Dieser Text erschien zuerst am 26. Mai 2024 auf der Website des österreichischen Bundesheers. Wir dokumentieren die Ausführungen des renommierten Militärexperten, Oberst Markus Reisner, im Wortlaut.

Ein mutmasslicher ukrainischer Drohnenangriff gegen eine Radaranlage des russischen Atom-Frühwarnsystems, das anfliegende interkontinentale Atomraketen erkennen soll, hat angeblich schweren Schaden angerichtet. Das birgt laut Militär-Experte Oberst Markus Reisner hochbrisanten Zündstoff für eine neuerliche, gefährliche Eskalation. Oberst Reisner beantwortet die drei Schlüsselfragen:

1. Warum ist der mutmassliche ukrainische Drohnen-Angriff auf die russische Radarstation Armawir im Südwesten der Region Krasnodar überaus bemerkenswert?

Auf den vorgestern aufgetauchten Bildern ist zu erkennen, dass zumindest eines der beiden in Armawir stationierten russischen Voronezh-DM-Frühwarn-Radarsysteme bei einem gezielten Angriff schwer beschädigt wurde. Russland verfügt derzeit über bis zu zehn derartige Frühwarn-Radarsysteme. Sie sind über ganz Russland verteilt, auf Standorten in Murmansk, bei St. Petersburg, in Kaliningrad, in Barnaul, in Omsk, bei Irkutsk, bei Workuta, in Krasnogorsk und im genannten Armawir. Letztere aus zwei Radaren bestehende Anlage wurde gebaut, um ähnliche, ursprünglich in der Westukraine und auf der Krim installierte sowjetische Systeme zu kompensieren.

Bei diesen Voronezh-DM-Radaren handelt es sich um «Over the Horizon»- (OTH)- und «Ultra High Frequency»-(UHF-)Radare, welche Teil des russischen Frühwarnradarsystems zur Erkennung ballistischer Raketen sind. Die Radare haben eine Reichweite von horizontal 6.000 und vertikal 8.000 Kilometern. Ihr Ziel ist es, vor allem anfliegende amerikanische Atomraketen früh erkennen zu können, um rasch eigene Massnahmen, darunter im äussersten Fall einen russischen nuklearen Gegenschlag, einleiten zu können. Denkbar ist auch die Weitergabe von Frühwarndaten an Verbündete, wie z.B. den Iran, Nordkorea oder China.

2. Welchen Nutzen hätte die Ukraine von solch einem Angriff auf russische Frühwarn-Radarsysteme?

Die Ukraine verfügt nur mehr über Raketenwaffen mit begrenzter Reichweite. Eigene Systeme wie Tochka-U sind verbraucht, und an vom Westen gelieferten Systemen sticht das von den USA stammende «Army Tactical Missile System» (Atacms) heraus. Dieses hat eine Reichweite von 300 Kilometern bei einer Flugbahn-Höhe von bis zu 60 Kilometern. Man könnte nun mutmassen, dass die ukrainischen Streitkräfte Armawir ins Visier genommen haben könnten, weil sie befürchteten, dass der Standort dazu beitragen könnte, eine Vorwarnung für ihre Angriffe mit von den USA gelieferten ballistischen Atacms zu geben. Armawir befindet sich jedoch knapp 700 Kilometer von möglichen Atacms-Abschussräumen bei Cherson entfernt. Das heisst, aufgrund des Voronezh-DM-Radarhorizonts ist es bei dieser Reichweite schwierig, mit niedriger Scheitelbahnhöhe fliegende Atacms-Raketen zu detektieren. Die anvisierte einfliegende Rakete sollte sich zur exakten Messung zumindest in einer Höhe von über 1.000 Kilometern befinden. Interkontinentalraketen fliegen in der Regel in Höhen von bis zu 2.000 Kilometern – also im optimalen Detektionsbereich des Voronezh-DM-Radars. Für taktische Kurzstrecken-Raketen, wie Atacms, sind andere Radarsysteme vorgesehen.

