was der woke Zeitgeist gerade vermittelt. Schüler, die kritische Fragen stellen, werden zu Aussenseitern.

Das ist ein Problem. Aber das ist es nicht, was Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Lehrerverbands, meint, wenn sie im Interview mit der Sonntagszeitung findet, die Schule müsse «das weltpolitische Geschehen einordnen», und zwar «wertfrei und neutral». Im Gegenteil. Sie kritisiert, Lehrer stiessen auf Widerstand, wenn sie «heikle Fragen» diskutieren. Was sie nicht sagt: Der Widerstand entsteht, weil die angeblich neutrale Information meist einseitig erfolgt.

Zweifel am menschengemachten Klimawandel? Hat keinen Platz in der Schweiz. Eine kontroverse Auseinandersetzung mit der Corona-Politik? Bestimmt nicht – und setz die Maske auf! Eine einseitige Sicht auf die Welt, keine kritischen Fragen zur Staatsgewalt, politische Schlagseite im Lehrerzimmer: Das sind die Baustellen, um die sich die oberste Lehrerin kümmern sollte.

Stattdessen fordert sie mehr davon. Man müsse «fächerübergreifend ausreichend Zeit und Ressourcen einplanen» für politische Bildung, am besten «sogar im Kindergarten». Wenn die Schule eine Aufgabe hat, dann diese: junge Menschen zu befähigen, sich kritisch mit anderen Positionen auseinanderzusetzen und nicht einfach medial vermittelte «Wahrheiten» zu übernehmen. Statt «politischer Bildung» müssten «eigenständiges Denken» und «Zivilcourage» in den Lehrplan. 

Schummriges Licht. Teurer Wein. Ein gutes Steak. Locker fünf Stunden im «-Borchardt». Er hatte ein Date mit mir gewollt, und ich hatte ihm dieses Date gewährt. Ein gutes Date. Wir hatten uns über Stunden viel zu sagen. Sein Charme war für deutsche Verhältnisse sogar existent. Wir lachten, -hörten -einander zu und begeisterten uns für das -Denken des anderen. Doch dann kam die Rechnung. Die wollte er teilen. Trotz der Einladung.

Nun gibt es Männer wie Frauen, für die bedeutet Feminismus, dass jeder aus seiner Tasche zahlt, keine Türen aufgehalten, keine Jacken abgenommen und keine Stühle an den Tisch geschoben werden. Es bedeutet, dass Komplimente plötzlich als Affront und Flirt als Übergriff interpretiert wird. Es bedeutet die Auflösung der Existenz der Geschlechter. Es bedeutet aber auch fehlende Sinnlichkeit. Auf beiden Seiten. Denn Sinnlichkeit ist das Zulassen einer körperlichen Erfahrung. Auch der der eigenen Geschlechtlichkeit. Aber sie ist auch die Ablehnung jeglicher Form von Askese.

 

Flirt und Charme

Man mag nun finden, ich sei hier wie ein -Teenager bei Nietzsche hängengeblieben, aber genauso wie er empfinde ich die Askese als Verneinung des Lebens. In den letzten Jahren -können wir eine Art Renaissance dieser Verneinung erleben. Das Ausleben natürlicher Triebe wird verteufelt. Das Spiel zwischen zwei Menschen als Machtdynamik interpretiert. Angeblich stünde es der Emanzipation beider Geschlechter im Weg. Das Spiel, das aus Flirt und Charme besteht und einem fast animalischen Ritual unterliegt, ist unter Generalverdacht gelangt. Der Mensch, insbesondere aber der Mann, habe sich zusammenzureissen. Seine Triebhaftigkeit in den Griff zu bekommen. Das sinnliche Erfahren archaischer Bedürfnisse muss mit aller Macht verhindert werden. Natürlich mit dem Versprechen, nur so könne die Welt zum -Besseren verändert werden.

