Ein Gerücht geht um in Europa: Nach unbestätigten Berichten könnte es sein, dass auch in Polen und Ungarn menschliche Wesen leben. Verwegene These. Muss aber unter uns bleiben.
Dass beide Länder ohne grosses Aufsehen Hunderttausende Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen und versorgen, nimmt man im Rest des Kontinents nur zögernd und ein wenig ungläubig zur Kenntnis. Während die hauptberuflichen Moral-Inhaber hierzulande noch mit Logistik und Organisation zur Aufnahme der Ukrainer ringen, haben die finsteren Reiche der Orbanisten und Rechtsstaatsrüpel über Nacht Hilfe und Betreuung organisiert. Einfach so, einfach menschlich.
Was viele in Europa ausblenden: Polen, Ungarn, Slowakei, Litauen, Rumänien, Moldau haben eine tief verflochtene Geschichte, sind seit langem Vielvölkerstaaten mit ethnischen Minder- und Mehrheiten jenseits staatlicher Grenzen. Sie wehren sich gegen Migrationsströme, die andere in Westeuropa auslösen, haben aber für die Schicksale ihrer Nachbarn ein genauso grosses Herz wie der Rest Europas.
Nach dem heiligen Antoine de Saint-Exupéry sieht man nur mit dem Herzen gut. Manchmal sind auch die Augen hilfreich. Und ein wenig Erinnerung, wenn man in Brüssel demnächst mal wieder zur grossen Belehrung ansetzen wird.
Ralf Schuler ist Leiter der Parlamentsredaktion der Bild-Zeitung
Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.
Auch bei uns in der Schweiz gedeihen Moralin und Bürokratie prächtig!
Herr Schuler: Kompliment für Ihre beherzten Worte! Gewiss, weder Ungarn noch Polen sind 'lupenrein' bezüglich ihrer tragischen Verwicklungen in Vergangenheit und Gegenwart. Hier wird indessen schlichtweg menschlich gehandelt. Nicht mehr und nicht weniger. Ob die beiden Staatspräsidenten nun ihr löbliches Verhalten nicht doch politisch auszunutzen Gedenken, bzw. in die Waagschale zugunsten ihres angekratzten Images werfen, nun, den geholfenen Flüchtlingen mag dies zur Zeit so etwas von egal sein!
Die Belehrungen waren aber nicht nur wegen Flüchtlingen. Polen und Ungarn bewegen sich Richtung Autokratie. Sie tun das, was Putin ab ca. 2007 tat. Sie unterdrücken die Opposition, schränken die Meinungsfreiheit und die Presse ein und rütteln an der Unabhängigkeit der Gerichte. Alles Dinge, die es Putin getan hat, um sich als Autokraten zu installieren. Natürlich sind die Ausmasse relativ harmlos verglichen mit Putin jetzt. Aber die Tendenz ist bedenklich.