Wenn Fernsehsender ihr Programm wegen einer Todesnachricht unterbrechen, muss es ein ganz spezielles Ereignis sein. Martin Walser gehört zu den wenigen, dessen Ableben selbst bei Nichtlesern eine Reaktion auslöste und eine ganze Nation für einen kurzen Moment in Schockstarre versetzte. So auch am vergangenen Freitag.
Dass Walsers wirklicher Tod zwei Tage früher erfolgte und sein Ableben vor der familiären Bestattung bekannt wurde, ist nachträglich unwesentlich. Walser ist ein deutsches Monument und war eigentlich immer da.
Seit den fünfziger Jahren war der Verstorbene eine öffentliche Figur und hat neben seinem gigantischen literarischen Werk, das sich mit den grossen Amerikanern John Updike oder Philip Roth messen kann, auch den öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik massgeblich geprägt.
In Walsers Schreiben spiegelt sich nicht nur Deutschland und ihr Personal mit all ihren Anti-Helden wider, er hat – und das noch mehr – mit seiner Schreibe und Präsenz das Bewusstsein einer ganzen Nation wesentlich mitbeeinflusst. Das ist das Höchste, was ein Intellektueller erreichen kann.
Sei es als Sympathisant der Deutschen Kommunistischen Partei und vehementer Gegner des Vietnamkriegs in den Sechzigerjahren, Befürworter einer deutschen Wiedervereinigung in den Siebzigerjahren oder der Umgang mit der deutschen Schuld – Stichwort «Moralkeule». Gerade letzteres trug Walser harsche Kritik ein. Die Walser-Bubis-Kontroverse (1998) und der Reich-Ranicki-Roman «Tod eines Kritikers» (2002) führten zu landeweiten, erbitterten Debatten, die die Bundesrepublik in ihrer DNA berührten.
Doch Walser fühlte sich oftmals missverstanden und entschuldigte sich später sogar für seine Wortwahl. Hatte er nicht als einer der ersten deutschen Autoren über die Gräuel des Holocausts berichtet?
Ich selbst lernte einen völlig anderen Walser kennen. Einen privaten und äusserst grossherzigen Menschen. Zusammen mit meinem Freund Manfred Klemann hatten wir 1998 unser Weltreisebuch «Die ganze Welt – Karten an Martin Walser» publiziert, in welchem wir Postkarten abdruckten, die wir von einer dreiwöchigen Schnellst-Weltreise unbekannterweise dem Grossschriftsteller sandten.
Damit wollen wir ihm zeigen, dass die Welt grösser sei als der Bodensee. Walser reagierte souverän und mit unerwarteter Heiterkeit, anstatt uns zu verklagen, bezeichnete er unser Buch im Stern als «literarisches Ereignis» und lobte dessen Leichtigkeit. «Besser chönnt er nie meh wärde», sagte er.
An einer gemeinsamen Lesung am 1. August 1998 im baden-württembergischen Öhningen las er vor rund 500 Besuchern unsere Ansichtskarten vor. Das war der Beginn einer tollen Freundschaft, die bis zu seinem Tod vergangene Woche andauerte. Mehr kann einem als Leser nicht passieren.
Walser ging es wie Grass, er war auf den deutschen Olymp gestellt worden. In den Feuilletons sind sie zuhause, oft besprochen. Doch wer hat diese Götter gelesen? Gelesen wurde Konsalik. William Hegner, einer der meistgelesenen Autoren der USA, häufig übersetzt, schrieb dreissig Bücher. Gesamtauflage weit über 10 Millionen Exemplare. Er wurde nie im Feuilleton besprochen. Er schrieb für Playboy Paperbacks. Walser hat seinen Platz auf dem deutschen Olymp.
Es scheint sich bei den bisherigen Kommentatoren um literarisch weitgehend ungebildete Naturen zu handeln. Schade. Aber die muß es scheinbar auch geben.
Allein -- wo war er während Corona?