Friedrich Nietzsche betrachtete die Sinnlichkeit allerdings als essenziell. Ohne sie könne es kein erfülltes und vor allem starkes Leben geben. Im Zuge dieser Analyse kritisierte er selbstverständlich das Christentum und andere aske-tische Religionen dafür, dass sie das Leben und die Sinnlichkeit verdammen und somit die menschliche Vitalität und Kreativität unterdrücken. Dabei braucht es gar keine Religion mehr, um eine asketische Ideologie zu proklamieren. Der protestantische Verzicht funktioniert heute auch ohne den Protestantismus. Allerlei pseudoreligiöse Bewegungen, die behaupten, die grossen Lösungen für das menschliche Dilemma abliefern zu -können, schlagen in dieselbe Kerbe.

Am Ende steht natürlich überall – wie auch beim Christentum – die Erlösung. Für diese fordern die pseudoreligiösen Bewegungen die radikale Selbstkontrolle. Mensch-Maschine. Es pocht zwar noch ein Herz hinter der Brust, aber im besten Fall sieht man davon nichts. Der Kontakt zur Aussenwelt wird dadurch unterbrochen, weil zum Kontakt eben der sinnliche Austausch gehört. Das Anblicken, aber auch das Angeblickt-Werden. Vor allem aber der Austausch mit sich selbst und seinen Bedürfnissen. Um diese unter Kontrolle zu bekommen, muss ihre Existenz aber negiert werden. Anders geht es gar nicht. Denn der Mensch ist eben nicht nur Gehirn, sondern auch Körper.

 

Mannes Leibeserfahrung

Anders als noch in den siebziger Jahren, als zumindest die feministische Revolution die sinnliche Erfahrung nicht verteufelte, sondern Frauen die Freiheit gestattete, diese auch selbst auszuleben und dafür nicht verurteilt zu werden, unterliegt nun alles einem strengen Regiment. Der angeblich patriarchale Blick, der die Frau unterjochte, ist nun der feministische Blick, der dem Mann seine Leibeserfahrung entziehen will, um die Frau zu befreien. Dabei waren wir doch schon weiter. Freiheit entsteht nicht, indem ich den anderen in seinem Handeln beschränke, sondern selbst den Mut habe, mich aus Begrenzungen zu befreien.

Das Verrückte: Gerade Frauen, die weit weg von einem emanzipierten Leben sind, heben ihren autoritären Zeigefinger. Schaut man sich die Statistiken in Deutschland an, kann nicht von der Emanzipation der Frau gesprochen werden. Denn 30 Prozent arbeiten gar nicht und 40 Prozent in Teilzeit. Das heisst, 70 Prozent der -deutschen Frauen sind finanziell nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt ohne Unterstützung zu bestreiten. Das liegt an keinen Gesetzen. Die Erlaubnis, die sich Frauen in der Bundesrepublik noch bis 1975 vom Ehemann besorgen mussten, um einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen, gibt es nicht mehr. Das heisst, hier wird tagein, tagaus freiheitlich für Abhängigkeit entschieden und gleichzeitig eingefordert, dass alle anderen dringend mit weniger Freiheit auskommen sollten. Mit weniger Leibesfreiheit.

Vielleicht lässt sich dort auch der Ursprung finden, wieso in den aktuellen feministischen Bewegungen Autorität grossgeschrieben wird, aber der Liberalismus verpönt scheint. Wer brav aufgepasst hat, weiss natürlich, dass ich hier insbesondere von der MeToo-Debatte spreche, die selbst den Flirt zum Übergriff umdefinierte. Unabhängig davon, dass die Bewegung auch notwendige Veränderungen einleitete. Viele Konsequenzen sind fatal und vereiteln einen gleichberechtigten Umgang.

Denn für mich bedeutet geschlechtsbezogene Augenhöhe nicht, dass mein männlicher Kollege nicht mehr mit mir in einen Aufzug steigen will, aus Sorge, ich würde ein Räuspern als -sexuelle Anspielung umdeuten. Für mich bedeutet Gleichberechtigung, dass mein männlicher Kollege mit mir in einen Aufzug steigt und ich ihn – sollte es zu einer übergriffigen Bemerkung kommen – selbst in die Schranken weise, ohne die Personalabteilung einschalten zu müssen. Nämlich weil ich selbst in gesundem Kontakt mit meiner Sinnlichkeit stehe und ihm deshalb seine Sinnlichkeit nicht verbieten muss. Ich bin aber sehr wohl in der Lage, die Grenzen der sinnlichen Erfahrung, die ich erleben -möchte, bewusst und eindeutig abzustecken und zu kommunizieren.

