Deutschland ist ein Land der Moralapostel.

Diese Bewahrer von Sitte, Anstand und gutem Lebenswandel, die in den Redaktionsstuben und bei den Parteien hocken, haben im Nahkampf mit Robert Habeck dessen Staatssekretär Patrick Graichen zu Fall gebracht.

Ihr Vorwurf lautet schwer: Vetternwirtschaft.

Graichen hat mit Schwager und Schwester Geschäfte gemacht. Kaum ist er darüber ins Aus geschubst, treten die Moralisierer hinterher: Jetzt, so recherchieren sie messerscharf, erhält Graichen auch noch ein Ruhestandsgeld. Ein paar hunderttausend Euro kommen bis ans Lebensende zusammen.

Die Realität im Land des Mittelstands und der Familienunternehmen sieht so aus: Ob in der Wirtschaft, in der Politik, der Kultur oder den Medien – jeder lebt von seinem Netzwerk. Family and friends, Empfehlung statt Ausschreibung, eine Hand wäscht die andere, es ist der menschliche Faktor. Und wer ihn noch nicht eingesetzt oder davon profitiert hat, werfe den ersten Stein.

Standard im Unternehmer-Small-Talk ist auch der Spott über Gehälter in der Politik. Führungskräfte in Konzernen verdienen ein Vielfaches von dem, was sie in der Politik erreichen könnten, bei etwa gleicher Arbeitsbelastung. Die dreimonatige Fortzahlung der vollen Bezüge von rund 15.000 Euro, die Patrick Graichen erhält, entspricht exakt der dreimonatigen Kündigungsfrist, wie sie in Unternehmen Mindeststandard ist. Seine Pension hat sich der langjährige Beamte erworben, und über sonstige Ansprüche können jene Manager, die mit einem goldenen Handschlag nach Hause gehen, auch wenn sie Millionenwerte ihre Aktionäre vernichtet haben, nur lächeln.

Natürlich: Im Fall Graichen passiert das alles mit Steuergeld. Und natürlich: Der Mann hat Fehler gemacht.

Aber bitte: Schieben wir die Kirche wieder ins Dorf.

Graichen ist Geschichte. Es geht jetzt um Robert Habeck.