Diese Rede hielt Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik, am 15. Februar zum Anlass der Sicherheitskonferenz in München. Wir dokumentieren sie im Wortlaut.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Friedensbewegte, liebe Münchner, liebe Europäer von nah oder fern,
ich freue mich, innerhalb von nur einem halben Jahr zum zweiten Mal auf einer Friedensdemo in München sprechen zu können – erst im September war ich hier auf dem schönen Marienplatz!
Ich möchte heute keine heischende, sondern eine nachdenkliche Rede halten.
Ich bin selbst etwas überfordert, die vielfältigen Ereignisse, Nachrichten, Kommentare, Blickwinkel und Strömungen, die auf uns alle einprasseln, zu ordnen und zu verstehen: Demokratie, Meinungsfreiheit, Ukraine, Krieg, Gaza, «alle gegen rechts»: die politische Landschaft ist erregt und unüberschaubar geworden.
Ob ich Ihnen Ideen oder eine gute Einschätzung für das unterbreiten kann, was Europa jetzt – in diesem Moment der Geschichte – tun sollte, weiss ich nicht.
Worum ich aber bitte ist, dass wir im Anschluss an meine etwa 15-minütige Rede statt Applaus eine Schweigeminute einlegen, für die rund 500.000 gefallenen oder ukrainischen und russischen Soldaten, die der Krieg, der jetzt hoffentlich bald beendet werden kann, unnötigerweise gekostet hat: ich habe noch nicht mitbekommen, dass sich die Teilnehmer der Münchener Sicherheitskonferenz im Bayrischen Hof vor den gefallenen Soldaten verneigt haben!
Heute ist ein besonderer Anlass für diese Demonstration: die Münchener Sicherheitskonferenz ist seit über 50 Jahren eine Institution in dieser Stadt. Von zirka 2007 bis 2013 war ich Mitglied der Münchener Sicherheitskonferenz, also im Bayrischen Hof dabei, zum Beispiel auch 2007, als Wladimir Putin dort seine berühmte Rede hielt, in der er die sichtbaren Ambitionen auf eine «unipolaren Welt» der USA hinterfragte und dem West eine kooperative Hand auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts und der Anerkennung von Russland austreckte.
Wer diese Rede – wie ich – live gehört hatte, konnte schon damals darüber erstaunt sein, wie über Putins’ Rede berichtet wurde. Allgemein wurde Putins Rede in der westlichen Presse als Rückkehr einer «Machtfigur» gedeutet, die von einem «Grossrussland» träumt.
Ich empfehle jedem die Lektüre der damaligen Rede, um sich ein Bild davon zu machen, wie ab diesem Moment, also seit knapp zwanzig Jahren, eine mediale Feindschaft gegenüber Russland durch systematisches Schlechtschreiben aufgebaut wurde, die schliesslich 2022 zur Grundlage einer haarsträubenden Russophobie in Europa und kolossalen Fehldeutung des russisch-ukrainischen Konfliktes in Europa führen konnte – plump zusammengefasst mit «Putin ist Hitler» und hegt imperiale Ambitionen auf Europa.
Genau das fällt jetzt all jenen, die dort im Bayrischen Hof sitzen, vor die Füsse! All jenen, die sich nicht eingestehen können, dass der sogenannte Wertewesten, dass die Länder, die sich einer «Regelbasierten Ordnung» rühmen, mitverantwortlich waren und sind für diesen sinnlosen Krieg; und dass das europäische Versagen, ihn rechtzeitig durch Diplomatie zu beenden, grenzenlos ist!
Es war Europa, es waren europäische Staats- und Regierungschefs, die sich durch den «Euro-Maidan» 2014 haben täuschen lassen, jenes «Fuck the EU» von Victoria Nuland klingt mir noch in den Ohren.
Es waren vor allem Deutschland und Frankreich, die sich von den Minsker Abkommen I und II verabschiedet haben, die eine neutrale und föderale Ukraine garantieren sollten; Frau Merkel hat es längst in einem Interview mit der Zeit eingestanden.
Es war ganz Europa, alle europäischen Staaten, die sich von der letzten US-Regierung blind in einen amerikanischen Stellvertreterkrieg haben ziehen lassen, der europäische Interessen auf diesem Kontinent von Anfang an torpediert hat.
Es war Europa, genauer Boris Johnson, der diesen Krieg im April 2022, kurz nach seinem Ausbruch, zu damals für die Ukraine noch sehr günstigen Bedingungen nicht beenden wollte («the West ist not yet ready for peace»), und es ist jetzt – zu meinem allergrössten Entsetzen! – immer noch Europa und nur noch Europa, das die Kriegsvorbereitungen und die Waffenlieferungen in die Ukraine immer noch nicht beenden will, in dem Moment, wo sich eine andere US-Regierung aus dem Konflikt zurückzieht.