Diese Sichtweise mag möglicherweise in Zusammenhang damit stehen, dass ich im Gegensatz zu 70 Prozent der Frauen in Deutschland finanziell unabhängig bin. Ich habe eine erfolgreiche Karriere sowie ein Sozial- und Familienleben. Denn ich bin Frau, Mutter, Freundin und Geliebte. Ich bin das, was man gemeinhin eine emanzipierte Frau nennen würde. Ich kann bohren und backen, hämmern und im Haushalt werkeln. Ich besitze ein Auto, das ich mir selbst gekauft habe, und ich kann mir im «Borchardt» ein Steak und auch eine teure Flasche Wein leisten. Ich kann mir sogar leisten, den gesamten Tisch einzuladen. Daran hapert es also nicht. Und dennoch erwarte ich, zu einem Abendessen abgeholt, eingeladen und ohne jegliche Ansprüche nach Hause gebracht zu werden. Nämlich weil all das sinnliche Erfahrungen zwischen Mann und Frau sind, die nicht eliminiert werden sollten.

Wenn man als Mann nicht muss, weil eine Frau schon alles allein kann, dann ist dieses Verhalten, von dem ich spreche und das man im Englischen oft als chivalry bezeichnet, mit absoluter Freiheitlichkeit aufgeladen. Es ist Geste, nicht Muss. Es ist Geschenk, nicht Erwartungshaltung. Es ist Sinnlichkeit, nicht Askese. Denn die Augenhöhe, die entsteht, wenn echte Gleichberechtigung erreicht ist, schafft überhaupt erst die Basis für das Spiel. Machtdynamiken sind kein Spiel. Und sie entstehen, wenn ökonomische Abhängigkeit die Begegnung dominiert.

Vor einigen Jahren veröffentlichte deshalb die amerikanische Wissenschaftlerin Kristen R. Ghodsee einen Essay mit dem Titel «Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben». Nun will ich an dieser Stelle ganz klar sagen, dass ich als ehemalige DDR-Bürgerin wirklich die Letzte bin, die ostalgisch dieser Diktatur nachweint. Aber eines beweisen die Statistiken, die Ghodsee auswertete, nämlich dass Männer und Frauen sinnlicher leben können, wenn sie ökonomisch unabhängig sind.

Die sexuelle Zufriedenheit der befragten -Männer und Frauen war in der DDR weitaus grösser als in der Bundesrepublik. Ghodsee argumentiert, dass zwischen Gleichberechtigung und sexueller Zufriedenheit eine Korrelation bestehe. Denn in der DDR waren 1989 91 Prozent der Frauen berufstätig, während in Westdeutschland zur selben Zeit nur 51 Prozent einer bezahlten Beschäftigung nachgingen. Die dadurch resultierende finanzielle Abhängigkeit von Frauen führt zu einer existenziellen Abhängigkeit, die nur noch auf sexueller Ebene durch Entzug und Enthaltung aufzubrechen ist. Wenn nichts mehr geht, dann geht immer noch das Nichts.

Das heisst, wenn ich aufgrund meiner sozialen Bedingungen keinerlei Handlungsspielraum für Aktivität habe, dann bleibt mir als einziges Instrument der Macht nur noch die Passivität. Das Erstarren als Waffe quasi. Die -Askese als letztes Mittel der Kontrolle über mich, aber vor allem über den anderen. Das ist das grosse Problem. Die bittere Konsequenz -dieses einseitigen Emanzipationswunsches ist der Tod der -Sinnlichkeit.