3. Gibt es noch ein anderes Erklärungsmodell für einen Angriff, und warum ist dieses bedeutungsvoll?

Die beiden russischen Voronezh-DMs in der Anlage bei Armawir sind ein integraler Bestandteil des strategischen Frühwarnerkennungs-Systems Russlands, und ihr Ausfall könnte die Fähigkeit des Landes, ankommende nukleare Bedrohungen zu erkennen, beeinträchtigen. Im Moment befinden sich die russischen Streitkräfte in der Ukraine in der Initiative. Dies wird zudem hinterlegt bzw. abgesichert mit fortlaufenden russischen Drohungen betreffend eines Einsatzes von Mitteln des eigenen Nuklearpotenzials.

Im Herbst 2022, kurz vor dem überraschenden Abzug der vor dem Einschluss stehenden russischen Truppen aus dem Brückenkopf bei Cherson, berichteten die US-Geheimdienste von möglichen Vorbereitungen eines russischen taktischen Nuklear-Einsatzes. Nicht zuletzt derartige Ereignisse erklären das überlegte, aber nicht überschiessende Vorgehen der USA (Strategie «Boiling the Frog») gegenüber Russland. Es ist daher durchaus schlüssig, dass die USA mit dem durch die Ukraine ausgeführten Angriff auf die Voronezh-DMs in Armawir Russland zeigen möchte, dass man die unerträgliche Situation der russischen Drohungen mit Atomwaffen nicht länger akzeptieren möchte.

Ist dies tatsächlich der Fall, lassen sich zwei weitere Feststellungen treffen: Erstens ist die Lage in der Ukraine überaus ernst, und zweitens ist der Krieg um die Ukraine neuerlich eskaliert. Es bleibt nun abzuwarten, wie oder ob Russland auf diesen Angriff auf seine nukleare Abschreckungskapazität reagiert. Das russische Frühwarnerkennungs-System ist Teil der nuklearen Abschreckungs-Strategie des Landes. Der Angriff auf Armavir könnte die Bedingungen erfüllen, die Russland im Jahr 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten. Hinzu kommt der Umstand, dass eine mögliche Zusammenarbeit Russlands mit seinen engen Verbündeten im Raum eingeschränkt wurde, zum Vorteil von engen Partnern der USA.

Die 3 Top-Kommentare zu "«Der Angriff auf Armawir könnte die Bedingungen erfüllen, die Russland 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten»: Militär-Experte Markus Reisner warnt vor Eskalation im Ukraine-Krieg"
  • Alpensturm1776

    Unsere Elite versucht ganz Europa in einen riesigen Krieg mit Russland zu manövrieren. Wenn Krieg herrscht, dann herrscht Chaos. Dann hat niemand Zeit, um sich um den drohenden Finanzkollaps zu kümmern, oder die Übersterblichkeit und Unterfruchtbarkeit bei C-19 Geimpften. Oder der Umstand, dass immer mehr aufwachen und merken, dass wir im Westen in einer Oligarchie leben und nicht in einer echten Demokratie. Und dass die EU keine Fehlkonstruktion ist, wie Köppel immer sagt, sondern gewollt.

  • Die Provokation und Eskalation ist wohl das Ziel dieses Angriffs. Er bringt militärisch keine Entlastung für den Krieg in der Ukraine, birgt aber erhebliches Eskalationspotential. Ein Angriff auf die Frühwarnanlagen ist im einschlägigen russischen Gesetz explizit als Grund für den Einsatz von Nuklearwaffen erwähnt. Das weiss Kyiv und das Wissen Washington und London natürlich. Diese wissen aber auch, dass die Ukraine ohne Ausweitung des Krieges nicht gewinnen kann - mit Ausweitung auch nicht.

  • jameselsener

    Die Bilder, die rumgeistern, sind ein Screenshot eines Telegram-Videos, welches einige Sekunden lang ist. Komisch, dass auf den Bildern keine Brandspuren zu sehen sind. Ebenso komisch, dass keine anderen Bilder aufgetaucht sind. Die Gegend um Amavir ist sehr flach und die Anlage ist von weitem gut sichtbar. Eines muss man den Ukrainern lassen: In der Propaganda und unsere Medien an der Nase herumführen sind sie einsame Klasse.