Mehr Gemeinsamkeit», «mehr Zusammenhalt», «endlich wieder zusammenfinden»: Das waren – wieder einmal – die politischen Botschaften anlässlich des Tages der Deutschen Einheit am vergangenen Donnerstag. Bei so viel umarmenden Pathos konnte einem ganz warm werden um Herz. Oder man konnte sich ärgern über so viel Gedankenlosigkeit und Kollektivkitsch. Denn ein Staat ist ein Staat und kein Kindergarten. Das heisst: Er ist eine Organisationsform freier, autonomer Individuen, um das Leben sicherer, leichter und planbarer zu machen, aber sicher keine Kuschelecke.

 

«Vereint Segel setzen»

Doch die politische Kaste in Deutschland liebt immer noch das grosse «Wir». Seit «Kaiser, Volk und Vaterland» hat sich in dieser Hinsicht wenig geändert. Nur den Kaiser gibt es nicht mehr. Dafür beschwört man lieber die Demokratie. Und an die Stelle des Vaterlandes ist Rettung der Welt getreten. Und da diese selbst für einen deutschen Politiker allein etwas schwierig ist, schwelgt man gerne im grossen Gemeinsamen.

Besonders schön auf den Punkt brachte diese kollektivistische Politmentalität die amtierende Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig. «Die harte Polarisierung . . . tut unserem Land nicht gut», betonte sie bei ihrer Ansprache beim zentralen Festakt im Schweriner Staatstheater.

Dass eine lebendige Demokratie auch mal Streit bedeutet, leidenschaftliche Debatten, kontroverse Auseinandersetzung und gegebenenfalls auch Polarisierung – auf diese Idee kommt anscheinend weder Schwesig noch einer der anderen Anwesenden.

Und damit es auch der letzte Mitbürger kapiert, firmierten die diesjährigen Einheitsfeiern unter dem verräterischen Motto «Vereint Segel setzen». So stellt man sich also in Berlin die deutsche Bürgerschaft vor: Als eine Mannschaft auf einem Segelboot, die gemeinsam Segel hisst und in die Rahe geht. Frei nach dem Motto: «Du bist nichts, die Besatzung ist alles.» Und der Kapitän ist vermutlich Olaf Scholz.

Doch zum Glück gibt es noch die ganz normalen Menschen auf der Strasse. Und denen ist das ganze Einheitsgefeier und Umarmungsgetue im Grunde ziemlich wurscht. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Zwischen Schweriner Schloss, Altstadt und Pfaffenteich erfreute sich Otto Normalbürger daher vor allem an Bratwürsten und Bier und liess die grossen Worte grosse Worte sein.

Dabei hatte man sich reichlich Mühe gegeben, das übliche Bier-und-Bratwurst-Vergnügen ideologisch aufzumöbeln. «Bunt, vielfältig und unterhaltsam, informativ, diskursiv und nachhaltig, nah an den Menschen und inklusiv» wollte das Bürgerfest sein. Fast hatte man den Eindruck, es handele sich um einen Kirchentag.

Doch bei allem staatstragenden Weihrauch gab man sich auf kämpferisch. Vorbei die Zeiten, in denen bei ähnlichen Gelegenheiten Bundestag, Bundesrat und Kanzleramt bunte Flyer mit Organigrammen durch adrette Praktikantinnen verteilen liessen. Heutzutage versteht man sich als strahlende Wehr und Waffen der Demokratie – und präsentiert sich aus so.

Da war es geradezu erholsam, dass der Tag schliesslich mit einem Konzert des alten Schlagerrecken Roland Kaiser zu Ende ging, der den geneigten Zuschauer wieder die wirklich wichtigen Dinge des Lebens nahebrachte: «Joana, geboren um Liebe zu geben, verbotene Träume erleben, ohne Fragen an den Morgen».

Ja, Deutschland tut sich schwer mit den Einheitsfeiern. Irgendwo zwischen aufgeplusterten Sonntagsreden rhetorisch wenig begabter Politdarsteller und Grillschwaden dümpelt der 3. Oktober jedes Jahr in einer anderen Landeshauptstadt dahin. Befragte Bürger geben brav zu Protokoll, was man glaubt zu Protokoll geben zu müssen. Also in etwa: Dass die Einheit ein grosses Geschenk und man glücklich sei, dass nun alle Deutschen in Frieden und Freiheit leben dürften. Und natürlich sind diese Statements auch vollkommen berechtigt. Aber gerade deshalb fragt man sich: Woher diese Lustlosigkeit?

 

Dienstleister, der zu funktionieren hat

Ein wichtiger Grund ist sicher: In Deutschland hat man immer schon eher regional gefühlt. Auch während der schlimmsten nationalistischen Exzesse war man in Deutschland immer zuerst Bayer, Hamburger oder Westfale – und erst dann Deutscher. Der Nationalstaat ist aus deutscher Sicht vor allem ein Dienstleister, der zu funktionieren hat. Das war es dann aber auch schon. Oder wie es der dritte Bundespräsident Gustav Heinemann ausdrückte: «Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau.»

Diese überaus zivile und pragmatische Haltung des Deutschen zu seinem Staat zeugt von grosser politischer Reife. Der Staat und sein Regierungssystem sind keine Heilsbringer. Die Bürger wissen das. Jetzt müssen es nur noch die Politiker verstehen.