 

«Ich lebe wie ein Mönch»

Das Licht im «Borchardt» war immer noch schummrig. Die Flasche Wein leer. Die Teller abgeräumt. Zwischen uns lag die Rechnung, die er unbedingt mit mir teilen wollte. Ich verweigerte. Dann erklärte er sich, ich würde mehr verdienen als er. Sein Wunsch sei deshalb angebracht und könne sogar gerechtfertigt werden. Aber ich antwortete ihm, dass es hier nicht darum gehe, wer wie viel verdiene. Es gehe um ein Ritual zwischen den Geschlechtern, das Zweck und Bedeutung hat. Wie die meisten Rituale. Und dass dieses -Ritual unbedingt aufrechterhalten werden müsse, weil es die sinnliche Erfahrung -zwischen uns beiden fördere.

Gerade weil ich mein Essen selbst bezahlen kann, diene es als Geschenk, als Geste, als -chivalry eben. Unwirsch reichte er dem Kellner seine Kreditkarte. Meine Jacke musste ich selbstverständlich selbst anziehen. Die Tür für uns -öffnen. Mein Taxi selbst bestellen. Als ich zum Abschied fragte, ob er noch auf einen Kaffee mitkommen wolle, antwortete er: «Ich lebe schon seit -Monaten wie ein Mönch.» Offensichtlich, dachte ich und nickte wissend.

 

Mirna Funk ist eine deutsche Schriftstellerin. Zuletzt erschienen: «Von Juden lernen» (DTV, 2024).

J. D. Vance: Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. Ullstein TB. 304 S., Fr. 18.90

J. D. Vance ist der running mate von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl im November. Einer, der den amerikanischen Traum verkörpert, wie man in seinem Buch «Hillbilly-Elegie» lesen kann, ein Bestseller aus dem Jahr 2016. Der Yale-Absolvent und Start-up-Gründer stammt aus jener Region in den USA, die man «fly-over country» nennt und wo Hillary Clintons «Bedauernswerte» zu Hause sind, die man, wie sie fand, einfach vergessen sollte. Er kommt aus dem «rust belt», aus einer Stadt in Ohio, als einer der Millionen weissen Amerikaner mit schottischen oder irischen Wurzeln. Amerikaner nennen sie «hillbillies», «rednecks» oder «white trash». «Ich nenne sie Nachbarn, Freunde und Familie.» Im Grunde seines Herzens sei er immer noch ein schottisch-irischer Hillbilly.

 

Studie eines fremden Stamms

Das Buch, das Vance im Alter von dreissig Jahren schrieb, ist kein Roman und auch kein Sachbuch, man nennt derlei wohl «Memoire», und es ist harte Kost. Das Personal: Drogenabhängige wie seine Mutter, hoffnungslos Verarmte, seelisch Ver- und Gestörte und physisch oder emotional missbrauchte Kinder. Alles Menschen, die er dennoch liebe. Kaum zu glauben, eigentlich. Und doch ist Zuneigung der bestimmende Ton. Die Elegie ist keine Opferlitanei, es gibt keine Schuldzuweisung an «die Gesellschaft» oder verständnisheischendes Pathos, das Buch ist die Geschichte einer Selbstermächtigung – und zugleich Anstiftung dazu.

«White trash»? – «Ich nenne sie Nachbarn, Freunde und Familie», schreibt Vance.

Der Vater verliess Mutter und Sohn schon früh, die Mutter hatte eine Beziehung nach der anderen, alle scheiterten. Meistens im lauten Streit, das Geräusch von klirrendem Glas und umgestürzten Möbeln liess und seine Schwester im Bett zittern und weinen. Keiner ihrer Männer taugte als Vaterfigur für den Jungen. Rettung boten lediglich die Grosseltern, Mamaw, die das Hab und Gut der Familie bis zum Mord verteidigen würde, und Papaw, zeitweise alkoholabhängig, der mit dem Jungen Mathematikaufgaben übte.

