Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat edle Pflichten. Es soll, unter anderem, Zivilisten schützen, die als Geiseln genommen wurden – und dazu gehören auch jene, die seit 500 Tagen von der Hamas in Gaza festgehalten werden. Das IKRK besucht Geiseln und sorgt für die Versorgung mit Medikamenten. Es hat auch sicherzustellen, dass Geiseln nicht misshandelt, missbraucht oder als menschliche Schutzschilde benutzt werden.

Dabei ist es auf die Kooperation aller Konfliktparteien angewiesen. Doch die Hamas wollte davon nichts wissen. «Seit dem 7. Oktober 2023 war uns ein Besuch dieser Gefangenen nicht mehr möglich», sagte IKRK-Sprecher Christian Cardon unlängst.

Um seine Neutralität zu wahren, verzichtete das IKRK auf lautstarke Proteste gegen die Weigerung der Hamas. «Die im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln haben ein Recht auf Besuch, und wir müssen in der Lage sein, Nachrichten zwischen ihnen und ihren Familien auszutauschen», erklärte zum Beispiel IKRK-Sprecher Christoph Hanger in einem Fernsehinterview Mitte Dezember 2023, drei Monate nachdem die Hamas 251 Menschen in den Gazastreifen entführt hatte und dort unter unmenschlichen Bedingungen gefangen hielt.

Kurz: Das IKRK hat seine humanitären Aufgaben gegenüber den Geiseln im Gazastreifen nicht erfüllt. Es hat sie im Stich gelassen. Es hat weder den Zugang zu medizinischer Versorgung sichergestellt – insbesondere für verletzte oder kranke Geiseln – noch dafür gesorgt, dass sie Nahrungsmittel, Wasser oder andere lebenswichtige Güter erhalten. Der ausgemergelte Zustand von bisher freigelassenen Geiseln belegt, dass das IKRK ihnen keinerlei Hilfe zukommen liess.

Mehr als das: Es spielte bei der Geiselübergabe aktiv mit, einer von der Hamas perfid inszenierten Show, bei der die Geiseln auf übelste Weise zur Schau gestellt wurden.

Dabei ist laut Genfer Konventionen die «erniedrigende und entwürdigende Behandlung» von Gefangenen und Geiseln, wie sie die Hamas durch diese Vorführungen praktiziert, ein Kriegsverbrechen.

Die Konventionen stellen unmissverständlich klar: «Die Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung» von Personen, die nicht an Feindseligkeiten teilnehmen – einschliesslich Geiseln und Gefangenen – ist verboten.

Warum setzt sich das IKRK darüber hinweg und beteiligt sich an dieser Inszenierung?

«Normalerweise bestehen wir darauf, dass solche Operationen in grösster Diskretion erfolgen, um die Geiseln und ihre Familien zu schützen. Die Szene, die sich am vergangenen Samstag ereignete, war besonders inakzeptabel», meint Mediensprecher Cardon und behauptet: Es gibt «keine Alternative» zum IKRK.

Die Behauptung der Alternativlosigkeit überzeugt allerdings nicht.

Als der israelische Soldat Gilad Shalit nach mehrjähriger Gefangenschaft in den Klauen der Hamas im Oktober 2011 Hamas freikam, spielte das IKRK weder bei der Ermittlung noch bei der Übergabe eine Rolle. Die Aufgabe beschränkte sich auf die logistische Begleitung der rund tausend palästinensischen Gefangenen, die im Austausch für den einen Soldaten freigelassen wurden – darunter auch Yahya  Sinwar, der Hamas-Chef, der die Invasion Israels vorbereitet hatte. Shalit wurde in ägyptisches Hoheitsgebiet gebracht, bevor er in Israel ankam – ganz ohne Hilfe des IKRK.