Dieser Text erschien erstmals in der grossen Weltwoche-Jahresendausgabe vom 20. Dezember 2023. 

 

Es war nur ein Gerücht, aber es war ein Gerücht, das es blitzartig in die Schlagzeilen schaffte. Das Gerücht sagte, dass Donald Trump im Wahlkampf von 2024 mit einem ganz speziellen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten antreten werde. Mit Tucker Carlson.

«Trump mag Carlson», kommentierte die New York Times das Gerücht, denn Carlson sei «ein ideologischer Pate der Republikaner».

Das Gerücht wird wohl dennoch ein Gerücht bleiben. Aber es zeigt schon, welche erstaunliche Aureole den rechtsbürgerlichen Journalisten Tucker Carlson inzwischen umgibt. Ihm traut man inzwischen alles zu. Dass er, der Frontmann des Senders Fox News, im April fristlos entlassen wurde, änderte nichts daran.

Das Gerücht um die Vizepräsidentschaft ist wohl auch darum nur ein Schattenboxen, weil Tucker Carlson soeben den Startschuss für ein eigenes Medienunternehmen gab. Die Planung läuft, denn Carlson weiss, dass er ein Markenname ist, der jederzeit ein Millionenpublikum erreichen kann. 2024 will er starten.

 

Typus des Grenzgängers

Zuerst aber etwas Vergangenheitsbewältigung. Acht Monate ist es her, seit Tucker Carlson beim Sender Fox News überraschend gefeuert wurde. Zuvor war er vierzehn Jahre lang das Wirtshausschild des Senders gewesen. Mit seiner News-Show «Tucker Carlson Tonight» erreichte er allabendlich bis zu 3,5 Millionen Zuschauer und hängte damit die konkurrierenden Informationssendungen der anderen TV-Kabelkanäle wie CNN und MSNBC um Längen ab. Carlson kam auf sagenhafte Marktanteile um die 50 Prozent.

Carlson, heute 54, erreichte seine Traumquoten durch seine Anhänger im konservativen Amerika. Bei Fox News positionierte er sich gerne als der Typus des Grenzgängers, der auch mit gewagten Thesen gegen den linksliberalen Mainstream antrat. Er war, mitunter mit offener Sympathie, für Verschwörungstheorien, gegen Einwanderung, gegen Corona-Massnahmen, gegen Islamismus, gegen Genderismus, und er hinterfragte die offiziellen Lesarten zum Sturm auf das Kapitol, zur Klimakrise und zur Verdammung Russlands. Und natürlich war er von Anfang an für Donald Trump.

Carlson, das erklärt seine Breitenwirkung, war kein rhetorischer Pöbler und nie ein verbaler Rüpel. Er war bei Fox News, das anerkannten auch seine Gegner, ein äusserst brillanter Moderator, ein Feuerwerker der Sprache, der die Kunst der geschliffenen Überzeugungsarbeit beherrschte. Selbst die kühnsten Theorien klangen aus seinem Mund wie längst bewiesene Selbstverständlichkeiten, an denen kein Zweifel bestehen konnte.

Diese Aussenwirkung unterstrich er vor der Kamera auch mit einem gezielt persönlichen Outfit. Er trug helle karierte Hemden mit einer quergestreiften Hogwarts-Krawatte im Harry-Potter-Stil.

Heissa, war das ein Jubel bei all den linken Köchen in den roten Küchen von den USA bis nach Europa.

Dann aber nahm er den Mund doch etwas zu voll. Carlson legte sich auf die These fest, nach der Donald Trump durch Wahlfälschung aus dem Amt geflogen sei. Die Wahlmaschinen des kanadischen Unternehmens Dominion Voting Systems seien so programmiert gewesen, orakelte er, dass sie Stimmen für Trump in genügend Stimmen für seinen Widersacher Joe Biden umgewandelt hätten.

 

Das Ende war es nicht

Natürlich war das abwegig, und natürlich klagte Dominion den Kanal von Fox News sofort ein, über 1,6 Milliarden Dollar. Fox-Besitzer Rupert Murdoch, der alterfahrene Medienmogul, ging dann einen Vergleich ein und kam so mit der Hälfte dieser Streitsumme davon. Allerdings musste der Sender sich als Kompensation dazu verpflichten, den Schurken Tucker Carlson per sofort zu entlassen.

Heissa, war das ein Jubel bei all den linken Köchen in den roten Küchen von den USA bis nach Europa. «Der rechtsradikale Extremist ist weg», jubelte CNN. «Das Ende eines Gesinnungssöldners», jubelte der deutsche Stern.

Das Ende war es nicht. Es war im Gegenteil der Anfang. Tucker Carlson startete nach seiner Entlassung ein Modell, wie man es zuvor im Journalismus noch nicht gesehen hatte. Er schuf sozusagen eine TV-Station im Einmannbetrieb. Auf Twitter, inzwischen in «X» umgetauft, spulte er unter dem Label «Tucker on X» serienweise Interviews ab, meist mit Persönlichkeiten, bei denen schon die Namensnennung heftige Kontroversen auslöste.

Der grösste Coup, wieder einmal, gelang ihm mit Donald Trump. Trump schwänzte die erste Debatte der republikanischen Präsidentschaftskandidaten, die von Carlsons früherem Sender Fox News ausgestrahlt wurde. Stattdessen gab er Carlson ein 46 Minuten dauerndes Interview, in dem er kräftig gegen seine republikanischen Rivalen austeilte.

Carlson strahlte das Interview auf X exakt zum gleichen Zeitpunkt wie die Fox-News-Debatte aus. Die Quote des Carlson-Trump-Gesprächs ging in der Folge durch die Decke und erreichte 150 Millionen Views. Auf Fox News schalteten sich knapp 13 Millionen Zuschauer zu.

