Samstagabend in den El Encanto Medical Centers von Miami.

«Okay, los geht’s. Schusswunde im oberen Quadranten, das Opfer erbricht Blut.»

«Lebenszeichen?»

«Wir haben zwei Zugänge gelegt. Wir brauchen eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs.»

«Klingt nicht gut.»

«Hat jemand eine Schere? Wir müssen seinen Brustkorb öffnen. Ist seine Familie hier?»

Ein Schuss, Kaliber 22.

Routine.

Doch diesmal ist alles anders.

Es gibt keinen Schuss aus einer 22-Kaliber, keinen Verwundeten, keine Ambulanz. Die beiden Pistolen sind eine Kunstinstallation. Wir sind an der jährlichen Kunstmesse Art Miami.

Obwohl im Sonnenstaat Florida die Sonne vorherrscht, ist im Künstlerviertel Wynwood die Angst der Bewohner omnipräsent. Die leerstehenden Lagerhallen wurden von Obdachlosen genutzt, die Drogenszene blühte, Gewalt und Brutalität waren an der Tagesordnung.

Seit letztem Jahr dürfen im republikanisch regierten Florida Menschen über 21 Jahre eine Waffe kaufen, völlig legal, ohne Lizenz. Es reichen ein Ausweis oder der Führerschein, es gibt keinen background check zur Überprüfung des Käufers. Und es braucht kein Extratraining.

17 000 Tote durch Schusswaffen zählt das Statista Research Department im Jahr 2024 in den USA. Jeden Monat werden eine Million Pistolen, Gewehre und Revolver verkauft, jeder zweite Haushalt ist im Besitz von Knarren.

Die Wynwood Walls sind das pulsierende Zentrum des trendigen Quartiers. Wandmalereien erstrecken sich über ganze Häuserfassaden, es gibt unzählige Galerien, die junge, aufstrebende Künstler zusammen mit etablierten Vertretern der Kunstwelt zeigen.

An diesem Samstagabend schlendere ich durch die Galerien, bleibe vor einer Installation stehen. Zwei Pistolen zeigen auf die Strasse. Mein Fotografeninstinkt schlägt Alarm. Ich warte, bis sich auf der Strasse ein spannendes Gegenstück zu den beiden Waffen ergibt.

Und da! Ein Fahrradfahrer. Ich warte, bis er auf der gleichen Höhe ist. Und dann wendet er den Kopf und blickt mich an, und da erst erkennt er die beiden Pistolen.

Klick.

Und wieder einmal ist das Foto nicht das Abbild der Realität. Wir erschaffen in unserem Hirn ein neues Bild, das eine eigene Geschichte hat. Nichts ist, was es zu sein scheint.