Dieser Text erschien zuerst auf dem Onlineportal Globalbridge.

«Deutschland hat Russland den Krieg erklärt – Nachmittag Schwimmschule.»
(Franz Kafka am 2. August 1914 in seinem Tagebuch)

Ein kleiner ernstgemeinter Hinweis im Sinne des Eingangszitats: Bitte notieren Sie unbedingt, was Sie am Freitag, den 31. Mai 2024, getan haben, damit Sie antworten können, wenn Ihr Enkel Ihnen in einigen Jahrzehnten die entsprechende Frage stellen wird! (Und das ist noch eine vergleichsweise «moderate» Zukunftsoption …)

Wir schlafwandeln auch

In der Retrospektive kommen wir uns alle so schlau vor. Fassungslos schütteln wir den Kopf, wenn wir sehen, mit welcher Euphorie die jungen Männer aller europäischen Staaten, flankiert von einer kriegstrunkenen Bevölkerung, vor genau 110 Jahren in ein Gemetzel zogen, das sich wenig später als die «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» erweisen sollte. Es erscheint uns absurd, dass jemand wie Franz Kafka am 2. August 1914 in seinem Tagebuch diese Urkatastrophe im selben Atemzug mit den banalsten Alltagsaktivitäten notierte. Wir bekommen den Mund nicht zu, wenn wir sehen, wie ein brüllender Kretin später in den zwanziger und dreissiger Jahren grosse Teile eines ganzen Volkes in seinen Bann ziehen konnte.

Und wir verehren umgekehrt einen Mann wie Karl Liebknecht, der am 2. Dezember 1914 als einziger Reichstagsabgeordneter den Mut hatte, gegen die Bewilligung des milliardenschweren Sondervermögens zur Kriegsfinanzierung zu stimmen. (Sein Engagement gegen den Krieg brachte ihm eine mehrjährige Zuchthausstrafe ein.)

«Wie fahrlässig, wie dumm die meisten Menschen damals doch waren!» So denkt es unterschwellig in einem. Und noch etwas tiefer, aber gerade noch vernehmbar: «So etwas könnte uns, könnte mir heute nicht passieren!»

Wirklich? Die platte Wahrheit lautet: Hinterher ist man immer schlauer! Nur halt nicht in der Gegenwart.

In Wirklichkeit geht es uns genauso wie den Generälen, die bei der Planung des kommenden Krieges auf keinen Fall die Fehler des letzten wiederholen wollen – und damit gleich den nächsten Fehler begehen!

Kurz: Wir schlafwandeln auch. Nur anders.

«Es ging um keine Ideen …»

Aber schauen wir zunächst noch einmal zurück in die Monate vor dem August 1914, wie sie uns Stefan Zweig in seinem Buch «Die Welt von Gestern» in der Retrospektive so plastisch vor Augen führt: «Wenn man heute ruhig überlegend sich fragt, warum Europa damals in den Krieg ging, findet man keinen einzigen Grund vernünftiger Art und nicht einmal einen Anlass. Es ging um keine Ideen, es ging kaum um die kleinen Grenzbezirke; ich weiss es nicht anders zu erklären als mit diesem Überschuss an Kraft, als tragische Folge jenes inneren Dynamismus, der sich in diesen vierzig Jahren aufgehäuft hatte und sich gewaltsam entladen wollte. Jeder Staat hatte plötzlich das Gefühl, stark zu sein, und vergass, dass der andere genauso empfand, jeder wollte noch mehr und jeder etwas von dem andern. Und das Schlimmste war, dass gerade jenes Gefühl uns betrog, das wir am meisten liebten: unser gemeinsamer Optimismus. Denn jeder glaubte, in letzter Minute werde der andere doch zurückschrecken; so begannen die Diplomaten ihr Spiel des gegenseitigen Bluffens. In Deutschland wurde eine Kriegssteuer eingeführt mitten im Frieden, in Frankreich die Dienstzeit verlängert; schliesslich musste sich die Überkraft entladen, und die Wetterzeichen am Balkan zeigten die Richtung, von der die Wolken sich schon Europa näherten.

Es war noch keine Panik, aber doch eine ständig schwelende Unruhe; immer fühlten wir ein leises Unbehagen, wenn vom Balkan her die Schüsse knatterten. Sollte wirklich der Krieg uns überfallen, ohne dass wir es wussten, warum und wozu? Langsam – allzu langsam, allzu zaghaft, wie wir heute wissen! – sammelten sich die Gegenkräfte. Die Haltung der meisten Intellektuellen war leider eine gleichgültig passive, denn dank unserem Optimismus war das Problem des Krieges mit all seinen moralischen Konsequenzen noch gar nicht in unseren inneren Gesichtkreis getreten. Wir glaubten genug zu tun, wenn wir europäisch dachten und international uns verbrüderten. Und gerade die neue Generation war es, die am stärksten dieser europäischen Idee anhing. Wir waren überzeugt, dass die geistige, die moralische Kraft Europas sich triumphierend bekunden würde im letzten kritischen Augenblick. Und dann: Was uns fehlte, war ein Organisator, der die in uns latenten Kräfte zielbewusst zusammenfasste.»