Als weitere Interviewpartner holte Carlson beispielsweise Viktor Orbán vor die Kamera, der die USA zur Beendigung des Ukraine-Kriegs aufrief. Schlagzeilen machten auch seine Gespräche mit Ken Paxton, dem Generalstaatsanwalt von Texas, der ein Amtsenthebungsverfahren überlebte, oder mit Robert F. Kennedy Junior, der die CIA anklagte, seinen Onkel John F. Kennedy umgebracht zu haben.

Den absoluten Rekord erreichte Carlson durch sein Interview mit dem neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei, den er während seiner Kampagne im September vor die Kamera holte und den er dann unverblümt zur Wahl empfahl. Das Video erreichte über 300 Millionen Views, weil halb Südamerika sich zuschaltete.

Interessant an seiner Biografie ist aus Schweizer Sicht der enge Bezug zur Eidgenossenschaft.

«Das sind Publikumszahlen», kommentierte das Wirtschaftsmagazin Forbes, «für die jeder TV-Manager töten würde» — auf Englisch: «would kill for».

Tatsächlich: Wenn man die Zahlen betrachtet, dann ist Taylor Swift mit ihren 300 Millionen verkauften Tonträgern vom Time-Magazin soeben zu Recht zur «Person of the Year» gewählt worden. Tucker Carlson wäre dann mit Sicherheit die «Media Person of the Year».

Finanzielle Überlegungen scheinen bei der Präsenz von Carlson auf Twitter, respektive X, bisher keine allzu grosse Rolle zu spielen. Natürlich treibt er die Zugriffszahlen der Plattform in die Höhe, was sich wiederum bei den Werbeeinnahmen niederschlägt. Amerikanische Medien-Analysten spekulieren darum darüber, was für einen Deal Carlson mit X-Besitzer Elon Musk abgeschlossen haben könnte. Sicher ist zumindest: Mit dem politisch konservativen Carlson und dem ähnlich gestrickten Musk haben sich zwei Gesinnungsbrüder getroffen, die ein innovatives Medienmodell in die Welt gesetzt haben.

Geld spielt für Tucker Carlson ohnehin nicht die grosse Rolle. Bei Fox News verdiente er zwanzig Millionen Dollar im Jahr, und der TV-Sender zahlte ihm nach seiner Entlassung das Salär weiterhin.

Zudem stammt Carlson aus einer steinreichen Familie. Sie heiratete sich in die frühere Besitzerfamilie des Lebensmittelunternehmens Swanson ein, die ihre Firma an den Food-Giganten Campbell’s verkaufte.

Interessant an seiner Biografie ist aus Schweizer Sicht der enge Bezug zur Eidgenossenschaft. Tuckers Mutter war eine geborene Lisa Lombardi, ein weitverbreiteter Name in der italienischen Schweiz, von wo ihre Vorfahren stammen. Der Ururgrossvater von Carlson war Cesare Lombardi, der 1860 aus der Schweiz nach New York auswanderte. Die Lombardis, schrieben amerikanische Zeitungen, wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer der reichsten Familien in San Francisco.

Der Bezug zur Schweiz blieb erhalten. Als Teenager besuchte Carlson die Privatschule Collège du Léman in Versoix im Kanton Genf, die sowohl auf Englisch wie auf Französisch unterrichtet. Im September 2023 lieferte Carlson im Interview mit der Weltwoche eine eigenwillige Liebeserklärung an das Land. «Ich liebe langweilige Länder. Ihr Schweizer habt das letzte langweilige Land im Westen», sagte er, «und ich hoffe, dass die Schweiz genau so bleibt.»

Carlson studierte Geschichte und heiratete schon während des Studiums seine Frau Susan Andrews, mit der er vier Kinder hat. Seine journalistische Karriere begann er danach als freier Journalist. Er schrieb für Blätter wie Esquire und The New Republic, 2000 wechselte er zu CNN und moderierte dort die abendliche Talkshow «Crossfire». Ab 2009 war er dann bei Fox News, wo er zunehmend ins konservative Lager der Republikaner schwenkte und vor der Wahl von 2016 zu einem der wichtigsten Lautsprecher von Donald Trump wurde.

Mit seinem Abgang bei Fox News schien Trump für den kommenden Wahlkampf eine seiner besten Trommeln verloren zu haben. Es dauerte dann gerade mal drei Wochen, bis Carlson ankündigte: «We’re back.»

Dass sein schnell improvisierter Wechsel vom Fernsehen zu den Social Media sich zu einem derartigen Knaller entwickeln würde, hatte Carlson, wie die gesamte Medienbranche, nicht erwartet. Darum ist es nur folgerichtig, dass er die spontane Idee nun in ein nachhaltiges Geschäftsmodell umwandeln will.

 

Hunderte von Millionen in Aussicht

Carlson hat sich dazu mit Neil Patel zusammengetan, einem Insider des Weissen Hauses, der Chefberater von Vizepräsident Dick Cheney war und als ausgekochter Profi des politischen Marketings gilt. Ihr neugegründetes Online-Medienunternehmen zielt auf zahlende Abonnenten, für die exklusive Inhalte aufbereitet werden. Es ist klar, dass konservative Investoren eine News-Plattform aus ihrer politischen Ecke freudvoll unterstützen werden. Bereits seien zur Finanzierung des Projekts «Hunderte von Millionen in Aussicht gestellt», vermeldete das Wall Street Journal.

2024 ist Präsidentenwahl in den USA. Sicher ist: Es wird ein Duell wie im Wilden Westen. Und ebenso sicher ist: Tucker Carlson ist mittendrin.