Vance wuchs in Middletown auf, einem Ort mit einst florierender Industrie, wo man die Hillbillys nicht gerade begrüsste: Sie waren zwar weiss, aber irgendwie anders. Sie brachten eine uralte Familienstruktur mit sich, die nicht funktionierte in einer Welt der Privatheit und Kleinfamilien. Aber die Familie, die die Grosseltern dem Jungen boten, half ihm auf dem Weg zur Selbständigkeit. Ohne solche Stützen müssen viele Kinder auskommen, und manche gehen dabei unter.

Das alles liest sich wie eine faszinierende Studie eines fremden Stamms, und so wurde das Buch wohl zuerst auch aufgenommen: Endlich erklärt uns einmal einer, warum Donald Trump bei diesen Leuten so beliebt ist. Doch das war nicht die Absicht des Autors – es hat sich ja herumgesprochen, dass Vance Trump lange für das Opium des Volks hielt. Aber es beschreibt eine Seite Amerikas abseits all der Orte, die man zu kennen glaubt, weil sie in Fernsehserien eine Rolle spielen. Und es beschreibt eine Bevölkerung von «Somewheres», wie David Goodhart schrieb, also von Menschen, die die Füsse nicht aus der Heimaterde ziehen können, über die sich die «Anywheres» erheben, die überall leben können, auch über den Wolken. Tatsächlich muss man einen Ort wie Middletown verlassen, wenn man dort nicht im Morast der Aussichtslosigkeit verkommen will.

Vance, nicht mit den besten Schulnoten gesegnet, beschliesst, sich bei den Marines zu bewerben. Vielleicht versteht man ihn am besten, wenn man liest, was er dort begriffen hat, bei unerbittlichem Drill: Du kannst weit mehr, als du dir zugetraut hast. Bis dahin verwechselte er mangelnde Anstrengung mit Unfähigkeit, hatte das Gefühl, keine Kontrolle über sein Leben zu haben, hilflos zu sein, «learned helplessness». Die Marines vermittelten «learned willfulness»: das zu tun, was man will. Das ist eine Botschaft, die man auch ausserhalb eines soldatischen Drills verstehen kann: Lass dich nicht herunterziehen von den Umständen, und mögen sie auch noch so beschissen sein. Und warte nicht darauf, dass der Staat dir hilft. Das hilft nie.

 

Selbstanalyse

Es ist zum Lachen und zum Weinen, wenn Vance beschreibt, wie er nach dem bestandenen Studium in Yale an einem grossen Dinner teilnimmt und, beim Besuch der Toilette, seine indischstämmige Frau Usha per Telefon fragen muss, wofür denn das ganze Besteck gedacht ist, das neben seinem Teller liegt. Bei allen Erfolgen bleibt er ein Fremder in einer fremden Welt. Es dürfte hilfreich sein, solche Gefühle zu verstehen – Donald Trump könnten sie fremd sein.

Das Buch endet mit einer Art Selbstanalyse: Der Hillbilly steckt tief drin in dem womöglich nächsten Vizepräsidenten, der sich in Konfliktsituationen entweder wie eine Schildkröte in seinen Panzer zurückzieht oder explodiert – mit massiven Kollateralschäden als Folge. Nun, seit er das Buch schrieb, ist er womöglich älter und weiser geworden. Und «authentisch» geblieben? Ach, das ganze Leben ist Schauspielerei. Aber in diesem Buch liegt ein warmer Kern wie ein pochendes Herz.

Karsten Brensing: Die Magie der Gemeinschaft. Berlin. 320 S., Fr. 33.90

Verständlich, dass der Homo sapiens auf dieser Welt seinen Platz haben will. Dass er sich dabei zu der Überzeugung aufgeschwungen hat, er sei die «Krone der Schöpfung», ist natürlich masslos übertrieben. Aber auch das ist charakteristisch für den Menschen, er neigt zur Übertreibung. Und ausserdem dazu, sich schnell gekränkt zu fühlen. Dass etwa computergesteuerte Systeme den Menschen überflüssig machen könnten, nagt an seinem narzisstischen Selbstverständnis.

