Dieser Text erschien zuerst auf dem Online-Portal Nachdenkseiten.

Die Ermittlungen zum mittlerweile als «Pfizer-Gate» bezeichneten Skandal rund um den per SMS ausgehandelten «Privatvertrag» zwischen EU-Kommissions-Präsidentin von der Leyen und dem Pfizer-Chef Bourla haben eine neue Stufe erreicht. Wie das US-Magazin Politico berichtet, hat nun die EU-Staatsanwaltschaft die Ermittlungen von der belgischen Staatsanwaltschaft übernommen. Das ist insofern bemerkenswert, als die erst 2021 gegründete EU-Staatsanwaltschaft auf strafrechtliche Ermittlungen zu Lasten des EU-Budgets spezialisiert ist. Offenbar sehen die obersten europäischen Korruptionsbekämpfer hier einen begründeten Anfangsverdacht auf eine schwere Straftat gegen die oberste Chefin der EU. Für deutsche Medien ist dies alles jedoch kein Thema. 

Es ist schon «erstaunlich». Nahezu jeden Tag kann man auf dem grössten deutschen Newsportal Spiegel.de neue Meldungen zu den zivil- und strafrechtlichen Ermittlungen gegen den ehemaligen und wahrscheinlich auch künftigen US-Präsidenten Donald Trump lesen. Über die strafrechtlichen Ermittlungen gegen unsere EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen findet sich auf dem Portal keine einzige Meldung – auch über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Lüttich nicht. Bei der öffentlich-rechtlichen Tagesschau stösst man ebenfalls auf eine gähnende Leere, und auch bei den grossen Zeitungen herrscht dröhnendes Schweigen. Einzig die NZZ, der Standard und die Berliner Zeitung kommen hier ihrem Auftrag nach.

Worum geht es?

In der Kurzform: Ursula von der Leyen hatte im Mai 2021 unter Ausschluss der Öffentlichkeit und unter Umgehung sämtlicher Rechenschafts- und Transparenzpflichten der EU in Eigenregie einen Vertrag mit dem US-Pharmariesen Pfizer über die Bestellung von 900 Millionen Dosen des Biontech-Corona-Impfstoffs abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die EU bereits über 2,5 Milliarden Impfdosen bestellt. Problematisch ist auch, dass der vereinbarte Preis mit 19,50 Euro pro Dosis deutlich über dem Preis aus den vorangegangenen Verträgen und sehr, sehr deutlich über dem der Konkurrenz (Astra Zeneca 2,30 Euro pro Dosis) lag. Die Vertragsdetails wurden offenbar zwischen von der Leyen und Pfizer-Chef Bourla per SMS ausgehandelt. Damit hat von der Leyen gegen unzählige EU-Regeln verstossen.

Lesen Sie dazu bitte den Artikel «Von der Leyen und der Pfizer-Skandal – Warum schweigen die deutschen Medien?».

Daraufhin zeigte sie ein belgischer Pharmalobbyist wegen «Einmischung in öffentliche Ämter, Vernichtung von SMS, Korruption und Interessenkonflikten» bei der belgischen Justiz an, und die Staatsanwaltschaft in Lüttich übernahm die Ermittlungen. Im konkreten Fall ging es darum, dass auch dem belgischen Staat durch von der Leyens Pfizer-Deal ein Schaden in Milliardenhöhe entstanden ist. Die Ermittlungen wurden vor gut einem Jahr eingeleitet, und seitdem hat man nicht mehr viel über deren Stand gehört. Dass nun die EU-Staatsanwaltschaft den Fall übernommen hat, legt den Verdacht nahe, dass die Ermittlungen der Belgier einerseits den Verdacht gegen von der Leyen erhärtet haben, sie aber andererseits selbst nicht weiterkamen, da die EU-Kommission nicht in ihre Kompetenz fällt.

Die EU-Staatsanwaltschaft kann hingegen qua Gesetz nicht nur Beweismittel aus von der Leyens Büro in Brüssel, sondern auch Beweismittel aus ihrem deutschen Büro beschlagnahmen. Pikanterweise ist diese Behörde erst 2017 gegründet worden und hat die Arbeit im Juni 2021, kurz nach von der Leyens Pfizer-Deal, aufgenommen. Auch wenn diese neue Behörde personell schwach besetzt ist, hatte sie vor allem im Zusammenhang mit Korruptions- und Betrugsfällen im Umfeld der EU-Hilfen im Rahmen des Corona-Hilfsfonds schon einige Erfolge erzielt. Dass diese Behörde nun den Fall übernommen hat, wird weder von der Leyen noch Pfizer gefallen und legt den Verdacht nahe, dass die Ermittlungen der Belgier strafrechtlich relevante Ergebnisse erzielt haben.

Wir reden hier also nicht über Petitessen, sondern über sehr ernste strafrechtliche Fragen, in deren Mittelpunkt eine EU-Kommissions-Präsidentin steht, die sich gerade im Wahlkampf befindet und eine zweite Amtszeit anstrebt. Dass die deutschen Medien nicht über die Ermittlungen berichten, ist ein echter Medienskandal. Nur dank der Berichterstattung des lustigerweise zum Springer-Verlag gehörenden US-Magazins Politico und der New York Times, die parallel dazu vor Gerichten die Veröffentlichung der Vertragsunterlagen einklagt, ist der »Deal» überhaupt bekannt geworden. Last but not least hat sich der Europaabgeordnete Martin Sonneborn durch seine wiederholte Bekanntmachung des Falls sehr verdient gemacht. Von ihm erfährt man ohnehin mehr über Korruption und Vetternwirtschaft in der EU als aus der gesamten deutschen «Qualitätspresse» zusammen.

Wie es nun in diesem Fall weitergeht, ist offen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die EU-Staatsanwaltschaft vor den Europawahlen Ergebnisse vorlegen kann, und mitten im Wahlkampf wird die Behörde wohl auch kaum eine Razzia im Büro der Kommissions-Präsidentin durchführen. Es ist ohnehin anzunehmen, dass von der Leyen die Beweismittel bereits vernichtet hat. Darin hat sie ja Erfahrung. Da Pfizer ein US-Unternehmen ist, dürften sich die Ermittlungen auf dieser Seite auch problematisch gestalten. Öffentlicher Druck könnte dies ändern. Aber wo soll öffentlicher Druck herkommen, wenn niemand darüber berichtet? Und so werden wir aller Voraussicht nach im Sommer eine neue alte Kommissions-Präsidentin bekommen, gegen die zeitgleich die eigene Korruptionsbehörde ermittelt. So unterschiedlich von den USA sind wir in Europa offenbar nicht.

Jens Berger ist freier Journalist und Chefredaktor der Nachdenkseiten. Er publizierte mehrere Sachbücher, darunter «Der Kick des Geldes» (Westend, 2015) und der Spiegel-Bestseller «Wem gehört Deutschland?» (Westend, 2014).