Und anstatt dass Europa dieser Regierung dafür dankt, anstatt dass Europa selbst sofort den diplomatischen Faden mit Russland wieder aufnimmt, die Pipeline North Stream wieder aufbaut, anstatt dass Europa an seine alten, europäischen Ideen einer Friedensordnung mit Russland wieder anknüpft, überschlagen sich jetzt die hysterischen Kommentare und Forderungen nach noch mehr Geldern für die Nato und Grenzsicherung durch europäische Truppen.
In Deutschland laufen die Vorbereitungen für die Kriegstüchtigkeit einfach weiter: «Für den Krisen- und Kriegsfall sieht ein aktuell von Soldaten, Ministerialbeamten und Geheimdienstlern erstelltes ‘Grünbuch’ umfassende Massnahmen der Repression zur Verhinderung von Sabotage und ‹allgemeiner Unruhe› vor.» Die Zivilbevölkerung wird also weiter auf Krieg trainiert und vorbereitet.
Warum?
Ich weiss nicht, wie viele Chancen Europa sich noch vergeben möchte, wieder zu sich selbst zu finden; zu seiner Geschichte, seiner Selbstachtung, seiner Würde, seinen Interessen zurückzufinden. Wie ein kopfloses Huhn scheint Europa weiter hinein in eine Konfrontation mit Russland hinein laufen zu wollen, obgleich ihm – also Europa – gerade der Kopf abgeschlagen wurde.
In der aufgeschreckten europäischen Berichterstattung nach jenem Posting auf X von Donald Trump vom 12. Februar, in dem er von seinem Telefonat mit Putin berichtete, drückt sich meines Erachtens nichts anderes aus als die Unfähigkeit zu erkennen, wie sehr die europäischen Staaten seit Jahren der Biden-Regierung in blinder Gefolgschaft wider eigene Interessen aufgesessen sind und die Trump-Regierung die Europäer jetzt den Preis für die eigene Blindheit und Willfährigkeit bezahlen lässt, während die Ukraine mit Schrecken erkennen muss, in welchen Dimensionen sie instrumentalisiert wurde.
Jahrelang wurden diejenigen, die sich für Verhandlungen anstelle endloser Waffenlieferungen ausgesprochen haben, als Lumpenpazifisten oder Putin-Freunde diffamiert. Jetzt beweist Trump, dass die Aufnahme von Verhandlungen nicht an der fehlenden Bereitschaft des Kremls scheitert. Ein Anruf genügte!
Noch einmal: ein Anruf genügte!
Einfach mal zum Hörer greifen … «I just had a lengthy and productive phone call with President Vladimir Putin from Russia» – so lautet die erste Zeile des Postings auf X von Donald Trump vom 12. Februar morgens. Und weiter heisst es dort: «We both agreed we want to stop the millions of death taking place in the war between Ukraine/Russia.»
Wie hätte ich mich gefreut, wenn Ursula von der Leyen, Olaf Scholz oder Emmanuel Macron diese Worte gepostet hätte!
Ich schäme mich dafür, dass aus ihren Mündern seit drei Jahren kein ähnliches Wort gekommen ist! Ich schäme mich für eine EU, die 2012 den Friedensnobelpreis erhalten halt – und die allerspätestens heute ihren Anspruch, ein Friedensprojekt zu sein, verspielt hat: Frau von der Leyen, geben Sie den Preis bitte dem Nobelpreis-Komitee zurück! Und haben Sie bitte die Grösse, den Karlspreis, der in Andenken an das europäische Friedensprojekt verliehen wird und den Sie im Mai in Aachen erhalten sollen, nicht anzunehmen!
Wie viele Menschen könnten noch leben, wenn dieser Anruf schon früher stattgefunden hätte und die Chance auf einen Friedensschluss wenige Wochen nach Kriegsbeginn genutzt worden wäre?
Es war, wie Sahra Wagenknecht in ihrem letzten Newsletter schreibt, das grosse Versäumnis der deutschen und europäischen Politik, über Jahre hinweg keinen realistischen Plan zur Beendigung des Krieges vorgelegt und nicht auf Diplomatie gesetzt zu haben.
Für dieses Versäumnis kommt die dicke Rechnung jetzt.
