Mit Angriffen aus der Luft und am Boden hat die Hamas Israel auf breiter Front überrascht. Mindestens 200 Tote und rund mehr als 900 zum Teil schwer Verletzte wurden bis am Nachmittag gemeldet. In den ersten sechs Stunden des Samstagmorgens fielen 3000 Raketen auf Israel, auch auf Tel Aviv und in der Gegend von Jerusalem. Parallel zum Luftangriff drangen mehrere hundert Elitetruppen der Hamas in Israel ein und eroberten rund zwanzig Dörfer und Städte im Süden des Landes.

Israel wird auf diesen Angriff mit massiven Gegenschlägen reagieren müssen, sagt ein hoher Offizier. Angegriffen würden nicht nur Gebäude der Hamas, sondern Infrastrukturanlagen. «Sonst verlieren wir unser Abschreckungspotenzial», meint der Offizier. Zudem rechnet er damit, dass Israel alle Lieferungen in den Gazastreifen unterbinden werde, vor allem Energie und Nahrungsmittel.

Der Samstag verlief dramatisch. Die Hamas-Truppen legten bis zu 25 Kilometer auf israelischem Gebiet zurück, ohne dass sie aufgehalten wurden, und eroberten mehrere Dörfer und Städte. In zahlreichen Ortschaften kam es zu Strassenkämpfen zwischen der Hamas und Bürgerwehren. Bürger wurden angewiesen, sich in den Häusern zu verschanzen und die Türen zu verschliessen. Zudem wurden laut Informationen der Hamas eine unbekannte Zahl von Soldaten und Zivilisten in den Gazastreifen entführt – ob tot oder lebendig ist derzeit nicht bekannt.

Israel ist im Schock. Die Hamas hat sich während Monaten auf diesen Tag vorbereitet, ohne dass es die Geheimdienste gemerkt haben. «Wir stehen mit heruntergelassenen Hosen da», sagt ein hoher Offizier. Es zeigt sich, dass die Regierung und die Armee die Lage völlig falsch eingeschätzt hatten. Es war in den letzten Wochen zwar zu gewalttätigen Eskalationen an der Grenze zum Gazastreifen gekommen. Aber hochrangige Sicherheitsbeamte und Politiker gingen an einer Kabinettssitzung vor einer Woche noch davon aus, dass die Hamas einen ausgewachsenen Krieg mit Israel vermeiden wolle. Die Hamas, argumentierten sie, wolle die bisherigen Errungenschaften, die das Leben der Bewohner des Gazastreifens verbessert haben, nicht gefährden. Dabei übersahen sie, meint ein Kenner der Hamas, dass die Hamas eine islamische Organisation sei, für die das Wohl der Bürger keine Priorität habe.

Nicht nur die Geheimdienste haben versagt. Die Armee war in den ersten Stunden der Angriffe nicht präsent. Sie reagierte erst nach Stunden. Um das Vakuum zu füllen, stellten sich Familienväter den Hamas-Terroristen entgegen, um ihre Lieben zu verteidigen. Aus Kibbuzim riefen Zivilisten TV-Stationen an und flehten die Armee um Hilfe an. Viele flüsterten, weil die Terroristen bereits ins Haus eingedrungen seien. Aus Schutzräumen in der Nähe der infiltrierten Grenze zum Gazastreifen berichten Einheimische, dass es in ihren Gemeinden kaum Militärpräsenz gibt. Die Bewaffneten würden ungehindert von Haus zu Haus ziehen, Geiseln nehmen und die Häuser anzünden – noch acht Stunden nach dem Angriff. Ein Reporter der Hamas berichtete aus einem Kibbuz und meldete seinem Publikum in Gaza über den aus seiner Sicht sensationellen Erfolg der Hamas in Israel.

Während Stunden wurden nicht nur im Süden die Bürger, sondern im ganzen Land im Stich gelassen. Weder Premier Benjamin Netanjahu noch der Verteidigungsminister Yoav Gallant noch der Generalstabschef meldeten sich während den ersten Stunden zu Wort. Erst nach Mittag, sechs Stunden nach dem Angriff, wandte sich Netanjahu an die Nation. «Wir sind im Krieg», sagte er in einer aufgezeichneten Videobotschaft nach dem verheerenden Überraschungsangriff der Hamas. Es gehe als Erstes darum, die von der Hamas besetzten Ortschaften zurückzuerobern. Danach werde die Hamas «einen noch nie dagewesenen Preis» von der Terrorgruppe fordern. Tausende von Reservisten werden mobilisiert. Die Schulen bleiben am Montag geschlossen.

Die Bürger sind verwirrt und stellen sich viele Fragen. Wie konnten die Hamas-Milizen die Grenze überwinden? Weshalb haben die Geheimdienste nicht frühzeitig gewarnt? Warum hat die Armee so spät reagiert? Diese existentiellen Fragen werden das Land in den nächsten Wochen beschäftigen. Die Debatte der letzten Monate über die Justizreform, die die Gesellschaft spaltet, ist jetzt auf später verschoben. Aber die Debatte könnte die Hamas zur Annahme verleitet haben, dass die Spaltung der Gesellschaft die Verteidigungsbereitschaft der Armee reduziere.

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Jetzt stellt sich die Frage nach der weiteren Entwicklung des Kriegs. Der Angriff der Hamas sei auf Drängen Teherans erfolgt, meint ein Iran-Kenner in Tel Aviv. Teheran wolle damit die Annäherung Saudi-Arabiens an Israel verhindern. Gegen diese These spricht allerdings, dass über die Annäherung zwischen Jerusalem und Riad erst seit einigen Wochen spekuliert wird, während die Vorbereitung des Angriffs Monate gedauert hat.

Dem Grossangriff könnten sich andere Terrorgruppen anschliessen, befürchten Beobachter. In den Moscheen von Ost-Jerusalem wird zu Terrorangriffen auf israelische Ziele aufgerufen. Die arabischen Bürger Israels werden von der Hamas aufgerufen, sich dem Kampf anzuschliessen. Die schiitische Terrrorgruppe Hisbollah, die im Libanon Tausende von Raketen bereit hält, hat sich bisher nicht gemeldet. Würde sie in den Krieg eingreifen, liesse sich ein Flächenbrand im Nahen Osten nicht mehr verhindern.