Deutschland wird vorerst keine Marschflugkörper gegen Russland zur Verfügung stellen. Offenbar hat der vielkritisierte SPD-Kanzler Olaf Scholz sein Veto eingelegt. Damit verhinderte er, dass sich die Bundesrepublik immer tiefer in den Ukraine-Krieg verstrickt. Denn mit dem Taurus hätten auch deutsche Experten mitgeliefert werden müssen, um die anspruchsvolle Waffe zu bedienen. Ohne das Nein von Scholz wären 79 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten im Feld gestanden gegen Russland.

Interessant ist, dass selbst Schweizer Zeitungen wie die NZZ von einer «befremdlichen» Haltung der Sozialdemokraten sprechen. Auch die meisten deutschen Zeitungen sind für den Taurus, Kriegsantreiber aus der gesicherten Deckung des eigenen Schreibtischs. In der Bundestagsdebatte machten CDU, FDP und Grüne für den Marschflugkörper Druck. In einem Interview hatte der CDU-Militärsprecher Roderich Kiesewetter auf die ihm eigene Weise sogar ausdrücklich gefordert, den «Krieg nach Russland» zu tragen, «Ölraffinerien, Ministerien und Armee-Stützpunkte» anzugreifen.

Das sind schon spektakuläre Töne aus Deutschland, wenn man bedenkt, dass die deutsche Wehrmacht und nationalsozialistische «Sonderkommandos» noch vor wenigen Jahrzehnten einen erbarmungslosen Vernichtungskrieg gegen Russland führten, Massengräber aushoben, Zivilisten massakrierten und im Zuge des Ostfeldzugs schliesslich auch Ernst machten mit ihrer Drohung, das jüdische Volk auszurotten. Es war Stalins Rote Armee, die in Stalingrad und Kursk der deutschen Militärmacht das Rückgrat brach mit unvorstellbaren eigenen Opfern, deren Zahl bis Kriegsende auf über zwanzig Millionen stieg, ein Blutzoll, der um ein Vielfaches übertraf, was die Amerikaner, Briten und Franzosen von Westen her aufzubieten hatten.

Oft ist in Berlin von der «historischen Verantwortung» die Rede. Der hehre Anspruch allerdings scheint sich nicht auf die von den Deutschen so brutal misshandelten Russen zu beziehen. Fast so, als ob sie diese Erinnerungen betäuben, aus ihrem Gedankenspeicher löschen, überdröhnen wollen, schwelgen die einschlägigen Politiker und Meinungsmacher in der Dämonisierung des heutigen russischen Regimes. Putin hat inzwischen den Status eines Ersatzteufels eingenommen, nur noch knapp, wenn überhaupt, hinter Hitler. Mit der jeder geschichtlichen Erkenntnis trotzenden Verketzerung sollen alle Zweifel beseitigt, jeder Widerspruch entkräftet, jede Diskussion verhindert werden. Medien und Politik beschwören so, sich wechselseitig verstärkend, eine Stimmung absoluter Unzweideutigkeit herauf, in der sich am Ende schon gar niemand mehr auch nur trauen soll, die Stimme dagegen zu erheben.

Deshalb erfährt man in Deutschland nur wenig oder kaum, wie sich der Krieg in der Ukraine tatsächlich entwickelt. Die grossen Medienhäuser versuchen fast krampfhaft, den Eindruck zu erwecken, die Ukraine könne die Russen militärisch noch besiegen, es brauche nur einfach noch mehr Waffen und Geld aus dem Westen. Die Realität zeigt ein anderes Bild: Nach dem Fehlschlag der grossangekündigten Sommeroffensive ging nun auch die Schlacht um den strategisch wichtigen Stützpunkt Awdijiwka für die Ukraine offenbar in einem blutigen Debakel zu Ende. Präsident Selenskyjs Haltebefehle erwiesen sich als sinnlos, als für die eigenen Truppen extrem tödlich und insofern vielleicht auch als verbrecherisch. Seine protestierende Armeeführung entliess er kurzerhand. Unsere Medien spielen es nach Kräften herunter.

Wie lange noch wollen sie es in Berlin verdrängen? Die Strategie des Westens gegen Russland ist gescheitert. Die Wirtschaftssanktionen haben Russland nicht geschwächt, sondern Europa, insbesondere Deutschland. Militärisch setzt sich die massive Übermacht der Russen allmählich durch. Das ist kein Wunder. Im Krieg gewinnt meistens das Land, das mehr Menschen, mehr Material und mehr industrielle Kapazität investieren kann. Inzwischen produziert die russische Kriegsindustrie mehr Munition als alle Staaten des Westens zusammen. Selenskyj wiederum fällt es immer schwerer, seine ausgebluteten Reihen zu füllen. Die jungen Leute verstecken sich, verlassen das Land. Für den Kriegsdienst ziehen die Behörden inzwischen die über Fünfzigjährigen ein.

Es wäre die vernünftigste und auch humanste Lösung, würden die Amerikaner ihren durch die westlichen Ermutigungen und Beweihräucherungen übermütig, vielleicht auch etwas grössenwahnsinnig gewordenen Präsidenten in Kiew überreden, auf die Verhandlungsangebote Putins einzusteigen. Doch die westlichen Politiker haben sich in ihrer Dämonisierung des Kremlchefs derart verrannt, dass es ihnen Mühe zu bereiten scheint, aus der eigenen Propaganda auszusteigen. Anstatt auf kühle Berechnungen, treiben im Westen Gefühle des Hasses und der moralischen Überheblichkeit die Politik. Man ergötzt sich geradezu an Vorstellungen der eigenen Vortrefflichkeit, die umso vortrefflicher erscheint, als man den Gegner auf das Unerbittlichste verteufelt.

Dabei sind einige Regierungen im Westen im Begriff, selber die Freiheit mit Füssen zu treten. Russland ist von jeher ein autoritär geführter Staat, und Regimekritiker landen schnell mal im Gefängnis oder werden beseitigt. Ohne alles in den gleichen Topf zu werfen, darf man feststellen, dass sich der Westen im Quervergleich auch nicht allzu blütenrein ausnimmt. Die Amerikaner zögern keine Sekunde, Länder anzugreifen, die sie als Bedrohung empfinden (Irak). Sie unterhalten Straflager wie Guantanamo, in denen Häftlinge gefoltert werden. Der australische Journalist Julian Assange mag kein Nawalny sein, aber auch er schmort seit Jahren unter zweifelhaften Gründen in einem englischen Hochsicherheitsgefängnis. Die Amerikaner wollen ihn für 175 Jahre hinter Gitter bringen, weil er US-Kriegsverbrechen im Nahen Osten aufzudecken half und damit amerikanische Menschenleben gefährdet habe.

Sollten die USA mit ihrer Anklage durchkommen, steht künftig wohl jeder Journalist mit einem Bein im Gefängnis, der es wagen sollte, die Amerikaner in ihren Kriegen zu kritisieren. Kurzum: Alle Grossmächte haben ihre dunklen Seiten. Wir aber sollten uns nicht selektiv darin verbeissen, sondern alles daransetzen, Kriege zu verhindern oder zu beenden. Vielleicht ist das Scholz-Veto gegen den Taurus ein erster kleiner Schritt zurück zur friedlichen Vernunft.