Denn jetzt sind die Europäer blosse Statisten am Rand des Geschehens. Die USA bekommen ukrainische Rohstoffe und Ackerflächen, die Europäer tragen die Kosten für den Wiederaufbau der zerstörten Ukraine und wollen überdies die lange Grenzen zu Russland von Nord nach Süd quer durch Europa militärisch sichern, anstatt die alten Pläne einer europäischen Friedensordnung mit Russland wieder in Angriff zu nehmen, die Charta von Paris von 1991 wiederzubeleben, North Stream zu reparieren, die Grenzzäune abzureissen und zum Beispiel ein europäisch-russisches Jungendwerk einzurichten, so wie Deutschland und Frankreich es nach dem zweiten Weltkrieg gemacht haben: durch Jugendaustausch entsteht Frieden, nicht durch Waffen mit Stacheldraht gesicherte Grenzen! Europa kann und darf vom Osten Europas, darf von Eurasien nicht abgeschnitten sein, von Russland nicht, von China auch nicht!
Das ist die Chance, die die Trump-Regierung Europa jetzt einräumt und Europa sollte sie ergreifen!
Vor diesem Hintergrund habe ich mich persönlich über die überraschende, ehrliche – und für einige brüskierende – Rede von J. D. Vance gefreut haben, der Europa auf den Verlust seiner Werte von Demokratie und Meinungsfreiheit und auf seine fahrlässig selbstgefällige, unkritische Fehleinschätzung von sich selbst hingewiesen hat.
Für diejenigen, die sich in den Leitmedien über diese Rede empört haben und die partout nicht verstehen wollen, worin der «vermeintliche» Vorwurf eingeschränkter Meinungsfreiheit hierzulange denn bestehen soll, hätte ich hier ein paar Beispiele:
Eine Einschränkung von Meinungs- oder Wissenschaftsfreiheit besteht hierzulande, wenn
- Professoren in einem Buch die Mitverantwortung des Westens an dem russisch-ukrainischen Krieg benennen und daraufhin unter fadenscheinigen Gründen entlassen werden;
- Wenn man den Begriff «Stellvertreterkrieg» in einer Fernseh-Talkshow verwendet und daraufhin mit Shitstorms übersäht wird;
- wenn ehemaligen Russland-Korrespondenten ihre Vorträge nicht in öffentlichen Gebäuden halten dürfen;
- wenn Organisatoren von anti-Corona-Massnahmen-Demonstrationen 10 Monate in Untersuchungshaft verbringen müssen, ohne das eine Anklage formuliert wird;
- wenn der Algorithmus des European Digital Service Act eine Reichweiten-Drosselung für kritische Stimmen orchestriert;
- wenn in einem Land der freien Presse Russia Today nur über einen VPN-Port zu lesen ist;
- wenn Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin der UN für die besetzten palästinensischen Gebiete, ihren Vortrag an der FU Berlin nicht halten darf;
- wenn Professoren, die Studenten gewährt haben, legitimerweise ihrem Protest gegen den Völkermord in Gaza Ausdruck zu verleihen, laut Wissenschaftsministerin Strack-Watzinger, gelistet werden und Drittmittel entzogen bekommen sollen.
Ja, das alles sind Beispiele verdeckter oder direkter Zensur! Danke, J. D. Vance, dass sie das benannt haben!
Und ja, die Brandmauer, die Verweigerung von Dialog, der Ausschluss von Parteien ist selbst die Erosion der Demokratie!
Auch hier: Danke, J. D. Vance. Und ein Wort an diejenigen, die sich in ihrer Überheblichkeit bei den «alle gegen rechts»-Demonstrationen gerade moralisch aufplustern: sie seien an jenes Wort von Ignazio Silone erinnert: «Wenn der Faschismus wiederkommt, wird er nicht sagen, ich bin der Faschismus. Er wird sagen, ich bin der Anti-Faschismus.» Überlegen Sie sich bitte auch einmal, wer damals Fackeln trug und Lichterketten veranstaltete. Und wer es heute macht …
Doch, und jetzt wechsele ich die Diktion: So sehr die neue US-Regierung bei «Free Speech», bei der Einhegung des «Deep State», bei der Corona-Aufarbeitung und beim Beenden des Ukraine-Krieg jetzt Dinge tut, nach denen sich viele auch in Deutschland und in ganz Europa sehnen, so sehr dürfen andere Dinge der neuen US-Regierung nicht übersehen werden: Inakzeptabel sind unter anderem die Forderung nach «Gebieten» und ein possessiver Anspruch auf den Panama-Kanal, Kanada oder Grönland. Inakzeptabel, ja erschreckend sind Begriffe wie «Gaza Riviera» und der amerikanische Anspruch, über den Gazastreifen zu verfügen, als sei man der Hausherr dort. Inakzeptable sind die Pläne einer Unterstützung von Netanjahu in Richtung eines «Gross-Israel» und die offensichtliche Absicht, auf eine Grenze zwischen der Türkei und Israel auf Kosten Syriens zuzusteuern.
