Jeder Mensch muss
auf irgendeine Art glauben.

Joseph Ratzinger

 

Unsere Welt wirkt atemlos. Die Medien, die Politik, die Menschen stürzen von einem Extrem ins andere. Heute klammert man sich an dies, morgen an etwas anderes. Der Eindruck krankhafter Orientierungslosigkeit stellt sich ein. Ein Buchtitel aus den Neunzigern formuliert treffend das Gefühl: «Rasender Stillstand».

Bis vor kurzem konzentrierte sich die Aufmerksamkeit aufs Klima. Es galt, den Planeten vor seinem unwiderruflichen Untergang zu retten. Darauf folgte die Corona-Pandemie. Auf einmal sahen sich die Regierenden und die ihnen nachschreibenden Journalisten als Gralshüter des Lebens, als Päpste der Gesundheit, und wehe, jemand bezweifelte die Dogmen dieser neuen Kirche der Unfehlbarkeit.

Kaum war die Krankheitswelle überstanden, kam die nächste Hysterie. Plötzlich standen wir im Bann des «bösen Russen». Der Einmarsch von Präsident Putins Streitkräften in die Ukraine entfesselte auf der Gegenseite einen kollektiven Rausch aus Panik, Kriegstümelei und geschichtsvergessener Überheblichkeit. Man redete sich ein, das Schicksal des «Westens» entscheide sich in Kiew.

Gespenstisch rasch verflog auch dieses Fieber. Der Grund war ein fürchterlicher Terrorangriff auf Israel. Mit einem Schlag verlagerte sich das Interesse weg vom Osten Europas hin zum Nahen Osten, einem mythen- und religionsdurchtränkten Gelände, in dem sich die Menschen schon seit Tausenden von Jahren in immer neuen, uralten Konflikten zerfleischen.

Die Geisterbahnfahrten der letzten Jahre hatten alle etwas gemeinsam: Sie waren geprägt von einer Atmosphäre aggressiver Intoleranz auf Seiten von jenen, die die Wahrheit auf ihrer Seite glaubten, die ihre Überzeugungen mit dem herrischen Anspruch einer Religion verteidigten, so als ob ihre Existenz, ihre Identität von der Gültigkeit der jeweiligen Positionen abhing.

Kurzum: Die hier beobachtete Kurzatmigkeit, die Besinnungs- und Orientierungslosigkeit scheinen irgendwie ein Merkmal unserer Gegenwart zu sein. Und die Frage, die man sich stellen muss, lautet: Wie ist so etwas möglich, warum taumelt unsere Welt, weshalb klammern sich die Leute derart verbissen an all ihre rasant wechselnden Gewissheiten, so als ob es um ihr Leben ginge?

Ich kann mir nur einen Reim darauf machen, nur eine Erklärung finden: Unsere Welt hat den festen Boden unter den Füssen verloren. Es gibt keinen Halt mehr, die Verwurzelung ist weg. Es ist mehr als blosse Geschichtsblindheit oder Traditionsvergessenheit. Dahinter steckt der Verlust der Religion, des Glaubens. Deshalb rennen die Leute dauernd neuen, andern Ersatzgöttern hinterher.

Ohne das Christentum wird Europa untergehen. Die christliche Lehre ist die Grundlage von allem, was uns ausmacht. Ohne das Christentum gäbe es keine Renaissance, keine Französische Revolution, keine Demokratie und keine Menschenrechte. Es ist kein Zufall, dass die beiden Mörderideologien des 20. Jahrhunderts, National- und Internationalsozialismus, Gott für tot und überwunden hielten.

Wenn der Mensch nur sich als Mass aller Dinge duldet, nur das Materielle, Fabrizierte, Selbstgemachte als Wirklichkeit akzeptiert, ist er verloren. Denn alles, was der Mensch ist, entzieht sich diesem schalen, oberflächlichen Realitätszugang. Der Mensch, das Leben, alles, was ist – das ist mehr als eine blosse Ansammlung von Atomen. Am Ursprung von allem steht ein Rätsel, dem wir alles zu verdanken haben.

Jeder Mensch glaubt an irgendetwas. Der christliche Glaube formuliert den vielleicht kühnsten Sprung auf die Unendlichkeit hin, den die Menschen je gewagt haben. Die Idee eines Gottes, der seine Allmacht abgibt, um Mensch zu werden und am Kreuz den damals verwerflichsten aller Tode zu sterben, ist eine gewaltige Botschaft, eine Weltrevolution des Geistes, die bis heute wirkt.

Der Mensch neigt dazu, die Macht, das Geld, sich selber zu vergöttern. Das Christentum fordert das Gegenteil, ist in seiner Essenz eine Absage an die Vergötterung der Macht. Entthront die falschen Götzen, tanzt nicht ums Goldene Kalb herum! So formuliert es sinngemäss der Zürcher Philosoph Helmut Holzhey. Das ist die zentrale Botschaft. Die Kirchen haben sie vergessen.

Geht der Standboden verloren, das Vertrauen in die Wirklichkeit des Unsichtbaren, ist der Mensch verloren, wird er zur Beute jener fiebrigen Moden, jener schrillen Beliebigkeiten, die ihn heute umpeitschen. Die Entmachtung des Religiösen führt direkt zur Allmacht der Politik, zum Ende der Freiheit, zur Verwüstung unserer Seelen.

Wir müssen das Christentum wieder entdecken, freilegen, nicht als Stützkrücke einer frömmlerischen Moral oder als Billigticket zum Seelenheil. Es geht um mehr. Im reinen Diesseits wird Europa seinen Halt nicht finden, und ohne unser Fundament gerät, wie heute, alles aus den Fugen. Die geschichtsblinde Egozentrik der Gegenwart bringt den Absturz ins Nichts. In jeder Hinsicht.

Doch ich bleibe zuversichtlich. Allein die Tatsache, dass einer wie ich, der nie viel auf religiöse Fragen gab, sich auf einmal behelligt, regelrecht angegriffen fühlt von der Frage nach dem Ewigen und dessen Hineinragen in die Gegenwart, werte ich als Indiz dafür, dass ich vielleicht nicht der Einzige bin, der etwas vermisst, dem etwas fehlt, ohne das unsere Welt nicht bestehen kann.

Die Kirchen leeren sich. Nicht die Missbrauchsfälle sind der eigentliche Grund. Die Menschen wenden sich ab, weil die Kirchen versagen, weil sie den gleichen falschen Göttern, der totalen Verweltlichung huldigen, die wir in der Raserei der Schlagzeilen erleben. Aber vielleicht ist der Exodus am Ende segensreich. Es braucht nicht viele, um die Umkehr einzuleiten. Manchmal reicht ein Einziger.