Der Verhaltensforscher Karsten Brensing sorgt sich hingegen weniger darum, dass die künstliche Intelligenz (KI) uns überflügeln könnte, sondern dass sie womöglich viel zu dumm ist, um uns bei dem nächsten evolutionären Schritt helfen zu können. Zugleich liebäugelt er mit der Idee, die Rettung der Menschheit an die KI zu übertragen. Das passt einerseits nicht zusammen, und andererseits scheinen wir keine andere Wahl zu haben, als mit der KI, da sie nun mal da ist, zu einer Kooperation zu finden und ihr irgendwann mehr zu vertrauen als uns selbst – dafür jedenfalls plädiert Brensing in seinem Buch.

Zurück zu den tierischen Wurzeln

Bekanntlich steht es schlecht um unser Vertrauen in die KI. Es ist zwar viel Faszination mit im Spiel, aber auch viel Angst vor der Terrorherrschaft einer durchgedrehten künstlichen Intelligenz, höchstwahrscheinlich ausgelöst durch übermässigen Science-Fiction-Konsum. Was aber, wenn die Angst überhaupt nicht berechtigt ist? Behindern wir nicht die KI und damit auch uns selbst, wenn wir diese Schreckensszenarien aufrechterhalten?

Für Brensing ist die Sache klar: Einzig die Kooperation bringt uns weiter. Also das Prinzip, das sich seit Milliarden von Jahren bewährt und zu einer Verbesserung, zu einem Fortschritt geführt hat: «Vom einfachen Einzeller bis hin zur menschlichen Gesellschaft, immer wenn zwei sich zusammengetan haben, war es von Vorteil.» Mehr noch, Leben wäre sonst gar nicht erst entstanden.

Brensing ist auch Meeresbiologe; zehn Jahre lang war er wissenschaftlicher Leiter des Deutschlandbüros der internationalen Wal- und Delfinschutzorganisation WDC. In seinen bisherigen Veröffentlichungen standen Tiere im Mittelpunkt. «Das Mysterium der Tiere» wurde ein Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt, das Kinderbuch «Wie Tiere denken und fühlen» wurde 2019 Wissensbuch des Jahres. Auch in «Die Magie der Gemeinschaft» sind die Tiere wesentlicher Bestandteil. Und zwar insofern, als Brensing darlegt, dass der Mensch mit dem Tier viel mehr gemein hat, als er wahrhaben will, handelt er doch im Alltag oft unbewusst und irrational. Im ersten Teil des Buches geht es daher zu den tierischen Wurzeln des Menschen. Fazit: Erst wenn wir diese akzeptieren und aufhören, uns abgrenzen zu wollen, sind wir auch reif genug für die Kooperation mit künstlicher Intelligenz.

Es geht also immer wieder darum, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und nicht nach dem, was uns unterscheidet und trennt. Das Versöhnliche zieht sich durch das ganze Buch: Natur mit Technik, Mensch mit Tier, Steinzeitgehirn mit Cyborg – immer geht es darum, zu erkennen, wie es miteinander geht und nicht gegeneinander. Nur folgerichtig widmet sich Brensing im zweiten Teil dem Sozialleben des Menschen, untersucht all seine Verbindungen und Allianzen und die Taktiken, die er anwendet, um durch den Alltag zu navigieren. Schliesslich resümiert er: «Komplexität ist unser Hauptproblem.» Hat sich doch das Steinzeitgehirn in mehr als 100 000 Jahren nicht massgeblich verändert – unsere Lebensanforderungen durch die Digitalisierung hingegen schon.

Zugleich liebäugelt er mit der Idee, die Rettung der Menschheit an die KI zu übertragen.Mit «Mein Freund, die KI» ist im dritten Teil ganz klar beschrieben, wohin es gehen muss, wenn wir zukunftsfähig werden wollen. Die Begeisterung des Autors ist ansteckend, die persönlichen Anekdoten, die er mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verwebt, macht die Lektüre abwechslungsreich, teilweise allerdings auch sprunghaft. Doch tut das Buch letztlich auch deshalb gut, weil es in diesen kriegerischen Zeiten dringend den Ausblick auf ein versöhnliches Miteinander braucht.

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