Berlin

Als der Tscheche Radim Passer im Juli 2021 mit seinem Bugatti Chiron über die deutsche Autobahn Nummer zwei raste, hatte er zweifach Grund zur Freude.

Zum einen war ihm hier auf einer öffentlichen Strasse gelungen, was im Rest der Welt nur auf Renn- und Teststrecken, Salzseen oder schlicht in der Fantasie möglich ist: Er hatte sein mehr als drei Millionen Franken teures Fahrzeug auf eine Geschwindigkeit von 417 Kilometern pro Stunde gebracht – was 116 Zentimeter pro Sekunde sind –, dabei die Hände in die Höhe gerissen und das halsbrecherische Manöver schliesslich bei Youtube hochgeladen. Das Video lockte fünfzehn Millionen Zuschauer.

Zum anderen kam Passer straffrei davon. Die zuständige Generalstaatsanwaltschaft im sachsen-anhaltischen Städtchen Naumburg vertrat im August 2022 nach mehr als einem Jahr Grübeln über den Fall die Auffassung, der heute 59-Jährige habe sich möglicherweise gefährlich und rücksichtslos verhalten, aber keinesfalls verkehrswidrig und gegen geltendes deutsches Recht.

Mit anderen Worten: Wer den Temporausch sucht, darf sich in Deutschland grenzenlos austoben. Dasselbe wusste auch der Schauspieler Tom Hanks einmal gegenüber David Letterman im amerikanischen Fernsehen begeistert zu berichten, nachdem er eine rauschartige Erfahrung mit dem Tempotourismus in good old Germany gemacht hatte.

Die Rechtslage – die gilt, solange man Rennen gegen sich selbst und nicht gegen andere fährt, weil immerhin das verboten ist – hat die New York Times zu einem bemerkenswerten Vergleich veranlasst: «Was religionsähnliche Einstellungen betrifft, ist die deutsche Abneigung gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf einer Höhe mit den Waffengesetzen in Amerika.»

Was die Redaktion der New York Times nicht weiter ausführte: Ganz ähnliche Freiheiten wie auf den Schnellstrassen gelten in Deutschland für andere Laster: das Rauchen, das Saufen, das Huren – und demnächst wohl auch für den «kontrollierten Konsum» von Cannabis. Betrachtet man die Zustände nüchtern und von aussen, muss man sich die Augen reiben – vor lauter Rauch und Dunst, Ethanol und Schweiss in der Luft.

Das Gericht befand, dass es schlicht unmöglich sei, in Berlin nicht in der Nähe eines Swingerklubs zu leben.

Normalität der Bierleiche

Die Masslosigkeit ist allgegenwärtig, egal, ob im Rheinischen Karneval, im Berliner oder Hamburger Nachtleben und auf dem Münchner Oktoberfest. Dort ist es nicht nur die schiere Menge von rund 7,5 Millionen Liter Bier, die «Mass» genannt und innerhalb von zwölf Tagen getrunken werden. Es sind vor allem die Normalität von zahllosen Bierleichen sowie der tradierte bajuwarische Brauch, zu fortgeschrittener Stunde unter Tische und Bänke zu pinkeln.

Überhaupt ist der Alkoholkonsum in Deutschland ziemlich auffällig. Menschen mit Bier- oder Schnapsflaschen in der Hand, wie man sie auf Strassen und in Bussen antrifft, sind nicht bloss in den prüden USA undenkbar, wo vielerorts der sichtbare Konsum von alkoholischen Getränken in Autos selbst für Mitfahrer untersagt ist.

Auffällig sind auch die oft moderaten Preise sowie die schrankenlosen Ausschankzeiten: beinahe rund um die Uhr – und das nicht nur in Berlin, obwohl die Zügellosigkeit dort kulminiert. Zum Beispiel im Technoklub Berghain, einer «verschlossenen, sexgetriebenen Welt», wie der Rolling Stone schrieb. In den Worten der amerikanischen Schauspielerin Claire Danes: der «beste Ort der Welt».

Und es locken viele weitere Attraktionen. Besucht man etwa mit Gästen aus England oder den USA den «Rum Trader» am Berliner Fasanenplatz, eine der sogenannten inhabergeführten Einraumkneipen, kann man das Staunen nicht übersehen, das eine andere legale Grenzüberschreitung über die Gesichter legt: Ihren Weltruf verdankt die kleine Bar nicht ihren rumreichen Getränken, sondern auch ihrem eigenwilligen früheren Eigentümer, dem Komponisten Gregor Scholl.

Vor fünfzehn Jahren hatte er (mit drei weiteren Parteien) vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegen das Rauchverbot geklagt. Vertreten durch Rupert Scholz, dereinst Berliner Justizsenator und später Bundesverteidigungsminister, hatte man Erfolg. Seitdem darf in allen Berliner Lokalen, die kleiner als 75 Quadratmeter sind, in denen keine warmen Speisen serviert werden und keine Gäste unter achtzehn Jahren verkehren, wieder so viel geraucht werden, wie die Lungen lustig sind.

Der «Rum Trader» ist dadurch zu einer Pilgerstätte von Tabak-Aficionados aus aller Welt geworden – und er ist es geblieben, nachdem Scholl sein Institut verkauft hat. Dass es weiterhin von führenden Hotels der Stadt empfohlen wird, erklärt der ehemalige Rumhändler Scholl so: «Weil ausländische Besucher etwas erleben können, was bei ihnen zu Hause schon lange verboten ist.»

Man muss sich die Augen reiben – vor lauter Rauch und Dunst, Ethanol und Schweiss in der Luft.