Netanjahu kam das Privileg zu, als erster ausländischer Staatsgast das Weisse Haus nach der Amtsübernahme durch Trump zu besuchen. Diese Einladung war auch ein bewusster Affront gegen den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, der im November letzten Jahres einen internationalen Haftbefehl gegen Netanjahu sowie den damaligen Kriegsminister Gallant wegen Kriegsverbrechen ausgestellt hat.
Doch eine der ersten Amtshandlungen von Donald Trump war die Verhängung von Sanktionen gegen alle Mitarbeiter des IStGH, die an dem Haftbefehl mitgewirkt haben. Netanjahu nannte Trump den besten Freund, den Israel je im Weissen Haus hatte. Schon im Vorfeld des Besuchs von Netanjahu hatte Trump angekündigt, er wolle die palästinensische Bevölkerung Gazas nach Ägypten und Jordanien oder an «2, 3, 4, 7, 8 oder auch 12 andere Orte» umsiedeln.
Dass der jordanische König diese Pläne jüngst in Washington abgelehnt hat, interessiert kaum. Doch Trumps Israel-Politik ist nicht das Einzige, was Deutschland und ganz Europa aufhorchen lassen sollte, vor allem aber Deutschland, das leider zwischen Antisemitismus und Antizionismus nicht mehr unterschieden kann und damit Gefahr läuft, erneut von einer transatlantischen Politik vereinnahmt zu werden, die ganz Europa nicht guttut!
Denn Europa kann ebenso wenig einseitig auf Israel setzen, wie einseitig auf die Ukraine. Europa lebt von einem Okzident-Orient Verhältnis, es braucht den Blick und die Verständigung über das Mittelmeer mit dem arabischen Raum ebenso wie die Kooperation mit dem Osten, mit Eurasien!
Inakzeptabel sind ferner «Maga» und der (erneute) Anspruch auch dieser US-Regierung, die Welt nach eigenen Vorstellungen und ohne Rücksicht auf internationales Recht zu gestalten. Inakzeptabel sind Handelskriege ebenso wie Kriege. Inakzeptable ist das Ausleben von Überlegenheit statt Partnerschaft. Inakzeptabel ist der auch für Europa spürbare Konflikt der USA mit China, in dem Europa zerrieben wird.
Kurz – und ich komme zum Ende: Es kann nicht in europäischem Interesse sein, einer anderen US-Regierung wiederum blinde Gefolgschaft zu gewähren, auch wenn diese einige sehr wichtige und richtige Dinge tut! Es kann und muss in dringendem europäischem Interesse sein, sich von den USA in jeder Hinsicht zu emanzipieren: strategisch, wirtschaftlich und mit Blick auf die digitale Infrastruktur! Das Nachdenken über und die Gestaltung eines postatlantischen Europas muss jetzt beginnen!
Europa will hat keine Kultur und keine Gesellschaft, die mit einer oligarchischen Struktur und einer libertären Wirtschaftsordnung kompatibel ist. Europa ist Humanismus und nicht Transhumanismus. Und deswegen hat Europa jetzt nur eine Chance: sich zu emanzipieren und darauf zu besinnen, was es ist!
Der Kontinent, der weiss, dass der Weltfriede von einem Gleichgewicht der Mächte abhängt. Der Kontinent, dessen Wesen Diplomatie und ein Friedensprojekt ist und der Kontinent, der jetzt dringend seinen Beitrag zur Schaffung einer multipolaren Welt leisten muss!
Mögen wir jetzt eine Minute den gefallenen Soldaten gedenken, in dem Ansinnen, dass ihr Lebensopfer diese Wende hervorbringt!
Ja der gute Friedensnobelpreis. Eine Farce. Obama, der Drohnenkiller Nr. 1 der USA, hat den "Fackel" ja auch gekriegt. Nur der Teufel weiss, warum.
Im Internet spricht man von Friedhofnobelpreisträger
Zwar wurden Humanismus u. Demokratie in Europa erfunden, aber wirklich gelebt wurden deren Werte eher selten. Die Herrschenden haben es stets verstanden diese im Munde zu führen, aber praktiziert haben sie zumeist deren Beschränkung, weil diese ihre Machtspiele behinderten. Der Grund weshalb die direkte Demokratie sich nie durchsetzen konnte. Genauso wie es der Grund ist, dass die europ. Staaten sich von den USA in die Konfrontation mit Russland hineinziehen liessen und damit nun weiter machen.