Der Rubikon

In den vergangenen Tagen hat der Westen – haben USA, Nato und seit letztem Freitag auch Deutschland – den Rubikon womöglich überschritten. Mit der nun auch offiziellen Genehmigung an die Ukraine, mittels weitreichender westlicher Waffensysteme – natürlich, wie es als Feigenblatt lautet, «nur zur Selbstverteidigung!» – russisches Territorium zu attackieren (was wohl auch die Freigabe entsprechender Zieldaten impliziert) und der parallelen Diskussion, Nato-Truppen in das ukrainische Kriegsgebiet zu entsenden, hat die Eskalationsspirale im Ukraine-Krieg eine neue brandgefährliche Umdrehung erreicht, die sehr leicht eine nicht mehr zu stoppenden Eigendynamik auslösen und im schlimmsten Falle sämtliche Akteure in den Abgrund ziehen könnte. Mit anderen Worten: Wir haben der Ukraine einen Blankoscheck ausgestellt für Operationen, die wir im Worst Case alle mit unserem Leben bezahlen werden!

Bislang hatte US-Präsident Joe Biden genau diesen Schritt tunlichst vermieden, und zwar mit der expliziten Begründung, «einen dritten Weltkrieg zu vermeiden». Noch im Oktober 2022 hatte er vor einem «nuklearen Armageddon» gewarnt. Angeheizt hatten die jüngste Debatte Bidens Aussenminister Antony Blinken, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sowie die üblichen forschen Politiker und Medien in den Nato-Staaten, die seit Kriegsbeginn den Hals nicht vollkriegen.

Die implizite tollkühne Logik des Westens war die seit Jahren, Jahrzehnten übliche: «Bislang hat Putin unser schrittweises Überschreiten sämtlicher russischen roten Linien stets stillschweigend hingenommen. Ergo können wir fröhlich weitereskalieren. Ist ja bis jetzt noch immer alles gut gegangen!» – Stimmt nicht: Es ist schon einmal, eben mit der Invasion russischer Truppen in die Ukraine vom 24. Februar 2022, dramatisch schiefgegangen! In der Vorkriegszeit hatte der Westen das gleiche Katz-und-Maus-Spiel mit den russischen Sicherheitsinteressen gespielt – bis es zu spät war.

Letzten Freitag, den 31. Mai 2024 – man sollte sich dieses wahrscheinlich geschichtsträchtige Datum unbedingt merken – kippte denn auch Bundeskanzler Scholz (wie üblich nach einigem Zögern) mal wieder um. Russland darf also nun ganz offiziell auch mit deutschen Waffen auf seinem Territorium angegriffen werden! Wie lange wird es dauern, bis Scholz – wie seit Monaten von der Opposition, namhaften Vertretern der Regierungskoalition und nahezu allen Leitmedien in ohrenbetäubendem Dauerstaccato gefordert – auch noch dem Einsatz deutscher Taurus-Marschflugkörper sein placet erteilen wird? Mit diesem System wäre die Ukraine, die in den letzten Tagen bereits Module des russischen Raketenabwehrsystems mit Drohnen beschossen und damit nichts weniger als die globale Sicherheitsarchitektur angegriffen hat, nicht nur in der Lage, die Krim-Brücke zu attackieren. Sie könnte nun – wie bereits Ende 2022 auf dem russischen Atomwaffenstützpunkt in Engels an der Wolga, damals «nur» mit Drohnen – mittels dieses höchsteffektiven Waffensystems auch russische Atomwaffendepots mit unabsehbaren Folgen in die Luft jagen, ja sogar den Kreml pulverisieren …

Wie diese Option an diesem Ort aufgenommen werden wird, das kann jeder, der sich das selbständige Denken noch nicht systematisch abtrainiert hat, an fünf Fingern abzählen! Das uns als Valiumpille verabreichte Faseln vom Völkerrecht, das den Einsatz zur Selbstverteidigung angeblich erlaubt, ist vollkommen irrelevant. Entscheidend einzig und allein ist, wie Russland das sieht – denn genau so wird es sich verhalten!

Laut General a. D. Harald Kujat, in den nuller Jahren ranghöchster Offizier der Nato, ist die aktuelle Situation mittlerweile gefährlicher als die Kubakrise. Eine Einschätzung, die er noch vor dem jüngsten Umkippen unseres Kanzlers geäussert hatte … Und so drängen sich allen, die sich im Interesse des Weltfriedens, nein: unser aller Weiterlebens, das bequeme aber feige Wegschauen verbieten, folgende alarmierende Fragen auf:

Was, wenn diese waghalsige Entwicklung früher oder später allen Akteuren entgleitet?

