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Der Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) hat eine grandiose Fähigkeit: Er kann mit harter Artikulation und präzise gesetzten Pausen sprechen, als wäre jedes seiner Worte in Stein gemeisselt und gelte bis zum jüngsten Tag.

Der gewählte Kanzleranwärter Friedrich Merz hat einen riesigen Nachteil: Er konnte im Wahlkampf mit harter Artikulation und präzise gesetzten Pausen sprechen, als wäre jedes seiner Worte in Stein gemeisselt und gelte bis zum jüngsten Tag.

Nach dem Anschlag von Aschaffenburg zum Beispiel sagte Merz: «Es wird ein faktisches Einreiseverbot in die Bundesrepublik Deutschland für alle geben, die nicht über gültige Einreisedokumente verfügen […]. Das gilt ausdrücklich auch für Personen mit Schutzanspruch.»

Gestern, einen Tag nach der Wahl, sagte Merz mit der gleichen Diktion: «Ich will auch noch mal sehr deutlich sagen: Niemand von uns spricht über Grenzschliessungen. Niemand. Niemand von uns will die Grenzen schliessen.»

Nicht nur in den Reihen der Reporter sahen sich viele verwundert an, auch im Netz explodierten die Kommentarspalten.

Schliesslich hatte Merz’ Sprecher Hero Warrings während des Wahlkampfs noch jede Nachfrage, ob der CDU-Chef denn dabei bleibe, dass er am ersten Tag seiner Kanzlerschaft seinen Forderungskatalog umsetzen werde, mit einem klaren Ja beantwortet, und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hatte auf Welt TV noch hinzugefügt, dass es eben keine Regierung gebe, wenn da ein möglicher Partner nicht mitziehe.

Schnee von gestern.

Nicht weniger überrascht waren die Medienleute, als Merz in der gleichen Pressekonferenz auf eine Frage, ob denn die Schuldenbremse auch für Rüstungsprojekte und die Ukraine-Hilfe gelte, antwortete: «Unsere Überlegungen dazu sind nicht abgeschlossen. Ich will zunächst erst einmal die Einschätzungen dazu der Sozialdemokraten, der Grünen und der FDP hören, bevor wir hier zu Entscheidungen kommen. Wir wissen alle, dass die Bundeswehr in den nächsten Jahren sehr viel mehr Geld braucht. Wie wir das organisieren, darüber müssen wir sprechen.»

Wie bitte?

Anstatt wenige Stunden nach der Wahl erst einmal das unter anständigen und verlässlichen Leuten Übliche zu sagen, dass man selbstverständlich ­– wie im Wahlkampf immer wieder bekräftigt ­– an den Versprechen festhalte, will Merz nun auch noch mit den Vertretern der abgewählten Ampel darüber reden, wie man sich da verhalten sollte …

Mit beiläufiger Selbstverständlichkeit parliert der designierte Kanzler darüber, dass er mit seinen heftigsten Widersachern jetzt in eine Plauderei darüber eintreten werde, ob er seine Wahlversprechen einhalte oder einfach mal pragmatisch fallen lasse. Grundsätzlich teile er natürlich die Ansicht, dass die Politik mit dem vorhandenen Geld auskommen müsse, wolle aber noch mal reden.

Was schert mich die Stimmung im Lande?

Es ist die erstaunliche Selbstsicherheit, mit der Merz schon im Wahlkampf davon sprach, was er als Kanzler tun werde, die schon damals immer ein wenig so klang, als sei die Wahl im Grunde eine Art Nebensache, weil die Dinge ja ohnehin auf ihn zuliefen. Nun fühlt er sich schon offensichtlich so klar als Kanzler, dass ihm die Sensibilitäten einer tief gespaltenen Öffentlichkeit keine Beachtung mehr wert sind.

Sprunghaftigkeit und einsame Entscheidungen, die bisher nur nahe Mitarbeiter beklagten, werden jetzt zum Gegenstand allgemeiner Betrachtung auf offener Bühne, mit dem Gewicht des künftigen Amtes zu einem heiklen Politikum.

Auch dass Merz noch am Wahlabend in der «Berliner Runde» eine traditionelle Linie transatlantischer Aussenpolitik über den Haufen warf, wonach man auf jeden Fall Europa und die USA beisammenhalten müsse, hat in politischen Kreisen viele verstört. Merz: «Und für mich wird absolute Priorität haben, so schnell wie möglich Europa so zu stärken, dass wir Schritt für Schritt auch wirklich Unabhängigkeit erreichen von den USA.» Der langjährige Chef der Atlantik-Brücke erklärt die Abkopplung von den Vereinigten Staaten zum Projekt besonderer Dringlichkeit.

Merz gefällt sich sichtlich in der Rolle des Kanzlers, die er noch gar nicht hat, aber ganz offensichtlich für höchst angemessen hält. Dieses Schweben im (fast) Angekommensein seines politischen Lebenstraums verleitet ganz offensichtlich zu Geringschätzung für die Stimmungen im Lande und zum Hinweggehen über Empfindlichkeiten des Publikums.

In einer Situation, in der die Union noch nach dem Ende der Ampel drei Prozentpunkte verloren hat und es mit einiger Mühe geschafft hat, vier Punkte mehr zu bekommen als beim Laschet-Desaster 2021, in einer solchen Situation wäre zumindest ein erkennbares Bemühen zum Einhalten von Wahlversprechen eine schöne Geste, wenn man als Union bei nächster Gelegenheit nicht komplett untergehen will.

Es gilt die alte Weisheit: Hochmut kommt vor dem Fall. Und wenn man nicht aufpasst, kommt der Fall womöglich sogar noch vor dem Kanzleramt.

Denn noch hat Friedrich Merz die SPD nicht in der Tasche und den Amtseid nicht gesprochen. Sollte er diese programmatische Nonchalance nicht ablegen, dürften die Koalitionsverhandlungen schwer und die Duldsamkeit der eigenen Partei auf eine harte Probe gestellt werden.

Ralf Schuler war mehr als zehn Jahre Leiter der Parlamentsredaktion von Bild und ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS. Er betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein neues Buch „Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens“ ist im Fontis Verlag, Basel erschienen.