Frankeich ist Unruhe, nicht zum ersten Mal.

Proteste, Anschläge auf öffentliche Einrichtungen und Krawalle überziehen das Land seit vier Tagen von Paris über Lyon bis Marseille nach der Erschiessung des 17-jährigen Nahel mit nordafrikanischem Hintergrund im Zuge einer Verkehrskontrolle durch einen Polizisten in Nanterre im Süden von Paris.

Für heute Abend hat Präsident Emmanuel Macron sein Kabinett in den Elysée-Palast einbestellt, um zu überlegen, wie man das aufgewühlte Land befrieden könnte. Von Ausnahmezustand wurde schon geredet – die Mehrheit der Franzosen ist schockiert und wünscht sich ein Ende der Gewalt!

Die Szenen brennender Vorstädte mit fast ausschliesslich migrantischer Bevölkerung sind in Frankreich leider nicht neu: Die «Riots» von 2005 wurden ausgelöst, nachdem der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy von «Lumpengesindel» (racaille) mit Blick auf die dortigen Jugendlichen gesprochen hatte. Die Wut entlud sich damals tagelang in brennenden Autos.

Die – wie Videoaufnahmen des Vorfalls dokumentieren – unkontrollierte und grundlose Erschiessung Nahels durch einen Polizisten ist darum ein Gradmesser für die profunden und seit langem bekannten gesellschaftlichen Probleme, die Frankreich offenbar nicht in den Griff bekommt.

Ein Polizeiapparat, der – im europäischen Vergleich – nicht auf Deeskalation getrimmt wurde, mit strukturell rassistischen Zügen und autoritärer Tendenz; Parallelgesellschaften in den Vororten mit vielen Jugendlichen ohne Hoffnung auf Integration oder Zukunft; ungelöste Migrationsprobleme sowie soziale Verwerfungen und Spannungen, die sich seit Jahren schon in den gilets jaunes, den Gelbwesten, manifestiert haben – gerade erst hat Frankreich sechswöchige Streiks anlässlich der Rentenreform hinter sich.

Nahels Tod scheint das Streichholz gewesen zu sein, an dem sich das seit Jahren aufgewühlte Land nun entzündet hat – ähnlich wie vor einigen Jahren der Tod von George Floyd die USA in Wallung gebracht hat. Ein Auslöser eben, der die geballte, vielschichtige gesellschaftliche Wut an die Oberfläche befördert hat. Die einst stolze Republik und «Grande Nation» ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Alle Zahlen sprechen dafür, dass Frankreichs gesellschaftlicher Zusammenhalt brüchig geworden ist und das Vertrauen in die Demokratie und in staatliche Intuitionen rasant abnimmt. Rund zwei Drittel aller Franzosen haben gemäss Erhebungen kein Vertrauen mehr in ihren Staat. Das ist enorm.

2027 sind die nächsten Präsidentschaftswahlen. Viele Franzosen raunen heute schon hinter vorgehaltener Hand, dass ein Sieg von Marine Le Pen und dem Rassemblement National wahrscheinlich ist.

Die Hoffnung bleibt, dass der Tod Nahels jetzt die erneute Gelegenheit ist, umfassende Reformen zum Beispiel des Polizeiapparates in die Wege zu leiten, die Rassismus-Bekämpfung und die Migrationspolitik noch stärker in den Fokus zu nehmen und die französischen Vorstädte zu entghettoisieren.

Eigentlich ist hier schon einiges passiert, auch das sollte betont werden. Der französische Staat war nicht untätig. Seit den «Riots» von 2005 ist viel Geld in die Vorstädte geflossen, rund 110 Euro pro Kopf, im Vergleich zu nur 6 Euro pro Kopf etwa für Lothringen, eine sozial verwaiste Region im Osten Frankreichs.

Wer sich ein Bild vom Alltagsleben in diesen Pariser Vorstädten machen möchte, der sei auf den grossartigen Film «Les Misérables» des Regisseurs Ladj Ly, selbst Kind der «Banlieues», aus dem Jahr 2020 verwiesen, in dem es ebenfalls um einen brutalen Polizeieinsatz gegen Vorstadt-Jugendliche geht.

Der Film gehörte heute eigentlich in alle Kinos Europas, denn das französische Problem ist letztlich das Problem aller europäischen Staaten und auch nur gemeinsam zu lösen. Das Scheitern des EU-Gipfels, der sich mit Asyl- und Migrationsfragen verfasst hat, ist darum zu beklagen.