Wenn dieser Krieg zu einem direkten Konflikt zwischen Nato und Russland eskaliert?

Wenn er sich auf ganz Europa, womöglich noch darüber hinaus, ausweitet?

Wenn – analog zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges – als Resultante dieses unübersehbaren «Kräfteparallelogramms» etwas herauskommt, zu dem alle beigetragen haben, das aber so niemand gewollt hat?

Der Dritte Weltkrieg könnte als «zweiter Erster Weltkrieg» beginnen.

Meine Schwimmschule

Heute schreiben wir Samstag, den 1. Juni 2024 – «Tag eins» nach der «Schicksals»-Entscheidung, die uns womöglich endgültig in die «Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts» hineinziehen wird.

Gestern hatte ich zur Abwechselung mal länger ausgeschlafen. Der Vorabend, zufälligerweise eine Friedensveranstaltung in Bremen, war spät geworden. Nach einem ausführlichen Frühstück rief ich meine Schwester an, um ihr zum 67. Geburtstag zu gratulieren. Am frühen Nachmittag im Zug – wieder nach Bremen auf dem Weg zu einer Europawahl-Kundgebung der einzigen deutschen Partei, die sich ohne Wenn und Aber für ein sofortiges Schweigen der Waffen im Ukrainekrieg einsetzt – ereilte mich die Mail eines guten Freundes: «Ich bin gerade etwas in Schockstarre über die deutsche Entscheidung». Ich musste erst einmal im Netz recherchieren, was er denn meinte …

Später, nach der Rede von Sahra Wagenknecht, zog es mich vom Domplatz zur nahegelegenen Manufactum-Filiale, wo ich mir zwei hochwertige bretonische Matrosenshirts gönnte, bevor ich mich noch im hauseigenen Café mit einem Espresso samt französischem Mandelcroissant stärkte.

Der heutige Samstag: Ganz Oldenburg, seit viereinhalb Jahrzehnten meine Wahlheimat, ist auf den Beinen. Die Fussgängerzone platzt vor Einkäufern aus allen Nähten. Die Restaurants am Hafen sind gut frequentiert, die meisten Besucher sonnen sich draussen am Wasser. Überall Menschen auf Fahrrädern oder E-Scootern, die endlich mal wieder kilometerweite Touren ins Umland unternehmen wollen.

Alle geniessen sichtlich den milden Spätfrühlingstag, der Winter war diesmal lang.

Der strahlendste und schönste Sommer seit Menschengedenken

«Diesen Sommer werden diejenigen, die ihn hier verlebten, als den strahlendsten und schönsten Sommer seit Menschengedenken in Erinnerung behalten, denn in ihrem Bewusstsein glänzt und leuchtet er vor dem gewaltigen und düsteren Horizont des Leides und Unglücks, der sich bis ins Unabsehbare erstreckt. Die Pflaumenbäume trugen Früchte wie seit langem nicht, und das Getreide stand gut.

Es kam ein solches Ausnahmejahr mit einem besonders glücklichen und günstigen Zusammenwirken von Sonnenwärme und Erdfeuchte, als dieses breite Tal vor Überfluss an Kraft und allgemeinem Bedürfnis, Frucht zu tragen, erbebte. Die Erde schwoll an, und alles, was in ihr noch lebte, keimte, trieb Knospen, setzte Blätter an, blühte und trug hundertfache Frucht. Man sah förmlich diesen Hauch der Fruchtbarkeit, wie er als warmer bläulicher Dunst über jeder Furche und Scholle zitterte. Die Kühe und Ziegen schlugen mit den Hinterbeinen aus und gingen schwer vor strotzenden und prallen Eutern. Die Weissfische, die jedes Jahr mit Beginn des Sommers in Schwärmen den kleinen Fluss herabkommen, um an seiner Mündung zu laichen, traten in solchen Mengen auf, dass die Kinder sie aus den Untiefen mit kleinen Eimern einfingen und auf dem Ufer ausschütteten. Auch der poröse Stein der Brücke sog sich voll und schwoll an, wie lebend, durch die Kraft und den Überfluss, die aus der Erde strömten und über der ganzen Stadt wie eine freudige Wärme schwebten, in der alles schneller atmete und lebhafter wucherte.»

Diese Sätze stammen aus dem grossartigen Roman «Die Brücke über die Drina – Eine Chronik von Višegrad» («На Дрини ћуприја») des jugoslawischen Schriftstellers, Diplomaten und Politikers, des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić.

Die Rede war vom Sommer 1914.