Der Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, SVP-Politiker Franz Grüter, ist voll des Lobes für Staatssekretärin Livia Leu. «Sie hat sich wie eine Löwin für die Interessen der Schweiz eingesetzt», sagt er über sie und dass sie auch die Situation realistisch eingeschätzt habe. Für Leu war im März die Zeit nicht reif für Verhandlungen. Aber Aussenminister Cassis deutete die Ergebnisse der bisherigen Sondierungen nach einem Treffen mit dem Vizepräsidenten der EU-Kommission, Maros Sefcovic, in der Schweiz flugs um und sprach von einer «positiven Dynamik». Der Bundesrat beschloss daraufhin, bis Juni die Eckwerte zu einem neuen Verhandlungsmandat zu erarbeiten.

Wie der Aussenminister die realistischen Einwände und Bedenken seiner Chefunterhändlerin plötzlich umdeutete und der Öffentlichkeit als positive Entwicklung verkaufte, ist das Muster, das sich durch die Kommunikation der Regierung hindurchzieht, wenn Verhandlungen mit Brüssel zur Debatte stehen. Man zündet Nebelpetarden, verteilt Beruhigungspillen, aber selten wird der Bevölkerung klipp und klar gesagt, was die Unterschrift unter einen EU-Vertrag für das Land tatsächlich bedeutet. Lieber streicht man positive Aspekte als grandiose Errungenschaften hervor, obwohl unter dem Strich die Nachteile überwiegen. Dieses Jonglieren mit Halbwahrheiten begann bei der EWR-Abstimmung 1992.

Villiger sprach von «Kolonialvertrag»

Der Bundesrat, die Mehrheit der Parteien und fast alle Wirtschaftsverbände sprachen sich dafür aus. Die grossen Gewinner waren die SVP und der damalige Nationalrat Christoph Blocher, die das Referendum gegen das Vertragswerk ergriffen hatten und quasi allein gegen alle einen grossartigen Sieg einfuhren. Heute weiss man aufgrund freigegebener Protokolle der Bundesratssitzungen, wie einzelne Mitglieder der damaligen Landesregierung tatsächlich über dieses Vertragswerk dachten. Kaspar Villiger sprach von einem «Kolonialvertrag». Der Bevölkerung verklickerte die Landesregierung im Abstimmungskampf, mit dem EWR-Abkommen öffne sich die Türe ins wirtschaftliche Paradies.

Lieber streicht man positive Aspekte hervor, obwohl unter dem Strich die Nachteile überwiegen.

Ein anderes Beispiel sind die Urnengänge über die Personenfreizügigkeit im Jahr 2000 und über deren Ausdehnung 2005 und 2009, die von den Stimmbürgern angenommen wurden. Dabei hat man das Publikum bewusst in die Irre geleitet, um politische Entscheidungen durchzusetzen. Wahrscheinlich war es sogar eine Art politische Erpressung. Denn es war eine Zustimmung ohne die Freiheit, nein sagen zu dürfen. Man konnte die Personenfreizügigkeit nicht einfach ablehnen, denn man hätte damit auch willkommene Verträge mit der EU versenkt.

Natürlich kam die berechtigte Sorge auf, die reiche Schweiz könnte mit einem freien Personenverkehr zum Migrationsmagnet für EU-Bürger werden, die Löhne kämen durch einen Zustrom an Billigst-Arbeitern aus der EU ins Trudeln. Im Brustton tiefster Überzeugung verkündeten der Bundesrat, Parlament und Wirtschaft, mit Übergangsfristen, Ventilklausel und flankierenden Massnahmen (Lohnschutz) habe man ein Sicherheitsnetz gespannt. Von wegen!

Ungebremste Zuwanderung

Eine besonders krasse Falschinformation (oder Lüge?) waren die Schätzungen über den erwarteten Zustrom aus EU-Ländern. Es kämen jährlich nicht mehr als 8000 bis 10 000 Personen, wurde von Bundesräten und Wirtschaftskreisen verbreitet. Tatsächlich waren es zeitweise über 100 000 im Jahr. Entgegen allen offiziellen Prognosen ging der Zustrom auch in Krisenjahren nicht markant zurück. Aktivierte der Bundesrat wenigstens die Ventilklausel, um den Zustrom abzubremsen? Ach wo! Erst 2012, als die SVP ihre Initiative gegen die Massenzuwanderung lancierte, rang sich die Landesregierung dazu durch. Doch die Klausel wirkte nur noch für die acht neuen EU-Staaten in Osteuropa. Ein Klacks. Der Bundesrat hatte es ganz bewusst verpasst, die Ventilklausel in den Jahren anzurufen, als sie noch für sämtliche EU-Staaten zum Tragen gekommen wäre.

Die Schweiz stimmte 2005 nach einem heissen Abstimmungskampf auch dem Beitritt zu den Abkommen von Schengen/Dublin zu. Die damalige Chefunterhändlerin dieses Dossiers, Monique Jametti Greiner, erklärte in einem Interview: «Ohne Schengen und Dublin müssten wir punkto Sicherheit mittel- und längerfristig Abstriche machen. Im Asylbereich würden wir stärker belastet werden.» Seither explodiert die Anzahl Asylbewerber; die Kriminalitätsrate und die Kosten für Schengen/Dublin steigen unaufhaltsam.

Mit den gleichen Schönfärbereien will man jetzt die institutionelle Annäherung an die EU vorantreiben. Nein danke.

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