«Die Schlafwandler», so lautet der sprichwörtlich gewordene Titel eines Standardwerks des Historikers Christopher Clark zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Noch heute, 110 Jahre danach, forschen Legionen von Wissenschaftlern an den Wurzeln dieser «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts. Man rĂ€tselt und vermutet, identifiziert mal diesen, mal jenen Schuldigen, doch einig ist man sich im Grunde nur ĂŒber etwas: Ausschlaggebend war eine Art kollektive Kriegspsychose der damaligen Eliten, die sich in machtblinder Verkennung der Risiken in ein vier Jahre dauerndes Gemetzel hineineskalierten. Noch wenige Jahre zuvor hatten die gleichen Leute das GefĂŒhl, in der sich global vernetzenden Wohlstandswelt Europas seien Kriege eigentlich undenkbar.

Es ist kein Zufall, dass Clarks Buch und dessen Titel heute auf einmal wieder unheimlich aktuell erscheinen. Europa hat Jahrzehnte des Friedens und Wohlstands hinter sich. Bis vor kurzem hielt man die Möglichkeit eines Krieges fĂŒr eine faktische Unmöglichkeit. US-Historiker glaubten, das «Ende der Geschichte» sei angebrochen, was zwar schon immer eine optische TĂ€uschung war, aber irgendwie doch nicht gĂ€nzlich unplausibel anmutete, da es doch unabweisbar der Fall war, dass sich nach dem Untergang der Sowjetunion selbst die einst so bitter verfeindeten AtommĂ€chte die Hand reichten. War da nicht auch ein russischer PrĂ€sident namens Wladimir Putin, ein zutiefst europĂ€isch geprĂ€gter Mann aus St. Petersburg, der «dem Westen» Freundschaft und Zusammenarbeit offerierte?

Heute, jetzt, in diesem Moment stehen Europa, die Welt so nahe an einem grossen Krieg wie seit 1945 nicht mehr. Dass wir in diesen Abgrund blicken, hat sehr viel mit der schwindenden Erinnerung an die Schrecklichkeiten der Vergangenheit zu tun, die wir zum GlĂŒck nicht erlebt haben. Nur Zivilisationen, die sich den Krieg gĂ€nzlich abgewöhnt haben, sind in der Lage, in Kriege hinein zu «schlafwandeln», vor lauter Friedens- und Wohlstandstrunkenheit unfĂ€hig, die sich aufschichtenden Risiken, die sie selber durch ihr Tun verschĂ€rfen, auch nur wahrzunehmen. Man beschrĂ€nkt sich heute darauf, die Schuld an allem ausschliesslich beim jeweils anderen zu sehen. Feindbilder haben darum etwas so VerfĂŒhrerisches. Sie rechtfertigen das Handeln ihrer AnhĂ€nger und geben ihnen das GefĂŒhl, sie seien moralisch höherwertig. 

Die Schlafwandler: Der Westen, die Amerikaner, die Deutschen, die Franzosen, aber auch die kriegstollen Briten haben in diesem Krieg inzwischen jede ihrer selbstauferlegten Eskalationshemmungen ĂŒber den Haufen geworfen. Zuerst wollte man nur Helme, Schutzwesten, Gewehre oder Munition in die Ukraine schicken. Zwei Jahre spĂ€ter sind wir bei Panzern, Kanonen, Raketen, Kampfjets, Marschflugkörpern, MilitĂ€rberatern und Söldnertruppen. Die Vietnamisierung des Ukraine-Kriegs ist in vollem Gang, und die FĂŒhrungseliten des Westens scheinen von ihrem steil in den Abgrund fĂŒhrenden Kriegspfad nicht mehr loszukommen. Macron, Biden, Scholz, die Regierungen in Polen und im Baltikum ohnehin, allen voran unsere Medien haben enorm viel politisches Kapital in diesen Krieg und in die DĂ€monisierung Putins investiert. Der Gesichtsverlust bei einer Umkehr wĂ€re total. Das macht die Lage brandgefĂ€hrlich.

Ja, auch der Überrealist Putin hat sich verkalkuliert. Es ist nun klar, dass ihn zuerst nicht die Beseitigung der «Nazis» in Kiew und die Befreiung des Donbass zu seiner «Spezialoperation» verleiteten, sondern die Aussicht auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und die von den Amerikanern fĂŒr diesen Fall bereits in Aussicht gestellte RĂŒckeroberung der heute russischen Krim – was eine Direktkonfrontation von Nato- und Russland-Truppen bewirkt hĂ€tte. Sein Ziel dĂŒrfte nie die Einnahme des ganzen Landes gewesen sein, wie die Strategen des Westens behaupten, um ihre eigene Kriegstreiberei zu rechtfertigen. Putins Streitmacht war dafĂŒr zu klein, aber gross genug, um Selenskyj, was gelang, an den Verhandlungstisch zu zwingen. Die Ukraine sollte als neutraler Pufferstaat ihre Nato-Ambitionen aufgeben. Das zeigen die Verhandlungen von -Istanbul vom April 2022, in denen Putin der Regierung in Kiew so weit entgegenkam, dass er den Kompromiss monatelang vor seiner eigenen Bevölkerung verheimlichen musste.

Doch der Kremlherrscher unterschĂ€tzte die Entschlossenheit der Amerikaner, diesen Krieg als Anlass und die Ukraine als Vorschlaghammer einer strategischen SchwĂ€chung Russlands zu verwenden. Der US-Regierung war wohl auch die gedeihende eurasische Freundschaft zwischen EU-Deutschland und Russland plus Seidenstrasse-China ein Dorn im Auge. Zudem rechnete Putin kaum damit, dass sich die EuropĂ€er, selbst Frankreich und Deutschland, derart sklavisch der US-Interessenpolitik unterwerfen wĂŒrden.

Im Westen verschĂ€rften sich die Zeichen von Anfang an in Richtung Eskalation. Mittlerweile fordern Nato-Chef Jens Stoltenberg, Frankreichs PrĂ€sident Macron und Joe Biden, der Mann im Weissen Haus, die Ukraine möge mit West-Waffen Ziele auf russischem GelĂ€nde angreifen. Sie spielen damit dem ukrainischen Staatschef -Selenskyj in die Hand, der alles daransetzt, aus seiner verzweifelten Sicht verstĂ€ndlich, die Russen zu einer Überreaktion zu verleiten, auf dass die Nato dann endlich die ersehnten Bodentruppen sende. Putin seinerseits kĂŒndigt ernste Konsequenzen an.

Reiten uns Biden, Macron, Stoltenberg und Co. in einen dritten Weltkrieg? Die Schlafwandler des Westens, sofern sie wirklich nicht wissen, was sie tun, und ihre medialen UnterstĂŒtzer ĂŒbersehen, dass mit jeder weiteren Eskalation, die sie anfeuern, mit jeder weiteren Erhöhung des Drucks der Gegendruck steigt und damit die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass die Russen Atomwaffen einsetzen, um den Nato-Westen aus der eigenen, als existenziell empfundenen Sicherheitszone herauszudrĂ€ngen. Was dann folgt, wollen wir uns lieber nicht ausmalen. Aber sollten unsere Kriegstreiber im Westen tatsĂ€chlich zum Zug kommen, dĂŒrfte der Zweite Weltkrieg dagegen trotz seiner epochalen FĂŒrchterlichkeit verblassen. Wo bleiben die Realisten, die VernĂŒnftigen, die den Wahnsinn auf dem Verhandlungsweg stoppen? R. K.