Was die Überholspur für die Autoindustrie, war für ihn für mehr als zwanzig Jahre der Aschenbecher: «Es erhöht die Verweildauer, wenn ein Gast eine schöne Zigarre raucht. Dann trinkt er meistens auch mehr.» Wenn die Bar voll ist, dann werden auch von seinem Nachfolger Sahand Zamani manchmal noch nachts um zwei Uhr in rauen Mengen Champagner, Rum und Gin serviert. In vielen anderen Ländern wären alleine dafür eigene, strengere Lizenzen erforderlich.

In der Weise, in der zügellose Lebensformen in Deutschland weder verpönt noch verboten sind, sind sie längst zu einem Standortvorteil geworden. Er hat sich in der weiten Welt herumgesprochen und lockt eine Menge Gäste an. Wie auf dem Oktoberfest sind es nicht die Mengen, die aus der Reihe fallen, sondern die laxen Rahmenbedingungen – made in Germany.

Wo kein Kläger, da ein Raucher

Wie exzessiv die Verhältnisse manchmal werden, erlebt man wieder ab dem 11. November in Köln – wenn dort Karneval ist, die «fünfte Jahreszeit». Gilt im Bundesland Nordrhein-Westfalen offiziell ein striktes Rauchverbot, das auch die «Brauchtumspflege» nicht mehr als Ausnahme duldet, wird vor allem in der Woche vor Aschermittwoch, der Hochzeit des Karnevals, fröhlich geraucht. De facto ist das Gesetz dann ausgesetzt. Immer nach dem Prinzip: Wo kein Kläger, da ein Raucher.

«Wir dürfen nicht vergessen, dass die Nazis das Rauchen abschaffen wollten», betont Gregor Scholl. Sich für einen Lebensstil zu entscheiden, selbst wenn er das eigene Wohl gefährdet, sei immer auch ein Akt bürgerlicher Selbstbestimmung – beinahe schweizerisch! In dieser Sichtweise wird als Gängelei empfunden, was die per Grundgesetz garantierte Freizügigkeit einschränken könnte. Sie bildet genau genommen einen deutschen Exportschlager – oder besser gesagt: eine Riesenattraktion in einem ansonsten oft als «Dienstleistungswüste» verrufenen Land.

Womit wir bei den Sexdienstleistungen sind – der freizügigsten deutschen Körperkultur. Auch in diesem Segment bietet Deutschland eine Menge konkurrenzloser Freiheiten und Formate: Nacktbadestrände, Saunaklubs und regelrechte Vergnügungstempel für alle möglichen sexuellen Neigungen. Besucher aus dem Ausland sind bereits baff, wenn sie in Frankfurt, in Hamburg oder in Berlin die Prostituierten nur mit blossem Auge auf offener Strasse stehen und, bei Geschäftsabschluss, in sogenannten Laufhäusern, wo sich die Frauen schliesslich der lustwandelnden Kundschaft präsentieren. Und sie staunen in Berlin über Busse, die für den Sexklub Artemis werben. Wo sonst auf der Welt würde der öffentliche Nahverkehr käuflichen Sex als Form der Freizeitbeschäftigung anpreisen? Das wäre nicht nur in New York oder London undenkbar, sondern auch in Zürich.

Es war kein Zufall, dass Angela Merkel im März 2020 in ihrer ersten Ansprache zu den Corona-Massnahmen Prostituierte und Bordelle wörtlich erwähnte. Die Angaben über das Sexgewerbe in Deutschland schwanken. Das Statistische Bundesamt rechnet mit 400.000 meist weiblichen Prostituierten und mehr als einer Million Freier am Tag. In einem Aufruf der Zeitschrift Emma war 2013 sogar von 700.000 Prostituierten die Rede. (Im Vergleich dazu arbeiten laut einem parlamentarischen Ausschuss in Grossbritannien rund 70.000 sex workers mit rund 220.000 Freiern pro Tag.)

So umstritten die Zahlen sind, so offensichtlich ist das Angebot. Und es ist wahrlich vielseitig, wenn man die Etablissements mitzählt, die (ebenfalls) auf Selbstbestimmung setzen, nicht auf Prostitution. So verbreitet die Vorstellung und das Vorurteil unter Deutschen sind, dass Sextouristen mit «Bumsbombern» in Länder wie Thailand reisen, so bewusst sollten sie sich machen, dass jeden Tag unzählige Sextouristen in ihr Land kommen. Die festen Termine im Jahreskalender erhöhen die Attraktivität: Oktoberfest, Cannstatter Wasen, Karneval, Christopher Street Day …

Es ist schon einige Jahre her, da versuchte ein Mieter in Berlin, auf Mietminderung zu klagen, weil sich in der Nähe seines Hauses ein Swingerklub befand. Die Klage wurde damals abgewiesen. Das Gericht befand, dass es schlicht unmöglich sei, in Berlin nicht in der Nähe eines Swingerklubs zu leben.

Vielleicht ist der Exzess ja wirklich eine Spezialität aus Deutschland! So eine Art Sturm und Drang der Gegenwart. Dass Bund und Länder in erheblicher Weise von Steuereinnahmen profitieren, die das Rasen, das Rauchen, das Trinken oder das Huren mit sich bringen, ist noch eine ganz andere Geschichte. Tom Hanks konnte es nach seinem Ausflug on the German Autobahn jedenfalls kaum fassen, wie legal der Rausch in Deutschland ist: «Der Staat sitzt dir nicht im Nacken – government is off your back, baby!»

Dieser Artikel erschien erstmals am 18. Oktober 2022 in der Weltwoche 42/2022.