Im Lande Okzident wütet Omikron. Die Seuche sät Panik am Hof des Kaisers. Die imperialen Ratgeber zerbrechen sich die weisen Köpfe. Wie kann das Monster Omikron, das in Windeseile durchs Land fegt, besiegt werden? «Testen, Isolieren, Impfen», sagt der kaiserliche Leibarzt. «Testen, Isolieren, Impfen», murmeln die Hofräte beifällig. «Mehr testen, mehr isolieren, mehr impfen», befiehlt der Kaiser. Die Boten werden ausgeschickt und verkünden: «Testen, Isolieren, Impfen!» Schutzmänner und Schutzfrauen wachen, dass das Volk der kaiserlichen Order gehorcht. Manchmal braucht es einen Peitschenhieb, denn vielen mangelt es an Vernunft.

Der Kaiser will herausfinden, ob auch wirklich reichsweit getestet, isoliert und geimpft wird. Er legt die Krone ab, setzt einen grauen Bart auf und hüllt sich in alte Lumpen. Als Bettelmann verkleidet, steigt er frühmorgens vom Schloss herunter in die Stadt. Auf dem Marktplatz ist kein Mensch. Gut, denkt der Kaiser, sie gehorchen und arbeiten im Heimkontor. Im Krankenhaus sind die barmherzigen Schwestern am Impfen und Testen. «Guter Bettelmann», sagt die Oberin, «heute schon getestet?» Der kaiserliche Bettelmann zieht ein geschwärztes Hölzchen aus dem Lumpenärmel, zeigt es vor – er ist getestet – und geht seines Wegs.

Die Sonne steht schon hoch. Vor einer abgeriegelten Schenke wacht ein Gendarm mit Schlagstock und Pfefferdose. Den Kaiser dürstet. Er setzt sich auf eine Bank. Ein vorbeistreunender Knabe in lockigem Haar schaut den sonderlichen Bettelmann verdutzt an. «Hast du Durst, Alter?», fragt er ihn. «Bist du getestet, Junge?», will der Bärtige wissen. «Nicht nötigt, ich bin jung, gesund und munter», antwortet der kleine Frechdachs: «Und weil ich nicht getestet bin, muss ich nicht in die Schule, judihui!» Der Kaiser, der ein geschultes, gescheites Volk will, ist böse, aber darf nicht aus seiner Rolle schlüpfen: «So, so. Was meinst du, Knabe, wenn alle so dächten wie du? Wo führte das hin? Jeder ungetestete, ungeimpfte Lump dürfte sich in der offenen Schenke verköstigen.»

«Das wäre doch herrlich, dann könnte ich den Herrschaften die Pferde halten und einen Batzen verdienen.» Nicht verlegen gibt der Kaiser zurück: «Und wenn die Zecher im Gasthof angesteckt werden? Mit Omikron?» – «Dann», sagt der Jüngling, «legen sie sich ins Bett, trinken Hustentee und warten, bis es vorbei ist.»

Der kaiserliche Bettelmann hat genug gesehen und gehört. Er geht zurück ins Schloss, wechselt in die imperialen Gewänder, setzt sich die Krone auf und heisst den Reichsverweser, die Ratgeber zusammenzurufen. Die Herren eilen herbei, auf ihren Pergamentrollen die neusten schrecklichen Testzahlen. «Sie steigen und steigen», warnt der Hofarzt. «So hoch wie noch nie», pflichten die andern bei. Der Kaiser hebt den Kaiserstab, gebietet Ruhe und sagt: «Aufhören!» – «Aufhören?», brummt es zurück. «Aufhören!», wiederholt ihre imperiale Majestät und verlässt mit stolzen Schritten den Saal.

Am nächsten Tag reiten Trompeter und Sendboten los aus dem Schloss, um im Land die frohe Botschaft zu verkünden: «Omikron ist besiegt. Kein Impfen mehr. Kein Isolieren mehr. Kein Testen mehr!» In Krankenhäusern und Klöstern werden Zahlrähmen, Spritzen und Reagenzgläser in die Schränke zurückversorgt. Bald ist der Spuk vorbei. Das Volk kriecht aus den Löchern, ist wieder froh, singt und tanzt. Es liebt seinen Herrscher, der auch froh ist. Und wenn der Kaiser nicht gestorben ist, so regiert er noch heute.